Dierk Schäfer, Devianz als Schicksal? Die kriminelle Karriere des Dieter Schulz. Rezensiert von Thomas Feltes

Dierk Schäfer, Devianz als Schicksal? Die kriminelle Karriere des Dieter Schulz. Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie 45, Tübingen 2021. ISBN 978-3-937368-90-0 (elektronische Version) Online verfügbar.

462 Seiten von bzw. über einen Menschen (und dessen Sohn), über jemanden, der eine spektakuläre Heimkarriere hinter sich ge- und fast 20 Jahre im Gefängnis verbracht hat? Lohnt sich eine solche Lektüre? Lohnt es sich, die darin enthaltene Autobiographie dieses „Straftäters“, überschrieben mit „Der Ausreis(ß)ende oder eine Kindheit, die keine Kindheit war“ zu lesen? Um es vorweg zu nehmen: Es lohnt sich auf jeden Fall!

Die Lektüre lohnt sich nicht nur (aber auch), weil sie kurzweilig ist, weil die Darstellung trotz des ernsten Themas aufgelockert ist; vor allem aber, weil das Buch Einsichten in individuelle Entwicklungen gibt, wie man sie sonst selten präsentiert bekommt – denn Autobiografien werden ja fast ausschließlich von Menschen veröffentlicht, die „berühmt“ geworden sind. Hier geht es um jemanden, der im Strudel der (Nach)Kriegsjahre von Ostpreußen nach Leipzig gespült wird und dann zwischen Heim- und Gefängniskarriere wandelt – und am Ende wieder dort landet, wo er hegekommen ist.

Was er erlebte, schreibt Dierk Schäfer, und was er (Dieter Schulz) machte, „reicht locker für drei Leben aus … und keines wäre langweilig. Was jedoch – oberflächlich gesehen – spannend ist, entpuppt sich als terrible, als erschreckend“ (S. VII).

Und weiter: „War es den Aufwand wert, dieses beschissene Leben vor den Bomben zu retten?!« fragt Dieter selber in seiner Autobiographie und fasst damit seine schrecklichen, uns erschreckenden, Kindheitserlebnisse zusammen. Wie kann Leben unter diesen Startbedingungen gelingen? Dass es „funktionieren“ kann, ist bei ihm nachzulesen. Aber wie hat es funktioniert?“ (aaO.)

Nüchtern geschrieben, geht es um das Leben von Dieter Schulz, geboren 1940 (oder 1941, das bleibt unklar), gestorben 2019, seine Lebensumstände und seine (kriminelle) „Karriere“. Sie bilden den Kern dieser Publikation. Den Inhalt fasst der Herausgeber wie folgt zusammen[1]:

„Schon der einleitende Nachruf kündet von einem außerordentlichen Leben. Ausgangspunkt ist seine Autobiographie in 42 Kapiteln, zunächst geschrieben während eines 10jährigen Knastaufenthaltes und nach Aufforderung fortgeführt bis in die Zeit seines körperlichen Verfalls. Dieses Leben ist spannend. Vergangenheiten werden lebendig, besonders: (1) Das Kriegsende und die Nachkriegswirren bis 1949 in Ostpreußen, die Rote Armee und die Überlebensbedingungen der verbliebenen Deutschen. Das in dieser Zeit gelernte Russisch bildet die Grundlage für seine erfolgreichen Schiebergeschäfte als 10/11-jähriger (!) später in der DDR. (2) Die eher zufällig am 17. Juni 1953 begonnene und spannend erzählte Heimkarriere war bestimmt durch die Unfähigkeit der DDR-Heimerziehung und abenteuerliche Heim-Fluchten. (3) Im Westen, vom Vater abgeschoben, muss er sich durchkämpfen, macht eine erstklassige Ausbildung zum Kellner, bringt es später auch bis zum Inhaber eines Restaurants, doch zuvor bringt ihm der Balkonsturz des schwarzen Liebhabers seiner Frau die erste Zuchthausstrafe ein. (4) Eher zufällig beginnt er danach mit akribisch geplantem Automatenbetrug, hat aber immer wieder Pech mit seinen Helfern, besonders mit seinen Frauen, – das auch fürderhin. (5) Schließlich misslingt ihm – auch wieder eher zufällig – der große Coup: Ein riesiges Drogengeschäft, das er mit selbstgedruckten „Blüten“ bezahlen und dann untertauchen will. Doch ein bewaffneter Banküberfall hat mörderische Folgen. Schulz inszeniert sich gekonnt. Lange ist man geneigt, alles zu glauben. Doch sein Sohn Sascha fügte noch ganz andere und sehr überraschende Aspekte bei und korrigiert damit das saubere Bild vom Verbrecher aus bzw. infolge von unheilvollen Verhältnissen. Doch ein Kämpfer war Schulz davon abgesehen sein Leben lang. Klein, aber oho! Oder im Späteren anders gewendet: Ein Aufstehmännchen. Dieses Leben fordert kriminologische Forschung geradezu heraus. Wie kommt es zu solch langzeitiger Devianz, wie pflanzt sie sich fort? Die Publikation steht im Übrigen in ehrwürdiger Tradition, denn beispielsweise schon der Oberamtmann von Sulz am Neckar, Jacob Georg Schäffer (1745-1814), verortete die sozialen Missstände als Quelle von Kriminalität und wollte daher schon die ganz jungen Kinder der „Janoven“ in Pflegefamilien untergebracht wissen[2]. Dieter Schulz als Person an und für sich ist im Gesamt vieler wendungsreicher Lebensgeschichten nicht evident herausragend. Zwar beschreibt er sein kleines Leben in faszinierender Weise. Doch dies allein hülfe alles nichts, wie schon vor langer Zeit August Gottlieb Meißner (1753-1807) formulierte: „Sobald der Inquisit nicht bereits vor seiner Einkerkerung eine wichtige Rolle im Staat gespielt hat, sobald dünkt auch sein übriges Privatleben, es sei so seltsam gewebt, als es immer wolle, den meisten Leuten in der sogenannten feinen und gelehrten Welt viel zu unwichtig, als darauf acht zu haben, und vollends sein Biograph zu werden.“ Warum also ist Schulz dennoch nicht nur für Kriminologen interessant? Die Antwort ist: Er entwirft in und mit seiner Biographie beispielhaft, lehrreich und unterhaltsam ein Sittengemälde seiner Zeit. Zwar fragt er: „War es den Aufwand wert, dieses beschissene Leben vor den Bomben zu retten?“ Seine Antwort lautet aber: „Mein Leben sollte nicht unbedingt als Beispiel dienen, deswegen ist mein Leben lesenswert!“

Die Kapitel 1 bis 20 des 2. Teils des Buches beschäftigen sich mit den im Knast geschriebenen Teilen der Autobiographie, Kapitel 21 bis 42 mit den in Freiheit geschriebenen Teilen. Es folgt als Teil 3 „Dieter Schulz – Selbstdarstellung, Stilisierung, Auslassungen“ (S. 307 ff.) und als Teil 4 die Interviews mit Sascha Schulz über seinen Vater (S. 361 ff.). Teil 5 beschreibt das „Milieu“ und seine Schnittstellen zur „guten“ Gesellschaft – und stammt von Dierk Schäfer selbst (S. 401 ff.). Teil 6 ist überschrieben mit „Kinder und Jugendliche in der Jugendpsychiatrie – Normen und Werte von Generation zu Generation – Transmission von Devianz (S. 413 ff). Den Schluss bilden eine Danksagung sowie zusätzliches Material von und über Dieter Schulz.

Bevor man sich in die mehrere hundert Seiten Text vertieft, lohnt es, sich das kurze (13 Min.) Video anzusehen, das auf Vimeo zur Verfügung steht – allerdings unter einem anderen Link, als im Text auf S. 14 angegeben: https://vimeo.com/334129436. Es macht auch die persönliche Verfasstheit von Dieter Schulz deutlich. Es geht um den Wunsch von Schulz, nach Kaliningrad, in seine Geburtsstadt, zurückzukehren. 2001 besuchte Schulz zum ersten Mal Kaliningrad. Seitdem ist er häufig dort gewesen und hat neue Freunde gefunden. „Sein großer Wunsch ist, für immer nach Kaliningrad zurück zu kehren. Zurzeit bemüht er sich um die Löschung seines Vorstrafenregisters, um eine Einbürgerung beantragen zu können. So schließt sich ein Lebenskreislauf. In diesen letzten Jahren, verbunden auch mit dem Einsetzen von Depressionen denkt Schulz zum ersten Mal über die Hintergründe seiner Kindheit und „Laufbahn“ nach. Er sucht Kontakt zu Menschen und Institutionen (ev. Kirche), die sich mit dem Thema „Kriegskinder“ beschäftigen“ (Dierk Schäfer, S. 14).

Schulz macht sich auf eine Spurensuche. Der Film ist ein Teaser zu einem langen Dokumentarfilm, der nicht realisiert werden konnte. Dierk Schäfer schreibt dazu auf Vimeo: „Dieter Schulz lesen und ihn sehen ist doch etwas anderes. Er hat tatsächlich in Kaliningrad wieder eine Familie gefunden, dank seiner Russischkenntnisse und seiner Verbundenheit mit diesem Land. Gern hätte er dort seinen Lebenslauf beendet, wo er laufen gelernt hatte. Man merkt seine Ergriffenheit. Dieser Film wird ihn den Lesern seines Buches lebendig machen und eine Seite zeigen, die sonst verdeckt bliebe. Er und sein Leben sind außergewöhnlich.“

Die Analyse und kriminologische Einordnung des „schrägen“ Lebensweges liefert Dierk Schäfer immer wieder zwischendurch durch Randbemerkungen und Kommentare, vor allem aber am Ende des Buches. Er geht auf das „Milieu“ und seine Schnittstellen zur „guten“ Gesellschaft ein (S. 401 ff.) und greift dabei auf Girtler und Gofman zurück. Schäfer betont selbst, dass in dem Buch ständig (seine) subjektive Betrachtungen hineinspielen, „dies schon im Hauptteil mit einer Biographie, die als Autobiographie den äußerst subjektiven Rückblick auf die Denkwürdigkeiten im Leben seines Autors präsentiert“ (S. 402).

Das ist aber auch gut so, und es macht gerade die besondere Stärke und Lesbarkeit dieses Buches aus. Entsprechend beschreibt Schäfer im Kapitel 5 zunächst eine Welt oder Subkultur, „für die ich kaum systematische Untersuchungen kenne“. Er schreibt dazu: „Ich kann mich dieser Welt eher nur feuilletonistisch und unter Rückgriff auf meine eigenen Erfahrungen zuwenden, so wie ich die Schnittstellen zu dieser Welt im Rahmen einer brav-bürgerlichen Sozialisation wahrgenommen habe. Ich komme also aus einem anderen Milieu, nicht aus dem hier behandelten“ (S. 403). Wenn Schäfer dann Milieu als „Unterleib der Gesellschaft“ betitelt (S. 405), dann wird deutlich, dass es einerseits die Faszination (auch) des Fremden und auch des Bösen ist, die uns, die wir in tatsächlich anderen Welten leben, auf dieses Milieu und die dort Lebenden schauen, in einer Mischung aus Verwunderung und Faszination fesseln[3]. Dies zu thematisieren, gelingt nicht vielen, Schäfer gelingt es. Der Bezug zu seinem (Dierk Schäfer´s) eigenem „brav-bürgerlichen“ Milieu (S. 403) macht dann auch die Faszination dieses Buches aus.

Kein Geringerer als Karl Marx hat mit leichter Ironie darauf hingewiesen, dass der ansonsten so gescholtene, gefürchtete und verachtete Verbrecher nicht nur Verbrechen „produziert“, sondern indirekt auch „Kunst, schöne Literatur, Romane und sogar Tragödien“: „Ein Verbrecher produziert nicht nur das Verbrechen, sondern auch das Kriminalrecht und damit auch den Professor, der Vorlesungen über das Kriminalrecht hält… Der Verbrecher produziert ferner die ganze Polizei- und Kriminaljustiz… Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es somit vor Stagnation und ruft jene unruhige Spannung und Beweglichkeit hervor, ohne die selbst der Stachel der Konkurrenz abgestumpft würde“ (Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, I. Teil, S. 387 f.).

Zwar ist der Lebensweg von Dieter Schulz alles andere als tatsächlich faszinierend, sondern eher bedrückend. Dennoch werden die von ihm geschilderten Ereignisse abseits der von ihm selbst in seiner Autobiographie geschilderten emotionalen Auswirkungen eine gewisse Neugier wecken, und das ist auch gut so. Zu selten beschäftigen sich Kriminologen tatsächlich mit individuellen Lebensläufen und tauchen in das Leben dieser Personen ein, wie Dierk Schäfer das hier tut. Dabei würde uns das helfen zu verstehen, warum jemand so wird, wie er wird, warum er sich so und nicht anders verhält. Es würde auch helfen, Entscheidungen und Entwicklungen ebenso wie die Konsequenzen des Handelns staatlicher Institutionen nachzuvollziehen – und etwas vorsichtiger mit Aussagen zur „Notwendigkeit“ bestimmter staatlicher Maßnahmen (wie Freiheitsstrafen) zu sein.

Auch die Polizei, so Schäfer, lebt im Übrigen vom Milieu. „Der Leiter der Davidwache … erklärte uns die Spezifitäten seines Reviers und die Usancen auf der Reeperbahn, … Dann sprach er über die Bedeutung der Reeperbahn für den Hamburger Fremdenverkehr. Es sei die Aufgabe der Polizei auf der Reeperbahn Ordnung zu schaffen und er erwähnte auch den Beischlafdiebstahl; der sei schädlich für das Ansehen der Reeperbahn insgesamt. Ich fragte ihn resümierend, ob es also die Aufgabe der Polizei sei, dafür zu sorgen, dass der Geschlechtsverkehr auf der Reeperbahn ordentlich vonstattengehe. Er stutzte – und sagte dann: Ja. – Hier hatte also die Polizei die Kontrolle des Milieus“ (S. 405).

Der 6. Teil des Buches mit dem Titel „Kinder und Jugendliche in der Jugendpsychiatrie – Normen und Werte von Generation zu Generation – Transmission von Devianz“ (S. 413 ff.) thematisiert dann die Auswirkungen des Lebensweges von Dieter Schulz auf seinen Sohn Sascha Schulz. Das Resümee von Schäfer: „Mit einem anderen Elternhaus hätte Sascha Schulz bestimmt bessere Chancen gehabt. Ich hatte eine Tagung betitelt mit „Eltern sind Schicksal, manchmal aber auch Schicksalsschläge“. Dieter Schulz halte ich nicht für einen Rabenvater. Er hat sich um seinen Sohn bemüht; der sollte nicht in’s Heim; er hat ihm auch vieles nachgesehen, aber ein Leitbild für ein Leben ohne Legalverstöße konnte er nicht sein. So gesehen war der Vater mit seinen Frauen ein Schicksalsschlag für Sascha“ (S. 419).

Im letzten Teil (und als Abschluss) findet sich dann auch ein Beitrag zur „transgenerationalen Transmission von Delinquenz“ von Helmut Kury (S. 435 ff.), in den dieser den Forschungsstand zu familiären Hintergründen von abweichendem Verhalten darstellt und diesen Forschungsstand auf die Biographie von Dieter Schulz überträgt (S. 442 ff.).

Insgesamt ist es Dierk Schäfer gelungen, ein ebenso spannendes wie aufschlussreiches Kapitel der Beschreibung und Analyse von Lebensläufen von Menschen, denen wir ein abweichendes Verhalten zuschreiben, vorzulegen. Es ist zu wünschen, dass dieses Werk, obwohl es nicht in einem der üblichen Verlage erschienen ist, weite Verbreitung findet. Dabei hilft sicherlich die Tatsache, dass es online kostenlos verfügbar ist.

Thomas Feltes, Dezember 2021

[1] https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/handle/10900/115426

[2] Ergänzung von Thomas Feltes: Uli Rothfuss hat sich in seinem Roman „Schäffer, Räuberfänger“ mit eben diesem „Oberamtmann“ und Kriminalisten beschäftigt. Ein sehr lesenswertes, leider vergriffenes Buch.

[3] Vgl. mein Nachwort zu dem Kriminalroman von Georg Tenner, Jagd auf den Inselmörder, Oldenburg, 2007, S. 308 – 316. „Durch moralische Empörung und wohlfeile Entrüstung, die auch öffentlich kundgetan wird, bestätigen wir uns immer wieder, dass wir nicht so sind wie „die da “. Und mit der Forderung nach immer härteren Strafen bekämpfen wird die kleinen Teufel in uns, die selbst gerne einmal böse sein möchten. Ein Gutteil der bürgerlichen Strafbedürfnisse kann so erklärt werden, denn eine rationale Begründung für diese Bedürfnisse kann es bei „aufgeklärten“ Bürgern nicht geben“.