Helmut Bley, Afrika. Welten und Geschichten aus dreihundert Jahren. Rezensiert von Thomas Feltes

Helmut Bley, Afrika. Welten und Geschichten aus dreihundert Jahren. De Gruyter Oldenbourg, 2021, ISBN: 9783110449457 (gebunden), 645 S., 45,95 Euro (auch als ePub und pdf).

Es geht um Fehlwahrnehmungen über Afrika, es geht um ein Buch nicht nur über „Afrika“, sondern auch und besonders über das Verhältnis Europas zu Afrika. Das Buch will mit unseren Fehlwahrnehmungen aufräumen, und der Autor legt dazu eine mehr als 600 Seiten starke Darstellung der Geschichte Afrikas vor – die aber, wenn man genauer hinsieht, viel mehr ist. Denn Bleys These ist: Afrika erscheint uns nur deshalb fremd, weil die Geschichtsvergessenheit unserer eigenen Vergangenheit die lange Periode der Industrialisierung in Europa vergessen ließ und uns viele Parallelen deshalb verborgen bleiben. Die Gewalt in Afrika, die uns bedrohlich und befremdend erscheint, ist im Vergleich zu den Gewaltexzessen in Europa noch im 20. Jahrhundert unvergleichlich geringer. Unsere eigenen Gewalttraditionen und der Umgang mit Europas Unterschichten im 18. und 19. Jahrhundert werden beim Betrachten der Geschichte Afrikas plötzlich vergessen. Sie werden verdrängt aufgrund des historisch gewachsenen Überlegenheitsgefühls in Europa und Nordamerika. Die Fixierung auf die zu Wohlstandsstaaten entwickelten hochorganisierten Gesellschaften hat, so Bley richtigerweise, zudem dazu geführt, dass diese Lebensform zum Maßstab wurde. Darüber wird sogar verdrängt, dass auch unseren Gesellschaften ein dramatischer und vielleicht auch chaotischer Übergang bevorstehen könnte.

Nicht nur aufgrund der Unübersichtlichkeit der gegenwärtigen Entwicklungsprozesse in Afrika, wozu auch die Entstehung von Metropolregionen und die damit verbundenen Probleme gehören, führen dazu, dass die Gegenwart „eines so komplexen Kontinents noch nicht verstanden ist“ (S. 596). Zu diesem Verständnis will Bley beitragen. Dabei geht es auch um die asymetrischen Verflechtungen mit dem Weltsystem als wichtige Ursache – auch wenn diese Verflechtungen von Bley eher am Rande behandelt werden, weil der Fokus des Buches eben auf der Geschichte Afrikas liegt.

Dieses Buch ist quasi das Lebenswerk des 1935 geborenen Historikers für Neuere und Afrikanische Geschichte Helmut Bley. Er konzipiert die afrikanische Geschichte als Agrar- und Sozialgeschichte. Die Großregionen Afrikas werden in ihrem historischen Kontext und ihrer Dynamik von der vorkolonialen Zeit seit 1800 dargestellt (so der Verlag auf seiner website; auf dem Buchcover ist von „1700 bis zum Beginn der europäischen Kolonialherrschaft“ die Rede). Um Anschaulichkeit zu gewährleisten, werden in die Schilderung der Regionen Geschichten von einzelnen Personen, Dörfern und Städten sowie Ethnien exemplarisch eingebettet. Im systematischen Teil analysiert Bley die Gewaltverhältnisse vor, während und nach der Kolonialherrschaft, außerdem die Grundstrukturen der Ökonomie, insbesondere in der Periode der Weltwirtschaftskrisen 1920-1922, 1929-1938 und 1966. Analysen afrikanischer Autoren werden dabei vorgestellt und mit Gesamtdeutungen zu Afrika in der Weltgeschichte verknüpft.

Entsprechend kommen die Erfahrungen eines langen Berufslebens und Kontakt mit Studierenden und den Kollegen und Kolleginnen in Afrika und anderen Ländern in dem Buch zum Ausdruck. Dennoch ist es keine persönliche Biographie. Vielmehr fliesen die Ergebnisse vieler Forschungsprojekte Bleys in sein Buch ein. Die Innensicht auf Afrika hat, so Bley, „Vorrang bekommen, obwohl die weltgeschichtlichen Bezüge, in denen der Kontinent stand und steht, wichtig sind“ (Vorwort). Bley behandelt den weltgeschichtlichen Aspekt im Rahmen der Frage, wie Außeneinflüsse in den afrikanischen Gesellschaften verarbeitet wurden. Das gilt für die vorkoloniale Periode ebenso wie für die Wirkungen und Folgen des Kolonialismus und der europäischen Weltkriege des 20. Jahrhunderts, die massiv in Afrika einwirkten. Für das 20. Jahrhundert wird Afrika als Ganzes behandelt, weil, so der Autor, die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise sowie die Dekolonisation einen einheitlichen Rahmen bilden.

Auch wenn der Titel etwas Anderes erwarten lässt: Selbst bei 645 Seiten muss exemplarisch vorgegangen werden, und daher werden etliche Staaten und auch große Gesellschaften höchstens erwähnt. Translokale Beziehungen erhielten Vorrang: „Ich habe versucht, in den Beschreibungen von Ländern und Subregionen Beispiele und Details aus den Lebenswelten einzuarbeiten. In die Kapitel sind einundfünfzig Geschichten von Personen, Dörfern, Städten und Völkern, religiösen Schreinen und Prophetinnen, aber auch von Menschen in ihren Arbeitswelten eingebettet“ (Vorwort).

In den Kapiteln, die einzelne Länder behandeln oder soziale und politische Bewegungen im 20. Jahrhundert vorstellen, werden auch detailreich wichtige Aspekte der Lebenswelten als Geschichten erzählt und Akteure vorgestellt. Die Details in diesem Buch zeigen überraschende Facetten afrikanischen Lebens und sind wichtig für das Gesamtbild. Sie sollen die großen Linien ergänzen. Viele Abbildungen und Karten verstärkt diese Linien.

Der Autor will in seinem Buch „Fehlwahrnehmungen über afrikanische Geschichte“ entgegenwirken. Er betont daher Aspekte eines „Gegenbildes“, die von gängigen Vorstellungen abweichen. So hat er beispielsweise das starre Konzept des »Stammes« aufgegeben zugunsten interethnischer Assoziationen. Er begründet dies im Vorwort ausführlicher.

Umso mehr erstaunt ein Vorgang, der sich im März 2021 ereignete. In Hannover gab es einen Streit um einen Vortrag, den Bley dort halten sollte. Die Stadt Hannover wollte sich mit vier Online-Veranstaltungen an der von den Vereinten Nationen (UN) ausgerufenen internationalen Wochen gegen Rassismus beteiligen. Eine davon (die mit Helmut Bley) konnte nicht stattfinden – sie wurde gecancelt. Die taz berichtete dazu folgendes: „Der renommierte Historiker für Afrikanische Geschichte, Helmut Bley, sollte ein Referat unter dem Titel „Kolonialgeschichte von Afrikanern und Afrikanerinnen her denken“ halten. Der emeritierte Professor setzt sich seit den 60ern für die Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen in Ostafrika ein. 2013 verteidigte er vor Gericht ein Gutachten, in dem er den kaiserlichen General Paul von Lettow-Vorbeck als Kriegs- und Menschenrechtsverbrecher bezeichnete. Die Töchter des Generals hatten Bley wegen Verunglimpfung des Andenkens verklagt, aber das Gericht gab Bley recht. Nach dem Input des Historikers sollten Mitglieder der Initiative für „Diskriminierungssensibilität und Rassismuskritik“ (Idira) eine Petition für rassismuskritische Lehre in niedersächsischen Bildungsinstitutionen vorstellen und mit Bley diskutieren. Doch die Initiative weigerte sich. Dass ausgerechnet ein weißer Mann im Kontext von Rassismus erklären solle, wie man Geschichte von Afrikanerinnen und Afrikanern her denkt, wolle man nicht unterstützen, entschieden die Mitglieder. Daraufhin sagte die Stadt die Veranstaltung ab.“[1]

Inhaltlich verwundert dies, weil Bley 1968 einer der ersten war, die vom Völkermord an den Herero und Nama in Namibia gesprochen haben. Er kämpfte bis in die jüngste Zeit um die politische Anerkennung als Völkermord.

Zurück zu dem Buch, das sicherlich keines ist, das man im Biografie- oder Roman-Modus lesen kann. Es ist in weiten Teilen (auch) ein Nachschlagewerk, über dessen ausführliches Stichwortregister (S.625-643) man sowohl Namen von Politiker und Wissenschaftlern, als auch Orte und Ereignisse erschließen kann. Man kann aber auch (und dies wird empfohlen) sich einzeln Teile oder Kapitel herausnehmen und diese, da sie in sich relativ geschlossen dargestellt sind, unabhängig voneinander lesen.

Methodologische Fragen behandelt Bley abschließend am Beispiel des Themas erörtert, ob Afrika, da es häufig als das „Andere“ oder „Fremde“ charakterisier wird, „in Wirklichkeit weniger fremd ist und nur so erscheint, weil Geschichtsvergessenheit unserer eigenen agrargeschichtlichen Vergangenheit die lange Periode der Protoindustrialisierung in Europa vergessen ließ und uns viele Parallelen deshalb verborgen bleiben“ (S. 596).

Der Autor stellt in dem Werk auch vergleichende Betrachtungen zur Entwicklung der Gewalträume Europas seit dem 17. Jahrhundert an und skizziert die Entwicklung von Massenarmut an der Wende zum 19. Jahrhundert. Der Hinweis auf die Gewalträume in Europa soll darauf verweisen, „dass die so oft überschätzte Gewalt in Afrika, die häufig bedrohlich und befremdend erscheint, im Vergleich zu den Gewaltexzessen in Europa noch im 20. Jahrhundert unvergleichlich geringer war“ (S. 577).

Bley erinnert uns daran, dass die Kriegsführung in Agrargesellschaften auf beiden Kontinenten (also in Europa und in Afrika) und generell weltweit zur Plünderung der Ernten und des Viehs, zu massenhaftem Verschleppen von Gefangenen und zu umfassendem Missbrauch der Frauen führte und noch immer führt. Insofern ist das, was wir in Afrika in den vergangenen Jahrzehnten gesehen haben und noch immer sehen, nichts Ungewöhnliches, im Gegenteil. Wir aber nehmen es als solches wahr. Bley bezeichnet diese Fehlwahrnehmung als „Geschichtsvergessenheit unter dem Eindruck der Friedenszeit seit 1945 und des Wohlstandes in Westeuropa“ (aaO.).

Auch die Massenarmut, die Europa noch in der Übergangsphase der Industrialisierung als »Pauperismus« traf, ist Teil dieser Geschichtsvergessenheit. Der Umstand, dass viele Millionen vor allem nach Amerika auswanderten, gehört in diesen Zusammenhang, der nicht wiederholbar ist – und wird von uns im Zusammenhang mit der aktuellen Migrationsdiskussion ebenso verdrängt. Die Entwicklung zur Wohlstandsgesellschaft wurde für uns zum Maßstab von Normalität, so Bley.

Deshalb stellt Bley diesen Prozess, der zur dominierenden Wahrnehmung Europa wurde, in Grundzügen, aber nachvollziehbar und deutlich dar. Seine These ist, dass dabei das Fremde fremder wirkt, als es ist. Er verweist mit Beispielen auf den Umstand, dass diese eurozentrische Enge im Verlauf der sozialgeschichtlichen und ethnologischen Forschungen auch für Europa weitgehend überwunden wurde, aber nicht in das allgemeine Bewusstsein eindrang.

Insofern ist dieses Buch nicht nur ein Buch über „Afrika“, sondern es thematisiert auch immer wieder unser Verhältnis, das Verhältnis Europas zu Afrika. Es ist (nicht nur deshalb) ein wichtiges Buch, das alle Entwicklungspolitiker*innen und alle, die sich mit Afrika beschäftigen, bei sich im Buchregal stehen haben sollten – um immer wieder einmal hineinzusehen um sich zu vergewissern, mit welchem historischen Hintergrund und welcher historischer Bürge wir als Europäer uns diesem Land zuwenden (sollten).

 

Thomas Feltes, Oktober 2021

[1] https://taz.de/Streit-um-Rassismus-Vortrag/!5758214/