Benjamin Derin, Tobias Singelnstein: Die Polizei: Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Inspektion einer mächtigen Organisation. Rezensiert von Thomas Feltes

Benjamin Derin, Tobias Singelnstein: Die Polizei: Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Inspektion einer mächtigen Organisation. Econ/Ullstein-Verlag, Berlin 2022, Hardcover mit Schutzumschlag, 448 Seiten, ISBN: 9783430210591, 24,99 Euro.

Benjamin Derin und Tobias Singelnstein haben 37 Jahre nachdem erstmals nach Ende des zweiten Weltkrieges eine kritische Bestandaufnahme der deutschen Polizei von Heiner Busch, Albrecht Funk, Udo Kauß, Wolf-Dieter Narr und Falco Werkentin[1] vorgelegt worden war, nunmehr eine ebenso kritische, allerdings anders ausgerichtete Bestandsaufnahme der Arbeit der Institution Polizei, ihrer Mitarbeitenden und der aktuellen Diskussion um und mit der Polizei veröffentlicht.

Anders ausgerichtet deshalb, weil sich natürlich die Schwerpunkte, unter denen man sich mit der Institution Polizei beschäftigen muss, verändert haben; anders ausgerichtet aber auch, weil die Autoren kein wissenschaftliches Buch im engeren Sinne schreiben wollten, sondern ein Buch, das verständlich, aber wissenschaftlich fundiert, die Institution Polizei beschreibt, ihre Struktur und Funktionen erläutert und vor allem auf die Kritik eingeht, die seit geraumer Zeit an der Polizei geübt wird.

Es ist daher ein Buch, das sich an mehrere Zielgruppen richtet – und damit möglicherweise auch nicht allen Erwartungen gerecht werden kann. Die Abkehr von der sich oftmals durch Unverständlichkeit pseudolegitimierenden Wissenschaftlichkeit, die, so sagt man, im Elfenbeinturm entsteht, ist sinnvoll, vor allem wenn es um gesellschaftliche Probleme geht, die viele, wenn nicht sogar alle von uns angehen.

Die verständliche, dennoch umfassende Beschreibung und Analyse des „Phänomens Polizei“ mit all seinen Risiken und Nebenwirkungen gelingt den Autoren gut. Alle behandelten Themenbereiche sind umfassend recherchiert, und es wird kein Thema ausgelassen, mit dem sich derzeit Wissenschaft, Praxis und das von der Polizei so entlarvend genannten „Gegenüber“ beschäftigen.

Deutlich wird dies, wenn die Autoren schreiben, dass sie wissen wollen, „woran wir bei dieser Organisation, der wir so viel Macht zugestehen, sind. Steht sie für Sicherheit und Menschenrechte oder für Gewalt und Überwachung? Handelt es sich um die »Prügelknaben« der Nation oder eine rechte Schlägertruppe? Ist sie überhaupt noch »unsere« Polizei (oder wessen sonst)? Die Verunsicherung ist entsprechend groß. Denn wem kann man vertrauen, wenn man der Polizei nicht mehr vertrauen kann?“ Und weiter: „Mancherorts wird mit harscher Abwehr auf Kritik an der Polizei reagiert: Sie sei ungerechtfertigt, Probleme allenfalls Einzelfälle, verschuldet durch schwarze Schafe, Eskalationen doch meist von anderen provoziert. Polizeigewerkschaften und manche Politiker:innen werden nicht müde, immer wieder zu betonen, dass es keine Polizeigewalt gebe und kein Problem mit Rassismus. Doch das stimmt nicht. Die Probleme sind da, und sie sind ziemlich grundsätzlicher Natur“ (S. 13).

Die Autoren betonen auch, dass die negativen Schlagzeilen eigentlich nicht zum Selbstbild der Polizei als professionell handelnde Institution passen. Sie gehen in ihrem Buch daher auch der Frage nach, wie es zu dem Unverständnis zwischen Polizei und Gesellschaft kommen konnte und wohin sich die Organisation in den kommenden Jahren entwickeln wird.

Um diese Fragen zu beantworten, betrachten sie nicht nur die aktuelle Situation, sondern auch die Funktion und Geschichte, das Innenleben und die Entwicklung in der jüngeren Vergangenheit. Auf dieser Grundlage untersuchen sie Themen wie Gewalt, Rassismus und Fehlerkultur und stoßen dabei nicht nur auf eine ungeahnt selektive, ambivalente und diversifizierte polizeiliche Praxis, auf Ungleichheiten, die System haben, auf eine Organisation, die gerade kein Spiegel der Gesellschaft ist, und auf eine alles prägende „Cop Culture“. Dieses, von Rafael Behr ausführlich beschriebene Phänomen[2], zieht sich durch das gesamte Buch (besonders ab S. 124), an dessen Ende sich die Autoren auch der Frage stellen, was eine Polizei aus Sicht der Gesellschaft eigentlich tun sollte und wie Antworten auf die diskutierten Entwicklungen und Probleme aussehen könnten. Sie betonen, dass die derzeitige öffentliche Debatte der Komplexität der Organisation Polizei und ihrer gesellschaftlichen Rolle in vielerlei Hinsicht nicht gerecht wird.

Dieses Buch ist kein Appell, »beide Seiten zu verstehen«, und nimmt keine vermittelnde Position ein. Ziel ist es, die Polizei in all ihren Widersprüchen zu betrachten. Dabei ergibt sich das Bild einer fundamental ambivalenten Organisation. Und es wird sichtbar, dass die Gesellschaft ihren Auftrag, sich Gedanken darüber zu machen, was für eine Polizei sie eigentlich möchte, (zu) lange Zeit vernachlässigt hat“ (S. 15).

Insgesamt ist die Bandbreite der behandelten Themen breit und wird damit dieser komplexen Institution und ihren Mitarbeitenden gerechter als viele anderen Veröffentlichungen der letzten Jahre[3]. Auch wenn die Autoren dabei keine „vermittelnde Position“ einnehmen wollen: Die Analyse macht Hintergründe und Ursachen von Verhalten deutlich und vermittelt daher zwar nicht zwischen politisch unterschiedlichen Sichtweisen, sie macht aber deutlich, woher die Probleme kommen, über die wir diskutieren.

Selbst wenn man sich an einigen Stellen eine etwas breitete Nachweisbasis gewünscht hätte (und es natürlich für den wissenschaftlich interessierten Leser sehr lästig ist, immer wieder zwischen Text und Anmerkungen bzw. Nachweisen, die vollständig an das Ende des Buches verbannt wurden, hin und her zu springen): Es bleibt der Eindruck bestehen, dass die Autoren hier ein Standardwerk vorgelegt haben, an dem man bis auf Weiteres nicht vorbeikommt. Auch und gerade weil die Darstellung durchgängig verständlich und nachvollziehbar angelegt ist, nie polemisch oder einseitig wird, weil sie immer versucht, die Hintergründe bestimmter Probleme in und mit der Polizei zu beleuchten.

Die wissenschaftliche Analyse, gepaart mit Insiderkenntnissen und Informationen über die Polizei, die man sich ansonsten mühsam aus verschiedenen Quellen zusammensuchen muss, macht den Wert des Buches aus. Die inhaltlichen Schwerpunkte (mangelnde Fehlerkultur und Transparenz in der Polizei, Korpsgeist und Rassismus und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Bild der Polizei in der Öffentlichkeit) sind notwendig für eine gesellschaftliche Diskussion über Rolle und Funktion der Polizei in einer Demokratie. Denn obwohl die Institution Polizei in der allgemeinen Bewertung der Bürger*innen nach wie vor an oberster Stelle rangiert: Dies sind sog. „repräsentative Zahlen“, erhoben anhand einer Stichprobe von meist weniger als 2.000 Personen – mit dem klaren Defizit, dass bestimmte Teilgruppen unserer Gesellschaft dabei nicht erfasst werden. Es sind aber gerade diese Gruppen, die Polizei in ihrem Alltag als rassistisch und gewaltbereit erleben, und zwar nicht nur dann, wenn sie selbst nicht direkt Opfer von Polizeigewalt werden, sondern – wie es am Beispiel des NSU deutlich wurde – einer sekundären Viktimisierung erliegen, weil sie, obwohl eigentlich Opfer, als Tatverdächtige behandelt werden. Gleiches gilt für die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Amoklauf in Hanau, die derzeit von einem Untersuchungsausschuss in Hessen (mangelhaft[4]) aufgearbeitet werden.

Und: Die Werte (Vertrauen in die Polizei) sind in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen. Während 2017 noch 89 % angaben, dass sie der Polizei „sehr“ vertrauen, waren es 2021 nur noch 78 %[5]. Aber die Polizei rangiert noch immer vor Ärzten, Universitäten und dem Bundesverfassungsgericht. Die Polizei (und ihre politische Führung) ist gut beraten, diesen Abwärtstrend zu stoppen. Denn Polizei und Gesellschaft können es sich, ebenso wie die Politik, nicht erlauben, dass die deutsche Polizei nicht die Polizei aller Menschen ist, die in Deutschland leben. Schon die einfache Tatsache, dass in mehr als 80% aller Straftaten, die als „aufgeklärt“ in der PKS erscheinen, die eigentliche Aufklärungsarbeit durch Bürger*innen geleistet wurde – direkt oder indirekt – macht deutlich, dass die Polizei auf die Bürger*innen angewiesen ist.

Insgesamt haben Derin und Singelnstein ein Buch vorgelegt, das gründlich recherchiert ist und eine aktuelle Bestandsaufnahme der Arbeit der für die Aufrechterhaltung unserer Demokratie und die Sicherung der Menschenrechte in Deutschland so wichtigen Institution Polizei liefert. Einer Institution, die sich gleichermaßen als mächtig wie empfindlich, als amibivalent wie (in der Außendarstellung oftmals) monolithisch darstellt (oder dargestellt wird), obwohl sie es nicht ist.

Dem Buch ist eine breite Leserschaft zu wünschen in der Hoffnung, dass sich so ein neues Selbstbewusstsein in der Polizei entwickeln kann, das es dieser Institution und ihren Mitarbeitenden nicht mehr nötig macht, Fehler zu vertuschen, rechtsextreme Einstellungen in der eigenen Institution zu dulden oder das „polizeiliche Gegenüber“ als Feind zu sehen, den man bekämpfen muss.

Thomas Feltes, März 2022

[1] Busch, Heiner/Funk, Albrecht/Kauß, Udo/Narr, Wolf-Dieter/Werkentin, Falco (1985): Die Polizei in der Bundesrepublik. Frankfurt/Main: Campus Verlag

[2] Rafael Behr: Cop Culture – Der Alltag des Gewaltmonopols: Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei. VS-Verlag Wiesbaden 2008. Kurzfassung auch hier: https://betrifftjustiz.de/wp-content/uploads//texte/Behr.pdf

[3] Zu recherchieren am einfachsten über KrimDok: https://krimdok.uni-tuebingen.de/

[4] Mangelhaft deshalb, weil es sich (wieder, ähnlich wie bei dem Loveparade-Unglück) um einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss handelt, der ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, wie der Rezensent selbst anlässlich seiner Anhörung am 17.03.2022 in Wiesbaden erleben durfte. S. dazu https://www.fr.de/rhein-main/wiesbaden/anschlag-von-hanau-keine-fehlerkultur-bei-polizei-91421283.html

[5] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/377233/umfrage/umfrage-in-deutschland-zum-vertrauen-in-die-polizei/