Nahlah Saimeh: Das liebe Böse. Warum wir gut sein wollen und nicht können. Rezensiert von Thomas Feltes

Nahlah Saimeh: Das liebe Böse. Warum wir gut sein wollen und nicht können. Verlag Fischer & Gann, Bielefeld 2022, 128 S., ISBN 9783958835627, 15.- Euro

Wer will nicht „gut“ sein? Und wem geling das „immer und überall“? Der Song „Das Böse ist immer und überall“ der österreichischen Band „Erste allgemeine Verunsicherung“ war 1986 ein Hit. Ein geplanter Banküberfall geht gründlich schief. Danach sollen in München die Banküberfälle um das doppelte angestiegen sein[1]. Das Böse scheint tatsächlich immer und überall zu sein. Aber was genau ist „das Böse“, woher kommt es, wie entsteht es? Es ist, wie Nahlah Saimeh am Ende ihres Buches schreibt „nicht un-menschlich, sondern es ist zutiefst menschlich in dem Sinne, dass es der Natur den Menschen innewohnt“ (S. 108). Auf der anderen Seite wird durch dämonisierendes Denken und die damit einhergehende Negation des Menschseins „systematisch am Zusammenbruch der Empathie gearbeitet“ (S. 109) – der Empathie, auf der unsere Gesellschaft aufgebaut ist und (nur) mit der sie funktionieren kann. Oder mit den Worten von Saimeh: „Der Zusammenbruch grundlegenden Mitgefühls entsteht dadurch, dass man nicht mehr Willens oder in der Lage ist, in dem anderen eben auch sich selbst zu sehen – und zwar zuweilen durchaus mit den Anteilen, die man bei sich selbst ausblendet“ (S. 117). Ein wahrlich spannendes Buch für jede*n der dem Bösen auf den Grund gehen und die Ursache der eigenen schlechten Gedanken finden möchte.

Wissenschaftlich fundiert, wenngleich mit subtilem Humor, beschäftigt sich dieses „kleine, feine Büchlein“ von Nahlah Saimeh mit dem „lieben Bösen“. Dabei ist „kleines Büchlein“ weder despektierlich gemeint, noch soll damit etwas über den Inhalt ausgesagt werden (dazu später). Der Inhalt ist nämlich groß, größer als der manch anderer „ausgewachsener“ Bücher. „Kleines, feines Büchlein“ bezieht sich auf die überaus gelungene Aufmachung, angefangen vom Titel, auf dem ein rotes Herz von einem Messer attackiert wird, über die Bindung (Fadenbindung, schöne rote Innenseiten hinter dem schwarzen Buchcover) bis hin zu einen unaufdringlichen, aber dennoch gut lesbaren Druckbild. „Mit Liebe zum Detail und für die Umwelt“ – wie der Verlag uns im Innentitel mitteilt. Schon dies alles ist Grund, sich das Buch näher anzusehen – und zu kaufen.

Vor allem aber ist es natürlich der Inhalt, der – ja, man muss es so sagen – fasziniert. Ebenso fasziniert, wie uns oftmals „das Böse“ fasziniert – aber auch dazu später mehr.

Nahlah Saimeh will in ihrem Buch „Straftaten als das beschreiben, was sie sind, nämlich menschliches Verhalten und Ausdruck menschlichen Schicksals und Scheiterns“ (S. 6). Sie geht dabei von der grundlegenden Gleichheit aller Menschen aus (S. 118). Das Menschliche beschreibt sie vor dem Hintergrund ihrer langen Erfahrung als Psychiaterin, Gutachterin und Leiterin einer forensischen Psychiatrie. Sie will, wie in ihren Gutachten, „dem Täter seinen Subjekt-Charakter“ zuerkennen und „ihn nicht zum bloßen Objekt rechtsstaatlichen Handelns“ machen (S. 7). Gerade letzteres müssen wir leider immer wieder beobachten, sei es im Strafverfahren, in der Politik oder in der öffentlichen Meinung. Insofern ist das Buch von Saimeh auch ein Aufklärungsbuch: Es klärt den Leser darüber auf, wie es zu Straftaten kommt, und warum wir als Menschen „böse“ handeln. Dabei ist es ihr wichtig, „keinen wirklich entscheidenden Unterschied zu machen zwischen Straftätern und Nicht-Straftätern“ (S. 7), und sie sieht „die Ursache für „gutes“ und „böses“ Handeln letztlich in ein und derselben Quelle verankert“ (S. 74).

Was hier auf den ersten Blick für viele schwer verständlich (und für einige vielleicht sogar inakzeptabel) erscheint, zieht sich als roter Faden durch das ganze Buch: Anhand der Metapher vom „Rucksack“, mit dem wir alle geboren werden und in den im Laufe des Lebens verschiedenste Objekte hineingelegt werden (meist ohne, manchmal mit unserem Zutun), macht sie deutlich, dass auch wir einen anderen Rucksack hätten haben können, und sich unser Leben damit gänzlich anders entwickelt hätte.

Nahlah Saimeh verknüpft in ihrer Darstellung Gedanken aus verschiedenen Fachbereichen in der Absicht, „uns Menschen als komplexe, störanfällige, fragile Wesen darzustellen, die zeitlebens der großen Ursehnsucht hinterherlaufen, deren Erfüllung man aber durch nichts erzwingen kann: der Sehnsucht nach einem komplett bedingungslosen Angenommensein“ (S. 9).

Über sich selbst sagt sie: „Und wenn man mich fragt, was ich beruflich mache, so habe ich bislang vor dem Hintergrund meines gelegentlich sehr bewusst zur Geschmacklosigkeit neigenden Humors häufig geantwortet: „Ich lebe von Mord, Totschlag, Raub und Vergewaltigung.“ Falsch ist die Antwort ja nicht, denn auch sie verhält sich wie die unteilbare Vorder- und Rückseite der Münze. Aber ich könnte ebenso mit Fug und Recht behaupten: „Ich befasse mich professionell mit den Sieben Todsünden“ (S. 55) (ja, und auch dazu später mehr).

Warum ist dieses Buch so faszinierend? Es fasziniert, weil es Saimeh gelingt, die als so offenkundig geglaubte Grenze zwischen „Gut“ und „Böse“, zwischen „uns“ und den „anderen“, zwischen Normtreuen und Normbrechern zu überwinden. Sie macht uns deutlich, wie schmal der Grat ist, auf dem wir Menschen uns bewegen und wovon es abhängig sein kann (nicht muss!), ob der Weg ins Unglück oder ins Glück führt.

„Ein Merkmal des „Bösen“ ist die Grenzverletzung, der Verlust oder aber der genuine Mangel des inneren Erlebens einer Grenze, einer Schranke. Auch darin liegt sicherlich ein Motiv für die Faszination, die vom „Bösen“ ausgeht“ (S. 59). Tatsächlich kann niemand von sich sagen, wie er in Extremsituationen handeln würde. Mit unseren inneren „Schranken“ können wir unter unseren zumeist glücklichen Lebensumständen gut umgehen. Wir kennen sie, auch wenn wir sie manchmal überschreiten. Und gerade deshalb wollen oder können wir nicht verstehen, dass es Menschen gibt, die eine solche innere Schranke entweder generell oder in einer bestimmten Situation nicht haben, sie nicht erkennen können oder wollen. Wir bleiben dann ratlos, und Saimeh hilft uns zu verstehen, warum diese Schranken in diesen Fällen nicht wirken (können) oder in konkreten Fällen nicht gewirkt haben. Dabei geht es dann um Beziehungsfähigkeit und Beziehungslosigkeit, um moralische Überlegenheit.

Saimeh fordert uns vor dem Hintergrund der Frage, die wir uns immer wieder anlässlich schwerer Straftaten stellen: „Wie kann man so etwas tun?“ zu folgender Imaginationsübung auf: „Sie wissen nicht, wie Sie als 15-jährige vergewaltigte Mutter zu ihrem Kind wären. Und seien sie dankbar dafür, dass Sie es nicht wissen. Es geht nicht darum, etwas zu unterstellen, sondern nur darum, sich klarzumachen, dass eine Menge im Leben schiefgehen kann, ohne dass man selbst dazu etwas beigetragen hat, die „Suppe aber irgendwie auslöffeln“ muss“ (S. 61).

Saimeh benennt in ihrem Buch gleichermaßen eindrucksvoll wie nachvollziehbar und wissenschaftlich belegt die Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit stark verringern, straffällig zu werden (sog. „protektive Faktoren“) und diejenigen, die diese Wahrscheinlichkeit erhöhen. „Der Zugang zur Welt, den Sie sich in Ihrem Leben aneignen werden, beginnt in der Wiege“ (S. 70).

Aber es geht eben immer um „Wahrscheinlichkeiten“, nicht um Determinationen. Und es geht, das ist Saimeh wichtig, nicht um Rechtfertigungen, Entschuldigungen oder Relativierungen. Gewalttäter*innen haben oftmals ein äußerst eingeschränktes Repertoire an Emotionen, sie können Emotionen nicht schildern und nicht differenzieren. Ihnen fehlt „Empathie“, die Fähigkeit, sich in das Schicksal und Erleben anderer Menschen hineinzuversetzen. Aber, und auch dies macht Saimeh dankenswerterweise deutlich, es gibt auch Menschen, die dies alles nicht haben und dennoch keine Gewalttäter werden, aber durchaus schweren gesellschaftlichen Schaden anrichten, allerdings Schaden, der strafrechtlich meist nicht oder nur schwer verfolgbar ist. „Gefährlich sind hochfunktionale Psychopathen, die sich gesellschaftlich in Führungspositionen bringen“ (S. 91). Donald Trump nennt sie als Beispiel, und sicherlich hätte sich auch Wladimir Putin in diesem Kontext benannt, wenn das Buch später erschienen wäre.

Saimeh schlägt auch die Brücke zu neueren neurowissenschaftlichen Studien. „Bei Menschen mit sehr frühen traumatischen Erfahrungen (Rucksack! TF) findet man chemische Veränderungen an den Anti-Stress-Genen“ (S. 75), wodurch die Verringerung von Stresserleben behindert wird, was bspw. die „kurze Zündschnur“ erklärt, die mache Gewalttäter haben.

Die Quintessenz des „kleinen, feines Büchleins“ findet sich wohl in diesem Absatz:

„Zu welcher Persönlichkeit wir heranreifen, ist abhängig von einer hochspezifischen Mixtur aus genetischen Faktoren, vorgeburtlicher Beeinflussung von Gen-Aktivierungen durch die Umwelterfahrungen der werdenden Mutter, pränatalen Faktoren wie Suchtmittelexposition, nachgeburtlicher Bindungserfahrung, Erziehung, Lebensereignissen, dem Ausmaß sozialer Ablehnung oder Unterstützung, sozioökonomischen und soziokulturellen Einflüssen. Nichts ist daraus mit absoluter Gewissheit ableitbar. Auch darin zeigt sich die Freiheit zum Handeln (oder Nicht-Handeln). Nichts ist im Menschen völlig statisch. Wir verändern unsere Haltungen mitunter einschneidend durch Lebensereignisse bzw. prägende emotionale Erfahrungen. Es gäbe keine Psychotherapie, wenn Menschen nicht ihre Denkweisen und Verhaltensmuster grundsätzlich hinterfragen, modifizieren und verändern könnten und wollten“ (S. 78).

Das ist nicht nur ein Plädoyer für Therapie und Resozialisierung, das sie auch später wiederholt, wenn sie davon spricht dass es immer wieder Entwicklungen gibt, in denen Menschen mit recht ausgeprägten psychopathischen Eigenschaften erfolgreich resozialisiert werden (S. 87), wobei sie durchaus auch einräumt, dass es Menschen gibt, die man mit therapeutischen Angeboten nicht erreichen kann. Ohne dass Saimeh dies ausdrücklich betont: Dass diese Menschen nicht in der Überzahl sind und dass man dieses Urteil (nicht – mehr – therapeutisch erreichbar) erst dann fällen kann, wenn man alle, aber auch wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat, versteht sich von selbst.

Saimeh ist es auch wichtig darauf hinzuweisen, dass die Frage, warum Menschen Böses tun, weder monokausal noch monodisziplinäre zu beantworten ist. Wenn wir Risikofaktoren kennen, dann können wir darauf hinzuwirken, den Menschen eine größtmögliche Chance auf ein Aufwachsen unter gewaltfreien und hinreichende sozial fürsorglichen Bedingungen zu ermöglichen (S. 79).

Saimeh beschreibt auch eindrucksvoll, wieso das Risiko für einen Menschen, der unter feindseligen, irreführenden, verwahrlosten oder gewalttätigen Bedingungen aufwächst, sich frühzeitig anderen dissozialen Jugendlichen anzuschließen, so hoch ist: Er/sie findet dort all das, was ein Mensch für sein (Weiter-)Leben braucht, in dieser „familiären“ Umgebung aber nicht findet: Erwünscht sein, Bestätigung bekommen, seinem Leben einen Sinn geben – auch wenn der nicht gesellschaftlich goutiert ist – Freude haben, etwas erleben – selbst wenn diese Erlebnisse am Rande der Legalität sind, oder dabei Grenzen überschritten werden. Die Faszination der (dissozialen) Gruppe ersetzt die Langeweile und Dysfunktionalität der eigenen Familie. Wendepunkte aus dieser sich entwickelnden kriminellen Karriere lassen sich danach nur schwer konstruieren, und schon gar nicht mit freiheitsstrafender Gewalt anordnen. Liebe, Zuneigung, (legale) Bestätigung und eine befriedigende schulische Bildung und später berufliche Tätigkeit sind nicht vorgesehen in unserem Strafenkatalog.

Saimeh geht auch – und hier wird deutlich, dass sie fachübergreifend arbeitet – auf sozioökonomische Bedingungen ein, die eine wesentliche Rolle dabei spielen, ob jemand (auffallend) kriminell wird, oder ob er/sie das nicht wird – oder dabei nicht auffällt. Wenn, psychiatrisch betrachtet, die Quelle aller „boshaften Handlungen ein Leiden am Getrenntsein“ ist und „letztlich auch Spaltungsprozesse in der Gesellschaft und im politischen Raum, die … zu Menschheitskatastrophen führen, aus dieser Dynamik herrühren“ (S. 74), dann sollten, ja dann müssen wir dringend und unmittelbar unseren Umgang mit denjenigen ändern, die sich nicht als Bestandteil unserer Gesellschaft sehen oder sehen können – gleich, ob sie (schon) straffällig geworden sind oder nicht. Brücken bauen ist immer besser als Brücken zerstören – dies hatte ich im März 2022 zum Abschluss meines Plädoyers in einem Strafverfahren gegen ein sog. „Clanmitglied“ gesagt, der wegen mehrerer Einbruchdiebstähle angeklagt war[2] und der nach meiner Auffassung an einem solchen „Wendepunkt“ in seiner individuellen Karriere angelangt war.

Aber noch einmal zurück zur „Faszination des Bösen“, die ich eingangs erwähnt habe.

Der Buchhändler meines Vertrauens überraschte mich neulich mit der Aussage, dass 75% aller Bücher, die von älteren Frauen gekauft werden, Krimis sind. Warum kaufen gerade diejenigen, die nach unseren kriminologischen Forschungen die größte Angst davon haben, Opfer einer Straftat zu werden, solche Bücher? Ist es die Faszination des Bösen, das „schöne Schaudern“, das uns überkommt?

Berichte über Verbrechen und Verbrecher haben die Menschen schon immer fasziniert. Schuld und Sühne, die Frage nach Ursachen und Motiven des Bösen sind Themen, die die Menschen gleichermaßen faszinieren wie abstoßen und entzweien können. In dem Nachwort zu einem Kriminalroman[3] habe ich 2007 auf Wilhelm Busch verwiesen, der in seiner „Frommen Helene“ geschrieben hat:

»Helene!« – sprach der Onkel Nolte –»Was ich schon immer sagen wollte!

Ich warne dich als Mensch und Christ:

Oh, hüte dich vor allem Bösen!

Es macht Pläsier, wenn man es ist,

Es macht Verdruß, wenn man’s gewesen!«

Der Kriminalroman sagt nicht nur etwas über den jeweiligen Autor aus, sondern noch mehr über seinen Leser und, wie Ernest Mandel[4] überzeugend gezeigt hat, vor allem auch über die Verfasstheit der (jeweiligen) Gesellschaft.

Politiker nutzen vor allem spektakuläre Straftaten oftmals dazu, einen öffentlichen Sturm der Entrüstung loszutreten. Bewusst oder unbewusst stärken sie so die „Normtreue“ der Braven – vor allem dann, wenn man Straftaten geißelt, die „normale“ Bürger eher nicht begehen. Die alltägliche (auch sexuelle) Gewalt in der Familie eignet sich dazu ebenso wenig wie der Steuerbetrug oder der Diesel- oder Wirecard-Skandal; dafür eher geeignet ist die Mutter, die ihre neun Kinder unmittelbar nach der Geburt tötet. Kriminologisch betrachtet dient dies der durchaus wohlfeilen Abgrenzung der Guten von den Bösen – getreu der Frommen Helene bei Wilhelm Busch:

„Das Gute – dieser Satz steht fest –

Ist stets das Böse, was man läßt!

Ei, ja! – Da bin ich wirklich froh!

Denn, Gott sei Dank! Ich bin nicht so!!«

Abgrenzung führt aber zur Ausgrenzung – und wer nicht mehr das Gefühl hat, zu dieser unserer Gesellschaft zu gehören, der sieht auch keine Notwendigkeit, sich an ihre Normen zu halten. Durch moralische Empörung und wohlfeile Entrüstung, die auch öffentlich kundgetan wird, bestätigen wir uns immer wieder, dass wir nicht so sind wie „die da“. Mit der Forderung nach immer härteren Strafen bekämpfen wird die kleinen Teufel in uns, die selbst gerne einmal böse sein möchten. Ein Gutteil der bürgerlichen Strafbedürfnisse kann so erklärt werden, denn eine rationale Begründung für diese Bedürfnisse kann es bei „aufgeklärten“ Bürgern nicht geben.

Gleichzeitig – so glauben wir – siegt mit der Überführung und Verurteilung des Verbrechers (in Romanen und in der Realität) das Gute, und wir versichern und damit, dass wir richtig handeln, wenn wir keine Straftaten begehen. Der Freiburger Soziologe Heinrich Popitz hat mit seiner „Präventivwirkung des Nichtwissens“ (1968) deutlich gemacht, was wäre, wenn alle alles wüssten: Kaum jemand würde sich noch an die gesellschaftlichen Spielregeln halten und glücklicherweise wissen nur wenige, dass die Chance, nach einer Straftat erwischt und verurteilt zu werden, bei den meisten Delikten eher gering ist, sieht man von Mord und Totschlag ab. Strafverfolgung, so sie denn stattfindet, hat immer auch eine gesellschaftshygienische Funktion: Die Normtreuen bekommen bestätigt, dass es sich nicht lohnt, Straftaten zu begehen. Mit der Bestrafung des Bösen bestrafen wir immer auch das Böse in uns, die Versuchung, etwas zu tun, was man nicht tun darf – auch wenn es nicht gleich ein Mord oder ein Raubüberfall sein muss.

Ernest Mandel zieht in seiner umfassend recherchierten und materialreichen Studie folgendes Fazit (aaO., S.153): „Die bürgerli­che Gesellschaft ist aus Gewalt geboren, sie reproduziert dauernd Gewalt und erscheint von Gewalt durchdrungen. … Und letzten Endes erklärt sich der Aufschwung des Kri­minalromans vielleicht aus der Tatsache, dass die bürgerliche Gesellschaft alles in allem eine verbrecherische Gesellschaft ist.“

Eine andere Sichtweise, die aber in die gleiche Richtung geht, hat Mike Davis am Beispiel der Nacht beschrieben, die er als Synonym für gleichermaßen Unsicherheit wie Faszination sieht:

„In der Sicherheit warmer Wohnzimmer fühlte sich die Mittelschicht sowohl erregt als auch erschreckt durch die Geschichten von Klassen, die erst nach Einbruch der Dunkelheit aus ihren Verstecken kamen. So diente die Nachtwelt bald als erotische Folie für das Tagesgeschäft des Rechnens und Geldscheffelns. Die dunkle Stadt als Negativ der gewöhnlichen Welt: Dieser Kontrast zeigt sich schon in den Theaterdramen der Restauration …, im Schelmenroman und bei Dante. Aber der Mythos urbaner Dunkelheit war, wie die Sehnsucht nach der verbotenen Sexualität, eine wahrhaft viktorianische Obsession. Zur Befriedigung des viktorianischen Bedürfnisses, gleichzeitig geängstigt und angenehm erregt zu werden, avancierten die nächtlichen Untiefen der großen Städte zum Sehnsuchtsort. Gleichzeitig stellte man sich die Slumbewohner – besonders deren nächtliche Verrichtungen – als ein Pendant zu den wilden Kulturen des Urwaldes und der Wüste vor.“

Es gibt diesen offensichtlich tiefsitzenden Widerspruch zwischen Bedürfnis und Verlangen nach dem Dunklen und Bösen, bei gleichzeitigem, mehr oder weniger wohligen Schaudern. Das Böse, das sind und müssen immer die anderen sein.

Kein Geringerer als Karl Marx hat mit leichter Ironie darauf hingewiesen, dass der ansonsten so gescholtene, gefürchtete und verachtete Verbrecher nicht nur Verbrechen „produziert“, sondern indirekt auch „Kunst, schöne Literatur, Romane und sogar Tragödien“: „Ein Verbrecher produziert nicht nur das Verbrechen, sondern auch das Kriminalrecht und damit auch den Professor, der Vorlesungen über das Kriminalrecht hält… Der Verbrecher produziert ferner die ganze Polizei- und Kriminaljustiz… Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es somit vor Stagnation und ruft jene unruhige Spannung und Beweglichkeit hervor, ohne die selbst der Stachel der Konkurrenz abgestumpft würde“[5]. Und hier schließt sich dann der Kreis zu Nahlah Saimehs Aussage, die ganz zu Beginn dieser Rezension zitiert wurde und nach der sie von Mord, Totschlag, Raub und Vergewaltigung „lebe“.

Wohin führt uns am Ende dieser, wie Nahlah Saimeh es bezeichnet, „kleine Parcours“ mit Überlegungen zum Kern unserer Befähigung zum „Bösen“? Ihre Antwort lautet:

Vielleicht benötigen wir mehr Mut, uns selbst und den anderen in seiner Existenz wieder in einem größeren Zusammenhang zu verorten, mit mehr Demut vor dem Leben und dem Prinzip des Lebendigen. Eine Gesellschaft benötigt Mitglieder mit einer reifen Ich-Struktur und einer soliden Ambiguitätstoleranz. Eine Gesellschaft, die nicht mehr in der Lage ist, klar und verbindlich ethische Prinzipien zum Wohle aller in der Gesellschaft lebenden Mitglieder zu formulieren und in vielfältiger Manier adressatengerecht zu vermitteln, aber auch deren Einhaltung konsequent einzufordern, kannibalisiert ihr rechtsstaatliches, humanistisches und kulturelles Potenzial. Die Psychiatrisierung des „Bösen“ führt nicht weiter bzw. erklärt das Prinzip der Destruktion nicht hinreichend und nicht umfassend. Das Grundprinzip zerstörerischen Wirkens ist eine dem Menschen eingeborene Möglichkeit. Aber wenn wir begreifen, wie störanfällig wir selbst und damit auch unser menschliches Gegenüber ist und wie sehr wir angewiesen sind auf Beziehung und Zuwendung, dann könnte es leichter fallen, dass der andere sich selbst in uns erkennt und vice versa“ (S. 120).

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Wer auch zu diesem Ergebnis kommen will, dem ist die Lektüre des „kleinen feinen Büchleins“ vom Anfang bis zum Ende sehr empfohlen. Wer dieses Ergebnis nicht erreichen will (vielleicht, weil er Angst davor hat, das Böse in sich selbst zu finden) – nun ja, dem ist nicht zu helfen. Selbst schuld – so sagt man doch, oder?

Thomas Feltes, März 2022

[1] Sozialpsychologisch wird dieses Phänomen auch als „Werther-Effekt“ bezeichnet – ich habe es in meinen Vorlesungen auch als „Marilyn-Monroe-Effekt“ bezeichnet: Nach dem Selbstmord der Schauspielerin nahmen sich in den Monaten danach in den USA über 300 junge Menschen das Leben. In den 1990er-Jahrengab es etwas Ähnliches nach dem Tod von Kurt Cobain, und auch nach dem Selbstmord des Fußballers Robert Enke war die Zahl der Menschen, die sich mit einem Sprung vor den Zug ums Leben brachten, massiv gestiegen. https://sz-magazin.sueddeutsche.de/gesellschaft-leben/der-enke-effekt-77033

[2] Näheres zu diesem Verfahren demnächst an anderer Stelle.

[3] Georg Tenner, Jagd auf den Inselmörder. Schardt-Verlag Oldenburg 2007, S. 308-316.

[4]  Ein schöner Mord. Sozialgeschichte des Kriminalromans. Frankfurt am Main 1987.

[5] Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, I. Teil, S. 387 f., zitiert nach E. Mandel, aaO., S. 21.