Norbert Nedopil, Jérôme Endrass, Astrid Rossegger, Thomas Wolf. Prognose: Risikoeinschätzung in forensischer Psychiatrie und Psychologie. Rezensiert von Thomas Feltes

Norbert Nedopil, Jérôme Endrass, Astrid Rossegger, Thomas Wolf. Prognose: Risikoeinschätzung in forensischer Psychiatrie und Psychologie. Ein Handbuch für die Praxis. Pabst-Verlag Lengerich, 2021, Hardcover, 368 Seiten, ISBN 978-3-95853-554-1, 60,00 €. PDF ISBN 978-3-95853-555-8, 40,00 €.

Kaum ein größeres Strafverfahren findet statt, ohne dass Prognosegutachten erstellt oder zumindest entsprechende Überlegungen angestellt werden. Dabei geht es meist um die Frage einer möglichen Sicherungsverwahrung nach der Haft. Noch relevanter sind solche Gutachten aber bei der Frage einer (vorzeitigen) Entlassung aus Strafhaft, Sicherungsverwahrung oder Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt. Hier spielen psychiatrische[1] Gutachter eine, meist sogar die entscheidende Rolle. An ihnen orientiert sich das Gericht in seiner Entscheidung, meist weniger, weil man selbst keine Einschätzung dieses Risikos vorzunehmen in der Lage zu sein glaubt, sondern eher, um sich abzusichern und seine eigene Entscheidung zu erleichtern. Denn wenn man den oder die Gutachter*in als „kompetent“ bewertet (und das muss man ja, da man sie oder ihn selbst ausgewählt hat), ist man selbst für seine eigene Entscheidung nicht mehr verantwortlich.

Die Frage, wie „gefährlich“ eine Person nach seiner Entlassung ist, spielt bei der Prognose die entscheidende Rolle. In den vergangenen knapp 20 Jahren haben eine Reihe faktischer Änderungen den Umgang mit „behandlungsbedürftigen Straftätern“ und damit die Risikoeinschätzung und das Risikomanagement erheblich verändert (darauf geht das Werk in Kapitel 1 ein) und entsprechend hat sich auch der wissenschaftliche Fokus geändert. „2005 waren die Forschung und die Praxis sehr mit der optimalen Treffsicherheit, oder besser Trennschärfe, von Prognosen befasst und es wurde darum gerungen, wie diese verbessert werden kann. Man erkannte günstige und ungünstige Prognosen und ein breites Dazwischen. …. Demgegenüber ging es in den letzten Jahren nicht mehr um eine Verbesserung der Trennschärfe prognostischer Methoden, sondern weit mehr um eine Optimierung des Risikomanagements und um die Frage, wie erkannt werden kann, welche Risikomerkmale relevant sind, wie Risiken rechtzeitig erkannt werden können und wie verhindert werden kann, dass es zu Straftaten oder ernsthaften Normüberschreitungen kommt“ (S. 18).

Die heutige Frage laute also (so die Autor*innen) wissenschaftlich formuliert: „Was können wir tun, um eine ungünstige Prognose zu falsifizieren? Weiter gefasst kann dies folgendermaßen formuliert werden: Das Ziel von Risikoeinschätzung und Risikomanagement ist nicht eine möglichst hohe Trennschärfe, sondern die Falsifizierung der ungünstigen und die Bewährung der günstigen Prognose“ (aaO.). Sie verweisen dazu auf eine Aussage von Stephen Hart: „Prognosen sind am wirkungsvollsten, wenn wir die Realität für Prognosen selbst schaffen„.

Das Grundproblem dieser Aussage und dieses Anspruchs liegt aber außerhalb der Sphäre der Gutachter*innen, nämlich im Bereich der Strafvollzugsanstalten oder psychiatrischen Einrichtungen. Selbst die Gerichte haben, wie die Alltagserfahrungen zeigen, nicht die Möglichkeit, entsprechende Maßnahmen durchzusetzen, mit denen dieses „Risikomanagement“ optimal gestaltet werden soll. Noch immer überwiegen einerseits die „renitenten Vollzugsanstalten“[2], die sich schlichtweg über Empfehlungen in Gutachten und daraus erwachsende Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern hinwegsetzen, sie ignorieren oder „auf Zeit“ spielen (welche Rolle dabei die derzeitige Covid-19-Pandemie spielt, wäre zu diskutieren). Da wartet der in Sicherungsverwahrung Untergebrachte schon mal drei oder mehr Jahre darauf, dass die vom Gutachter dringend angeratene Therapie begonnen oder die von der Kammer als notwendig für eine Entlassung empfundenen Lockerungsmaßnahmen umgesetzt werden. Solange jemand hinter Gittern ist, stellt er keine Gefahr dar – so die Auffassung offensichtlich vieler Justizvollzugsanstalten oder auch psychiatrischen Einrichtungen, und die Gerichte sind entweder nicht willens oder nicht in der Lage, dies zu ändern.

Die Autor*innen des hier besprochenen Werkes betonen, dass die neuen Entwicklungen die bisherigen Arbeiten der Prognoseforschung nicht unnötig machen, aber die Gewichte verschieben. „Während bei der Frage der besten Trennschärfe die statischen Risikofaktoren die verlässlichsten Ergebnisse brachten, sind bei der Frage des Risikomanagements die dynamischen Risikofaktoren – das sind ja die, die gemanagt werden können – von überragender Bedeutung und darüber hinaus das spezifische Zusammenwirken der Faktoren und nicht ihre Addition. Risikomanagement ist klinischer als die abstrakte Risikoeinschätzung und die Errechnung eines Risiko-Wertes mit Hilfe eines Prognoseinstruments. Risikomanagement erhebt keinen Anspruch auf langfristige Gültigkeit. Die Risikomerkmale und ihre Bedeutung können sich ändern und damit auch das Risikomanagement“ (S. 19).

Allerdings betonen sie auch, dass die Flexibilität bei der Einschätzung und beim Management im Rahmen strukturierender Vorgaben schwieriger sind, insbesondere, weil sie nachvollziehbar vermittelt werden müssen. Die Vergangenheit habe aber gezeigt, dass sie sicherer sind und sich bezahlt machen. Dies allerdings scheint sich nicht bis in die Strafvollstreckungspraxis herumgesprochen zu haben. In einem aktuellen Verfahren, in dem es um eine Entlassung nach 12 Jahren Sicherungsverwahrung geht, baut der vom Gericht beauftragte Gutachter seine Stellungnahme wesentlich auf der von ihm berechneten sog. „Basisrate“ des Rückfalls auf. Da diese bei 20,1% liege, sei eine Entlassung nicht zu verantworten. Auch an dieser Stelle ist auf die bekannte Tatsache hinzuweisen, dass der Untergebrachte die ihm zugewiesene „Basisrate“ nicht (mehr) beeinflussen kann und daher eine „günstige Täterprognose“, die an diese Basisrate von ca. 20% angeknüpft wird, und die vom Gericht verlangt wurde, praktisch nie erstellt werden kann.

Die einmal berechnete Basisrate bleibt selbst bei weiter einwandfreiem Verhalten bestehen. Schon daher kann sie aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht für die notwendige Abwägung zwischen dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit und dem Freiheitsrecht des Verurteilten herangezogen werden. Zum „Risikomanagement“ äußerte sich dieser Gutachter nur soweit, als er (ebenso wie sein Kollege zwei Jahre zuvor) die Unterbringung in den offenen Vollzug und eine „forensische Psychotherapie“ empfahl, wohlwissend, dass diese bereits durchgeführt wurde. Auch die Tatsache, dass bereits vielfältige, auch engmaschige Sicherungs-, Überwachungs- und Therapiemaßnahmen durchgeführt bzw. angeordnet werden würden bei einer Entlassung (auf Bewährung selbstverständlich), spielten für ihn (und dann auch für die Strafvollstreckungskammer) keine Rolle.

Das Thema „Basisrate“ wird in dem Werk von Nedopil u.a. natürlich auch behandelt (S. 103 ff.), allerdings mit vielen Zahlen, Tabellen und Grafiken und wenig grundsätzlicher Kritik an dieser „Rate“. Zwar wird darauf hingewiesen, dass sich Rückfallraten generell im Zeitverlauf ändern und verändert haben (S. 110 f.); was dies aber konkret für die Prognoseerstellung bedeutet, wird nicht thematisiert. Dafür werden Übersichtstabellen zu Rückfallraten für verschiedenste Delikte geliefert – das caveat dabei bleibt jedoch inhaltsleer, wenn zum Ende des Kapitels auf S. 119 geschrieben wird: „Die Daten zeigen deutlich, dass man Erkenntnisse, die man pauschal an einer Straftäterpopulation errechnet hat, nicht unbesehen auf den Einzelfall anwenden kann, sondern eine Vielzahl weiterer Parameter berücksichtigt werden muss, um eine adäquate Grundlage für die Beurteilung des Einzelfalls zu erreichen“. Dass hier als Quellenangabe auf die PKS des Bundeskriminalamtes von 2013 verwiesen wird, überzeugt nicht unbedingt – um es einmal vorsichtig zu formulieren.

Insoweit ist der Anspruch, der dem interdisziplinären Lehrbuch zugrunde liegt, wichtig und richtig – unter der Voraussetzung, dass nicht nur die Gutachter*innen, die teilweise seit Jahrzehnten ihre immer inhaltsgleichen Gutachten verfassen, das Buch lesen (seit es computergestütztes „paste and copy“ gibt ist das noch einfacher), sondern auch Richter*innen, die über die Zukunft von Straftätern und Untergebrachten zu entscheiden haben. Gerade hier besteht jedoch die berechtigte Befürchtung, dass dieses Buch sie nicht erreicht. Die Tätigkeit in Strafvollstreckungskammern gehört (leider) nicht zu den Funktionen, die besonders beliebt sind. Daher wechseln die Richter*innen häufig oder die Stellen werden an junge Nachwuchsrichter vergeben, die alles daransetzen, ja nicht aufzufallen, um ihre Karriere oder gar die Anstellung als Richter auf Dauer nicht zu gefährden – schon gar nicht durch eine Entscheidung, die sich im Nachhinein als falsch erweisen könnte. Denn: Wenn sie entscheiden, dass jemand hinter Gittern bleibt, ist diese Gefahr eines Rückfalls eben nicht nur gering, sondern schlichtweg nicht vorhanden. Man kann nicht nachweisen, dass diese Entscheidung falsch war.

Die in dem Buch aufgelisteten „10 Gebote der guten Prognose“ (S. 101) sind sicherlich hilfreich; es fehlt jedoch der Hinweis darauf, wie man genau die „Trefferquote“ berechnet und ob z.B. ein Sexualstraftäter, der mit einem Raub rückfällig wird, als „Treffer“ bezeichnet werden kann, oder nicht (eher nicht). Das Buch stellt tatsächlich die vielfältigsten Instrumente zur Prognoseerstellung vor, bleibt dabei aber in vielen Bereichen sehr statisch, d.h. die Ausführungen erwecken den Eindruck, dass mit dem Abhaken von bestimmten ja/nein-Kriterien verlässliche Prognosen erstellt werden können. Insofern ist der (gute und richtige) Anspruch, den das Buch in seinem theoretischen Teil an Prognosegutachten stellt, nicht konsequent in dem Buch durchgehalten. Immer wieder eingebaute Fallbeispiele helfen zwar beim Verständnis der Problematik, bieten aber keine Lösungen für dieses Problem. Zu oft werden Prognosekriterien kritiklos angeführt, so z.B. auf S. 311 wo „angenehmes, höfliches Auftreten“ als „soziale Fertigkeit“ in der Merkmalsliste des MRL[3] aufgeführt wird, ohne dass auf die damit verbundene Problematik der Zwangsanpassung im Vollzug an solche vordergründigen Kriterien eingegangen wird.

Positiv ist hervorzuheben, dass die Hinweise zur Abfassung von Gutachten zur Risikoeinschätzung (ab S. 253) sehr ausführlich und dabei dennoch handhabbar sind. Die Frage bleibt aber auch hier, wer die Einhaltung der dort angeführten Kriterien überprüft, wie es generell um das Qualitätsmanagement in der Begutachtung steht. Denn dass diese Qualitätssicherung nicht von den Gerichten geleitet wird und vielleicht auch nicht werden kann, ist offensichtlich, zumal Richter*innen es eher weniger schätzen werden, wenn Gutachter sie tatsächlich mit der Komplexität (und Unsicherheit) ihrer Begutachtung konfrontieren. Hier sind eher klare Aussagen erwünscht, die man möglichst 1:1 in die eigene Entscheidung übernehmen kann.

Das Buch von Nedopil, Endrass, Rossegger und Wolf bietet viel Reflexionsmöglichkeiten, und es vermittelt sehr gut die wichtigsten Informationen zum Bereich Prognose und Risikoeinschätzung. Dabei spielt auch die Frage eine Rolle, worin sich Gutachter*innen mit guter oder schlechter Trefferquote unterscheiden. Wobei, wie oben bereits ausgeführt, eine Trefferquote bei denjenigen, die hinter Gittern bleiben, schon rein logisch nicht berechenbar ist. Die Tatsache, dass das Buch einen „Werkzeugkasten für die Risikoeinschätzung“ verspricht – so der Verlag auf seiner Website (dort finden sich auch Hinweise auf die Autor*innen und das Inhaltsverzeichnis), ist hingegen eher problematisch zu sehen. Wer Werkzeug verwendet, muss auch gelernt haben, damit umzugehen – sonst ist für jemanden mit einem Hammer in der Hand die ganze Welt ein Holzbrett, in den man Nägel einschlagen muss.

Thomas Feltes, März 2022

[1] Zur Kritik an dieser struktursystematisch festgelegten Fixierung auf Mediziner vgl. Alex/Feltes: Ich sehe was, was Du nicht siehst – und das ist krank! Thesen zur psychiatrisierenden Prognosebegutachtung von Straftätern. In: Monatsschrift für Kriminologie 2011, S. 280-284. Eine längere Fassung des Beitrages findet sich hier.

[2] So bereits Lesting/Feest, Renitente Strafvollzugsbehörden: Eine rechtstatsächliche Untersuchung in rechtspolitischer Absicht. ZRP 1987, S. 390-393, dies. in https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/11-11/index.php?sz=8. In Wikipedia findet man dazu folgendes: „Aufgrund des Ermessensspielraums der Anstalt werden mitunter erfochtene Urteile in Strafvollzugssachen zugunsten eines Gefangenen von Gefängnisleitungen ignoriert, was beispielsweise in Bayern mehrfach vom Bundesverfassungsgericht gerügt wurde. Da dies keine Einzelfälle sind sprechen Kriminologen wie Johannes Feest von „renitenten Strafvollzugsbehörden“. … Gelegentlich vollziehen die betreffenden Behörden die Anordnungen der Vollstreckungskammern nicht angemessen, auch wenn der Rechtsweg ausgeschöpft ist (Renitenz). Schadensersatzklagen vor den Zivilgerichten führen aufgrund hoher Folgekosten im Erfolgsfall gelegentlich auch zu veränderten Entscheidungen der Behördenhttps://de.wikipedia.org/wiki/Strafvollzug .

[3] MRL: Merkmalsliste für die Risikoeinschätzung bei Lockerungen; nicht umsonst wird diese Begrifflichkeit ansonsten für TÜV-Überprüfungen von Maschinen verwendet. In ihre Merkmalsliste haben die Autor*innen verschiedenste Merkmale von unterschiedlichen Autor*innen und aus unterschiedlichen Instrumenten aufgenommen (S. 307).