Niegisch / Thielgen, Einführung in die Vernehmungspraxis. Rezensiert von Leif G. Artkämper

Patrick Niegisch, Markus M. Thielgen, Einführung in die Vernehmungspraxis. Kompetenz – Konzept – Kommunikation, Kriminalistik, C.F. Müller GmbH, Heidelberg 2022, ISBN: 978 3 783 200 638, 340 Seiten, 30,00 Euro.

Informationsakquise ist für sämtliche Berufe mit Vernehmungs- und Befragungspraxis von täglicher und essenzieller Bedeutung. Polizeiliche Vernehmungen sind von einer professionellen – aber neutralen – Neugier geprägt, die sach- und personenbezogen ist und von einem kriminalistischen Denken dominiert wird. Wer fragt, bekommt Antworten – wer richtig fragt, bekommt überauffällig häufig auch die richtigen Antworten. Das Umfeld und die Fragen, die der Vernehmende stellt, steuern die Qualität der Antworten; Fragen und Antworten bilden eine Symbiose.

Die beruflichen Qualifikationen der Autoren – Kriminalist mit polizeilicher Sozialisierung und Psychologe – spiegeln exakt die große Bandbreite und damit die Schwierigkeit gelungener Vernehmungen wider: Die Tatsache, dass eine autoritär veranlasste Zwangskommunikation, die noch dazu an recht enge rechtliche Bedingungen geknüpft ist, zur Aufklärung einer Straftat beitragen kann, soll und muss, erschwert die Kommunikation, macht sie aber nicht unmöglich. Die gegenseitige Befruchtung beider Wissensbereiche eröffnet die Möglichkeit gehaltvoller  Befragungen, wobei stets die juristischen Grenzen zu wahren sind. Eine Wahrheitsfindung um jeden Preis ist dem Strafverfahren fremd.

Die Struktur des Buches ist konsequent und lehnt sich entsprechend dem Untertitel an das propagierte 3K MODELL von Kompetenz, Konzept und Kommunikation an: Nach der Einleitung folgen mehr als 150 Seiten zur rechtlichen, psychologischen, Methoden- und persönlichen Kompetenz, es schließt sich ein Kapitel betreffend die polizeiliche Sachverhaltserforschung (Konzept) an und Erklärungen zur Kommunikation runden das Gesamtbild ab.

Die rechtlichen Rahmenbedingungen geraten – jedenfalls aus der Sicht eines Strafjuristen – etwas kurz und verdienen einer näheren Präzision und Vertiefung; allerdings handelt es sich dabei um eine aus der Sicht des potenziellen Adressatenkreises wahrscheinlich eher marginale Kritik, ebenso wie der Umstand, dass im Rahmen der Klassifikationssysteme psychischer Erkrankungen nicht auf die seit Anfang des Jahres 2022 geltenden ICD 11, sondern auf die – mit einer Übergangsfrist fortgeltende, aber veraltete – ICD 10 abgestellt wird.

Vernehmen bedeutet, dass der Vernehmende die zu befragende Person so befragt, dass er dem Ziel, also letztendlich der Erlangung der materiellen (und nicht nur prozessualen!) Wahrheit so nahe wie möglich kommt. Er muss die Kunst beherrschen, die Informationen von den zur Verfügung stehenden Auskunftspersonen zu erlangen, ohne dass er bei ihrer Befragung gegen Rechtsnormen verstößt oder eine Erinnerungsfälschung auslöst, die das erlangte Informationsmaterial unbrauchbar macht. Das gilt sowohl bei der Befragung von Erwachsenen als auch umso mehr bei der Vernehmung von Kindern und Jugendlichen. Was es dabei zu beachten gilt, versucht die vorliegende Abhandlung dem Praxisanwender mit auf den Weg zu geben.

Die Kunst, Personen zu befragen, ist keine, die irgendeinem Vernehmenden in die Wiege gelegt wurde. Er muss selbst zuvor die Fähigkeiten erlangen, die ihn auf diesem Gebiet erfolgreich im Sinne der Aufklärung werden lassen.

Die Veröffentlichung gibt insgesamt dem Leser ein informatives Bild über Vernehmungen, führt ihn in diese Materie nachvollziehbar ein, wobei die Ausführungen teilweise auch weit über das Niveau einer Einführung hinausgehen. Eines aber bleibt: Das perfekte, universell anwendbare Vernehmungskonzept für jede Vernehmungssituation und für jeden Vernehmenden gibt es – wie jeder weiß – nicht; ein solches kann daher auch durch die Autoren nicht präsentiert werden. Vernehmungen lernt man durch Übung … und insbesondere durch einen gestandenen „Bärenführer“, den es heute leider weder in der Polizei noch in der Justiz kaum noch gibt.

Es ist bereits die zweite Veröffentlichung zum Thema Vernehmungen in der roten (Grundlagen)Schriftenreihe der KRIMINALISTIK, wobei offenbleibt, ob sie der Nachfolger des Habschick (Erfolgreich Vernehmen, zuletzt erschienen in vierter Auflage 2016) oder eine Ergänzung dazu werden soll. Auf die weitere Rezension der Veröffentlichung durch Märkert (der kriminalist 6/2022, 38) weise ich hin.

Dr. Leif Gerrit Artkämper, Dortmund