Günter Frankenberg, Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Treiber des Autoritären. Rezensiert von Thomas Feltes

Günter Frankenberg, Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Treiber des Autoritären. Pfade von Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Campus-Verlag Frankfurt 2022, ISBN 9783593516073, 532 Seiten, 45.- Euro (auch als E-Book verfügbar)

Der Band beschäftigt sich mit der Frage, welche Wege autoritäre Entwicklungen im frühen 21. Jahrhundert genommen haben und welche Faktoren für dieser Entwicklung maßgeblich waren. Seine aktuelle Bedeutung ergibt sich auch aus der Tatsache, dass in den letzten beiden Jahrzehnten auch in westlichen Gesellschaften vermehrt autoritäre Versuchungen in Teilen der Bevölkerung sichtbar geworden sind. Zugleich haben sich autoritäre Bewegungen und Parteien in zahlreichen Ländern herausgebildet und an Einfluss gewonnen. Schließlich lassen sich in staatlichen Institutionen autoritäre Aktivitäten nachweisen, wozu rassistische Entwicklungen gehören (auch in der Polizei), die aktuell wieder einmal thematisiert werden, und an denen auch Führungskräfte beteiligt sind.

Die Herausgeber des Bandes verzeichnen „gravierende Bedrohungen pluralistischer Gesellschaften und moderner Demokratien. Diese zu identifizieren und zu erklären sind das Ziel dieses Buches, das nur über mehr- und interdisziplinäre Zugänge erreicht werden kann“ (S. 9). Es geht ihnen dabei konkret um folgende Fragen:

„Wie empirisch evident und nachhaltig sind die Erscheinungsweisen autoritärer Entwicklungen in modernen Gesellschaften? Welche historischen und ökonomischen Hintergründe tragen zur Erklärung der aktuellen Entwicklungsprozesse bei? Welche soziologischen, politik- und rechtswissenschaftlichen, sozialpsychologischen, philosophischen und medienwissenschaftlichen Erkenntnisse können herangezogen werden, um die diversen autoritären Mechanismen aufzudecken die auf das gesellschaftliche Leben einwirken und auf Arbeitsbeziehungen und Geschlechterverhältnisse ausstrahlen?“ (aaO.).

Die Autor*innen fragen, ob es soziale, ökonomische oder politische Krisen sind, die für diese Entwicklungen verantwortlich sind und/oder ob „die Kontrollinteressen des Finanzkapitals oder Defizite der Demokratie“ dafür verantwortlich sind. Mit ihrem interdisziplinären Ansatz und international vergleichend liefern sie eine zum gegenwärtigen Zeitpunkt wohl ziemlich einmalige Analyse der aktuellen Entwicklungen, die uns alle angehen und angehen müssen, denn die autoritären Entwicklungen in pluralistischen Gesellschaften und modernen Demokratien können und dürfen nicht übersehen werden und sie dürfen nicht ohne Reaktion bleiben.

Der Sammelband liefert einerseits breit angelegte theoretische und empirische Analysen, andererseits werden sehr konkret die Risiken und Nebenwirkungen der aktuellen Entwicklungen im Zusammenhang mit der Ent- oder De-Demokratisierung von Gesellschaften benannt. Die Beiträge knüpfen an ökonomische, politische und gesellschaftliche Entwicklungen an, thematisieren aber auch die Covid-19-Krise. Es geht letztlich um nicht weniger als die Gefährdungen der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie. Daher richtet sich der zentrale Blick des Buches auf rechtsautoritäre und rechtsextremistische Bewegungen und Parteien.

In ihrem einleitenden Beitrag „Autoritäre Entwicklungen. Bedrohungen pluralistischer Gesellschaften und moderner Demokratien in Zeiten der Krisen“ gehen die Herausgeber Günter Frankenberg und Wilhelm Heitmeyer genau auf diese Problematik ein. Sie konstatieren, dass seit den Krisen der letzten beiden Jahrzehnte in westlichen Gesellschaften vermehrt und deutlicher autoritäre Versuchungen zu beobachten sind, denen unterschiedliche Teile der Bevölkerung nachgegeben haben. „Zugleich haben autoritäre Bewegungen, Parteien und Regime weltweit an politischem und kulturellem Einfluss gewonnen. Allerdings ist Autoritarismus eine Thematik und Problematik nicht nur von höchst aktueller Bedeutung, sondern meldet sich immer wieder, wenngleich weniger sichtbar und eher schleichend, ausserhalb krisenhaft zugespitzter Situationen wie zuletzt des im Februar und März 2022 vom russischen Diktator Putin gegen die Ukraine geführten Angriffskrieges zu Wort, zum Beispiel im Prozess der Globalisierung, bei geregelten Arbeitskämpfen oder Verteilungskonflikten“ (S. 15).

Dabei geht es sowohl um offenliegende, als auch um verdeckte autoritäre Agenden, Bestrebungen und Einstellungen auf den Ebenen der strategischen Allianzen zwischen Organisationen (Staaten), von Gruppen als Akteuren in organisationellen Netzwerken (Parteien, Verbänden, Behörden) und der sozialen Interaktion von Akteuren innerhalb von Netzwerken (Familie, Arbeitsgruppen).

Die Herausgeber weisen in ihrem einleitenden Beitrag darauf hin, dass die autoritären Entwicklungen im 21. Jahrhundert nicht aus dem Nichts kommen, weil sie sich einbetten lassen in zeithistorische und aktuelle Zusammenhänge (S. 16). Das ist im Prinzip und mit Stand jetzt betrachtet sicherlich richtig. Aber für jemanden wie den Rezensenten, der zwischen 1971 und 1992 an den Universitäten Bielefeld, Hamburg und Heidelberg studiert und gearbeitet hat, ist es ernüchternd zu sehen, wo wir heute stehen. Zum damaligen Zeitpunkt, und insbesondere nach dem Fall der Mauer 1989 waren wir (fast) alle davon überzeugt, dass die Demokratie die Staatsform der Wahl ist, wenn auch mit unterschiedlichen Facetten und Ausprägungen. Im Rahmen der Demokratisierungsbestrebungen, an denen der Rezensent für Europarat, OSZE, UN u.a. im Zusammenhang mit Polizeireformen in rund einem Dutzend Länder (auch) des ehemaligen Osteuropa, einschl. Russlands, beteiligt war, hatte man die (allerdings schon damals zunehmend geringer werdende) Hoffnung, dass sich die Polizeien und mit ihnen die Sicherheitslage in diesen Staaten der Demokratisierung anpassen würden. Inzwischen wissen wir, dass dies nicht der Fall war und ist, wenn wir beispielsweise auf Bosnien oder den Kosovo blicken. Unsere Hoffnungen waren verfrüht, wurden geweckt durch demokratische Strohfeuer, die nicht dauerhaft anhielten.

Zwar war das 20. Jahrhundert insgesamt betrachtet ein „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawn[1]) und es wurde schon das „Ende der Geschichte“ (Fukuyama[2]) beschrieben. Jetzt und seit einiger Zeit steht das Thema der „neuen autoritäre Systemkonkurrenz“ auf der Tagesordnung (S. 17). Die ökonomische Globalisierung, eine neoliberale Wirtschaftspolitik, Austerity-Maßnahmen und ein immer anonymer werdender Finanzkapitalismus prägen die aktuellen Entwicklungen – und dies vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges und der durch den Klimawandel hervorgerufenen Veränderungen. Keine gute Ausgangsposition für den Rest des 21. Jahrhunderts, das man durchaus mit Dahrendorf als „Jahrhundert des Autoritarismus“ beschreiben kann (Dahrendorf[3]).

Auch wenn Frankenberg, Heitmeyer und andere an mehreren Stellen des Buches betonen, dass ein „apokalyptischer Ton“ nicht angebracht und wenig hilfreich sei, bleibt eine eher grundpessimistische Stimmung, die nicht zuletzt durch politische Entfremdung und Vertrauensverluste in die Demokratie und ihre Institutionen (darunter auch die Polizei) geprägt sind.

Die in diesem Band vorlegten Analysen der aktuellen Entwicklungen sind durchgängig gleichermaßen wissenschaftlich belegt wie im Ergebnis erschreckend. Sie deuten darauf hin, dass soziale Ungleichheit (die gegenwärtig – August 2022 – und in Anbetracht der „Energiekrise“ noch massiv zunimmt) und gesellschaftliche Desintegration auch, aber nicht nur der Flüchtlinge und Migranten zu einem wachsenden Gefühl relativer Deprivation führen. Ungerechtigkeit in der Gesellschaft wird nicht nur subjektiv wahrgenommen, sondern ist auch objektiv nachweisbar.

Demokratieentleerung und demokratische Regression gehören zu den Phänomenen, denen sich die Herausgeber und Autor*innen in diesem Band widmen; einem Band, dessen Lektüre für alle Pflicht ist, denen die Entwicklung unseres demokratischen Gemeinwesens nicht gleich ist, die wissen wollen, warum was passiert und wie man darauf ggf. noch reagieren kann. Denn ähnlich wie beim Klimawandel gibt es auch beim Zerfall der Demokratie einen „point of no return“, ab dem die Entwicklungsdynamik nicht mehr aufzuhalten ist. So sinkt seit vielen Jahren in fast allen Ländern das Vertrauen in und die Unterstützung der Demokratie als Staatsform[4], und die sog. „illiberalen“ oder „defekten“ Demokratien nehmen ständig zu (dazu ausführlich der Beitrag von Zürn in dem Band ab S. 89). Abwarten hilft dabei nicht, wir müssen handeln, und wir müssen alle Handlungen staatlicher Institutionen, die das Vertrauen in unseren Staat gefährden, benennen, transparent aufarbeiten und abstellen.

Thomas Feltes, August 2022

 

 

 

 

[1] Eric Hobsbawn, Das Zeitalter der Extreme, Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998.

[2] Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte, München 1992.

[3] Ralf Dahrendorf, An der Schwelle zum autoritären Jahrhundert. Die Globalisierung und ihre sozialen Folgen werden zur nächsten Herausforderung einer Politik der Freiheit, in Die Zeit 14.11.1997, S. 14-15.

[4] S. Dazu auch meinen Beitrag: „Die „German Angst“. Woher kommt sie, wohin führt sie? Innere vs. gefühlte Sicherheit. Der Verlust an Vertrauen in Staat und Demokratie“, in Neue Kriminalpolitik 1, 2019, S. 3-12.