Cyrill Stieger, Die Macht des Ethnischen. Sichtbare und unsichtbare Trennlinien auf dem Balkan. Rezensiert von Thomas Feltes

Cyrill Stieger, Die Macht des Ethnischen. Sichtbare und unsichtbare Trennlinien auf dem Balkan. Rotpunktverlag Zürich, 223 S., ISBN 978-3-85869-926-8, EUR 24,00, auch als e-book verfügbar.

Ethnische Trennlinien, kollektive Identitäten, einseitige Geschichtsbilder sind Themen, die gerade in Zeiten des wiedererstarkten Nationalismus und der zunehmenden authoritäten Tendenzen von besonderer Bedeutung sind. Stieger widmet sich diesen Trennlinien am Beispiel von Kroatien, Serbien, Bosnien und dem Kosovo. Im Zentrum dieses Buches stehen Städte, die besonders umkämpft waren und in denen heute noch Angehörige verschiedener Ethnien leben. Den Autor beschäftigt dabei die Frage, wie es 26 Jahre nach Ende der Kriege in Kroatien und Bosnien sowie 22 Jahre nach dem Kosovokrieg um das interethnische Zusammenleben dort steht.

Sowohl der militärische Einsatz von Mai bis Juni 1999, als auch die nachfolgenden internationalen Aktivitäten im Kosovo waren einmalig in der bisherigen Geschichte internationaler Peacekeeping-Einsätze: Es war die intensivste, die teuerste und diejenige Intervention, bei der (je Einwohner) die meisten Mitarbeiter eingesetzt wurden. Die internationale Gemeinschaft investierte damals 25-mal so viel Geld und 50-mal so viele Soldaten – berechnet pro Kopf der Bevölkerung – in das Kosovo im Vergleich zu Afghanistan. 2021 und nach dem Abzug der Truppen aus Afghanistan dürfte diese Berechnung, die ich 2009 angestellt und unter dem Titel „Wessen Frieden wird gesichert?“ veröffentlicht hatte, zumindest so nicht mehr stimmen. Ungeachtet dessen ist es erstaunlich, wie still es im Prinzip um den Balkan und die Konflikte, die sich dort Anfang der 2000er Jahre ereignet hatten, geworden ist.

Im Februar 2008 erklärte sich das Kosovo für unabhängig. Die sog. „Rechtsstaatlichkeitsmission“ der Europäischen Union im Kosovo („EULEX Kosovo“), die dem Land beim Aufbau von Polizei, Justiz und Verwaltung helfen sollte, hatte zwar, im Vergleich zum Afghanistan-Einsatz, weitreichende, von der Administration des Kosovo unabhängige Befugnisse, obwohl es sich um eine rein technische Mission, die beobachtende und beratende Funktionen ausübt, handeln sollte. Erreicht hat sie, wenn man dies kritisch bewertet, eher wenig. Zwar hat sich der Alltag dort zumindest bis zur Corona-Pandemie weitestgehend normalisiert; die ethnischen Grenzen sind aber geblieben.

Zudem bedeutet das Leben in einer neu gebildeten Gesellschaft oder in einer Gesellschaft, die durch einen Bürgerkrieg zerbrochen war und sich in einem Heilungsprozess befindet, die beständige Auseinandersetzungen um die Frage, was den neuen Staat und seine Bürger ausmacht, was ihn (ungeachtet etwaiger Friedensabkommen, Verträge etc.) konstituiert oder charakterisiert und wie man mit den fast immer anstehenden humanitären, demokratischen und rechtsstaatlichen Aspekten umgeht. Eine Gesellschaft, die nach einem Bürgerkrieg oder nach gewaltsamen ethnischen Auseinandersetzungen mit den daraus folgenden Problemen umgehen soll, muss über sozialen Zusammenhalt verfügen und eine eigene Identität finden. Die Fehler, die in diesem Zusammenhang von der internationalen Gemeinschaft nicht nur im Kosovo gemacht wurden und wie sie sich ausgewirkt haben, sind vielfach beschrieben worden[1].

In den aktuellen Medien wird nur noch selten und selten so intensiv und hintergründig über den Balkan berichtet, wie dies beispielsweise Erich Rathfelder regelmäßig in der „taz“ tut – zuletzt am 01.07.2021 anlässlich der Unabhängigkeitserklärung von Slowenien und Kroatien vor 30 Jahren.

Der Autor des hier besprochenen Buches, Cyrill Stieger, hat in den vergangenen Jahren die Orte wieder besucht, über die er während der Kriege berichtete; er war in Kroatien, Serbien, Bosnien, Kosovo. Er sprach mit den Menschen, auch mit Amtsträgern, fragte sie, ob sich die in den Kriegen aufgerissenen ethnischen Trennlinien, etwa in Vukovar oder in Mitrovica, verfestigt haben oder ob sie sich mit einer neuen Generation aufweichen. Was muss passieren, um den Fluch des Ethnischen zu brechen?

Das Buch verbindet anschauliche Reportagen mit politischen und historischen Analysen. Es geht um Identitäten und um die Folgen des Nationalismus, um unvereinbare Geschichtsbilder und darum, wie Erinnerung von nationalistischen Politikern manipuliert wird, außerdem um die Schwierigkeiten der Aussöhnung. Es sind Themen, die in Zeiten des erstarkten Nationalismus und zunehmender autoritärer Tendenzen auch anderswo in Europa, in Polen und in Ungarn, aktuell sind. Aber der Pragmatismus und die Hoffnungen der Menschen auf dem Balkan geben, so meint Stieger, Zuversicht.

Dabei beschreibt er, wie unvereinbare Geschichtsbilder Kroaten und Serben trennen (S. 61 ff.), über ethnisch getrennte Schulen in Bosnien (S. 107 ff.). Die nationale Identität und die regionalen Besonderheiten, die von den Ländern, die an den „Peacekeeping-Einsätzen“ beteiligt waren, fast konsequent übersehen wurden, thematisiert er ebenso wie die ethnischen Abgrenzungen (S. 151 ff.). Er macht dies immer wieder an Beispielen wie der bis heute verfestigten Segregation in Mitrovica deutlich, und die konkreten Darstellungen (z.B. zu den Fußballvereinen in Mitrovica) machen seine Analyse plastisch und nachvollziehbar.

Seine Darstellung ist eine vorzügliche Ergänzung und Aktualisierung dessen, was zwei ehemalige Doktoranden von mir zur Polizeireform in Bosnien und zur Rolle der serbisch-orthodoxen Kirche in diesem Konflikt dargestellt haben (Tomislav Covic, Die Polizeireform in Bosnien und Herzegowina, Holzkirchen 2010, als kostenloser download hier verfügbar) und Dejan Dardić, Der serbisch-albanische Antagonismus. Eine Analyse zur Rolle und Funktion der Serbisch-Orthodoxen Kirche im Kosovo-Konflikt, Holzkirchen 2017).

In seinem „Ausblick“ am Ende des Buches stellt Stieger fest, dass mit dem zunehmenden westlichen Desinteresse an der Region die Auseinandersetzung mit den Kriegen der neunziger Jahre in den Hintergrund gedrängt wurde oder sogar zum Stillstand gekommen ist. „Die regierenden Politiker und ihre Parteien haben kein Interesse daran. … Von einer Anerkennung begangenen Unrechts auf staatlicher und gesellschaftlicher Ebene kann keine Rede sein. Die regierenden Eliten propagieren weiterhin einseitige Geschichtsbilder, welche die Nation daran hindern, sich kritisch mit den neunziger Jahren auseinanderzusetzen“. Dabei wäre eine Aufarbeitung auch seiner Auffassung nach dringend geboten. „In der heutigen Generation ist das Desinteresse an der jüngsten Geschichte weit verbreitet. Viele empfinden die ethnischen Trennlinien als normal, als selbstverständlich. Sie kennen nichts anderes. Gerade deshalb wäre eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Geschichtsbildern und Sichtweisen vor allem in den Schulen wichtig. Nur wenn die Jugendlichen erfahren, wie die andere Seite dasselbe historische Ereignis bewertet, wie unterschiedlich ein und dieselbe Quelle interpretiert wird, welches die Gründe dafür sind, welche Rolle dabei die Politik spielt und welche Interessen dahinterstecken, kann sich ein kritisches historisches Denken entwickeln. In einer Zeit des wiedererstarkten Nationalismus scheint man von einem multiperspektivischen Vorgehen weiter entfernt zu sein als noch vor zehn Jahren“ (S. 212). Entsprechend geht der Autor auch auf die „Obsessive Geschichtspolitik in Ungarn und Polen“ ein (S. 102 ff.) und macht deutlich, dass die auf dem Balkan zu beobachtenden Entwicklungen keinesfalls einmalig in Europa sind.

Übrigens hat Stieger 2019 in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung eine Analyse unter dem Titel „Wir wissen nicht mehr, wer wir sind. Vergessene Minderheiten auf dem Balkan“ veröffentlicht. Darin geht es um Minderheiten auf dem Balkan, die in sieben Bevölkerungsgruppen über mehrere (süd)osteuropäische Staaten verteilt im Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne leben. Cyrill Stieger stellt mit ihnen eine vom Aussterben bedrohte, unbekannte Welt in Europa vor.

Insgesamt lohnt sich die Lektüre des hier vorgestellten Buches von Stieger für alle, die sich näher mit der Macht des Ethnischen am Beispiel des Balkan beschäftigen wollen, weil sie z.B. dort selbst im Rahmen der vielen Militär- oder Polizeimissionen eingesetzt waren; oder einfach, weil sie verstehen wollen, warum es so schwierig ist, die ethnischen Trennlinien zu überwinden – nicht nur auf dem Balkan.

Um mit Erich Rathfelder zu enden: „Es dämmert den Verantwortlichen und manchen Parlamentariern in den westlichen Hauptstädten, dass die Politik der Ethnonationalisten auch den Interessen Russlands dient, das wiederum seinen Einfluss auf dem Balkan ausbauen will. Ob Europa und die USA in der Lage sind, westliche Werte in Bosnien tatsächlich zu verteidigen und schon aus Eigeninteresse konsequent gegen den Nationalismus vorzugehen, wird sich zeigen.“ Dabei dürften die jüngsten Ereignisse beim überstürzten Abzug der Truppen aus Afghanistan nicht unbedingt das Interesse, „westliche Werte“ zu verteidigen, intensiviert haben.

Thomas Feltes, September 2021

[1] Nachweise dazu finden sich in meinem bereits oben zitierten Beitrag „Wessen Frieden wird gesichert?  Kritische Anmerkungen zur UN-Mission im Kosovo“. In: Offene Grenzen – Polizieren in der Sicherheitsarchitektur einer post-territorialen Welt. Hrsg. Von Rafael Behr und Thomas Ohlemacher, ISBN: 9783866760929 Empirische Polizeiforschung XI, Frankfurt 2009, S. 45-78) sowie in: Feltes, T., Building Peace and Justice in Countries in Transition: The Kosovo Experience. University of Cape Town, Centre of Criminology. Occasional Papers. http://www.criminology.uct.ac.za/usr/criminology/merl/FeltesKosovo.pdf