Michael Kniesel: Kriminalitätsbekämpfung durch Polizeirecht. Rezensiert von Holger Plank

Kniesel, Michael[1]: „Kriminalitätsbekämpfung durch Polizeirecht – Verhinderung und Verhütung von Straftaten“[2] ISBN: 978-3-428-18601-3, 466 Seiten, Duncker & Humblot, Berlin, 2022, Reihe: Das Recht der inneren und äußeren Sicherheit (RS), Band 17, 109,90 €; auch als E-Book verfügbar, 98,90 €.

Michael Kniesel hat sich in unzähligen, stets sehr lesenswerten, mitunter streit­baren Beiträgen in Monographien, für Fachzeitschriften und Sammelbände mit dem dogmatischen Konzept und der Fortentwicklung des Polizeirechts kritisch auseinandergesetzt. Die titelgebende Konnotation, die gerade durch die jüngsten legislativen Entwicklungen im Polizeirecht des Bundes und vieler Länder hochaktuell ist, rundet das schon bislang umfangreiche gefahrenabwehrrechtliche Oeuvre Kniesels aus einer der Fortentwicklung der Rechtsmaterie etwas anderen dogmatischen Perspektive inhaltlich ab.

Die als traditionell beschriebene „Fixierung der Kriminalisten auf das Straf- und Strafverfahrensrecht“ (S. 35) gerät aktuell durchaus leicht ins Wanken. Insofern darf man Kniesel mit Blick auf seine kritische Feststellung zur Kriminalistik, die trotz Erweiterung ihrer Perspektive noch zu sehr auf die „präventive Wirkung des Straf- und Strafverfahrensrecht“ setze“ (vgl. S. 414), rechtstatsächlich z. T. widersprechen. Wahrscheinlich ist diese erste, am inhaltlichen Aufbau der Arbeit orientierte Kritik im Rahmen der Ergebniszusammenfassung aber auch nur auf die Literaturlage hierzu bezogen. Im weiteren Verlauf der Ergebnisdarstellung (3. Teil, „Operative polizeigesetzliche Kriminalitätsbe­kämpfung“, „Dogmatische Einordnung“, S. 422 f.) wird die Problematik der „Gefahrenvorsorge“ nämlich durch Eröffnung des Vorfelds der konkreten Gefahr für (informationelle) Gefahrenerforschungseingriffe in Ausweitung der drei zentralen Begriffe der Dogmatik des klassischen Polizeirechts (konkrete Gefahr, Störer, Ermessen / Verhältnismäßigkeit) deutlich. Trotz vieler hiermit verbundener, obergerichtlich noch weitgehend ungeklärter dogmatischer Fragestellungen hat insbesondere die Kriminalpolizei, die vor noch nicht allzu langer Zeit nur ganz selten einen Ausflug in das Gefahrenabwehrrecht unternahm, in Anwendung der neuen (informatio­nellen, in Einzelfällen durchaus aber auch operativen) Gefahrenerforschungs­befugnisse in nahezu allen Polizeigesetzen durchaus „ihr Herz für die Gefahren­abwehr entdeckt“. Das geschieht bewusst und nicht selten über die dargestellt überkommene polizeirechtliche Dogmatik hinaus in expliziter Anlehnung eines an das Urteil des Bundesverfassungs­gericht vom 20.04.2016 zum BKA-Gesetz[3] erweiterten („drohenden“) Gefahren­begriffs. Schließlich können unter engen, in der Rechtswissenschaft nicht nur vereinzelt kritisch kommentierten Voraus­setzungen die hierbei präventiv gewonnenen Erkenntnisse nach den Regeln der hypothetischen Datenneuerhebung in ein späteres Ermittlungs­verfahren transferiert werden. Das kann auch dazu beitragen, die kriminal­taktischen Handlungsoptionen der Polizei signifikant zu erweitern. Deutlich wird diese im Einzelfall weitreichende optionale gefahrenabwehrrechtliche Erwei­terung krimi­nal­polizeilicher Arbeit zur „Gefahrenvorsorge“ vor allem auch im Rahmen des „Gefährder­managements“, bespielhaft etwa am Beispiel eines Beschlusses des 3. Strafsenats des Bundes­gerichtshofs (3 ZB 1/20 vom 10. Juni 2020) im Beschwerdeverfahren in Folge eines abgelehnten gefahrenabwehrrechtlichen Observationsbeschlussantrags (inkl. der Beantragung des Einsatzes technischer Mittel) auf Grundlage von § 15 Abs. 2 des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung, HSOG. Der in diesem Zusammenhang in der Literatur immer wieder diskutierte, auch in der erweiterten Perspektive polizeirechtlicher Dogmatik kritische Unterschied zwischen „Gefahren-“ und „Risikovorsorge“ kommt in den einleitenden rechtsgutbezogenen Feststellungen des Senats zur Tiefe und Qualität der Tatsachenfeststellung bzw. des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes der Prognoseentscheidung sehr differenziert zum Ausdruck. Das polizeirechtliche Gefahrenvorfeld ist sehr begrenzt. Ein bloßes „Risiko“ und hierauf bezogene etwaige „Risikoerforschungseingriffe“ sind auf polizei­rechtlicher Grundlage keinesfalls denkbar.

Man kann Kniesel zu seinem jüngsten Werk, zugleich seine Diss. iur. an der HU Berlin[4], in welchem die einleitend skizzierten Entwicklungen systematisch historisch (mit kriminalpolitischer Garnierung der Fortschreibungen des Programms für die Innere Sicherheit seit 1974 und der Musterentwurfsverfahren für ein einheitliches Polizeigesetz seit 1972 [vgl. Funk & Werkentin[5], 1976; Krüger[6], 1979, S. 186 ff.; Heise & Riegel[7], 1978] bis heute[8]), europa- und verfassungsrechtlich, kriminal­wissenschaftlich und rechtstatsächlich mit vielen z. T. persönlich konnotierten und daher besonders interes­santen zeitgeschichtlichen Einschätzungen in (inkl. der Zusammenfassung) vier Teilen mit insgesamt zehn Abschnitten (vgl. Inhaltsverzeichnis) sehr schlüssig und in weitem Bogen entwickelt werden, nur herzlich gratulieren. Die Monographie ist eine schöpferische thematische Gesamtschau und beachtliche kritisch-reflexive Darstellung der Entwicklung und des Status quo (ante) des Polizeirechts sowie seiner zunehmenden Bedeutung im Rahmen der (vorbeugenden) Verbrechens­bekämpfung bzw. der Gefahrenvorsorge / -erfor­schung. Neben vielen bis in die jüngste Vergangenheit anhaltenden, verfassungsrechtlich nach wie vor strittigen Modifizierungen in nahezu allen Länderpolizeigesetzen erweitert Kniesel in seiner inhaltlich und in seiner Spannbreite beeindruckenden aktuellen Wortmeldung die dogmatische Perspektive auf die Gefahrenabwehr und grenzt sie von der bloßen Risikovorsorge ab. Einerseits blickt er hierbei auf die in den letzten Jahren zunehmende Vereinnahmung des Straftatenvorfeldes durch das materielle Strafrecht, z. B. in Form „abstrakter Gefährdungsdelikte“ oder zahlreicher „Vorfeldtatbestände“, etwa – aber nicht nur – im Bereich des Terrorismusstrafrechts. Gerade an dieser Schnittstelle wird auch die Verknüpfung zwischen äußerer und innerer Sicherheit erkennbar. Anderseits wirft er einen Blick auf das Nachrichtendienstrecht und nicht zuletzt auf das Sicherheits- und Ordnungsrecht der primär zuständigen kommunalen / regional zuständigen Gefahrenabwehr­behörden und hieraus erwachsende Modelle der vernetzten Zusammenarbeit sowie wechselseitige (verfestigte) informationelle Kooperationen. Das ist bedeutsam, denn aus dieser erweiterten Perspektive betrachtet bestehe einerseits Bedarf, Sicherheit als „neues Paradigma in einer vernetzten Sicherheitsarchitektur mit erhöhten Abstimmungs­bedarfen zwischen den gesetzlichen Ermächtigungen der verschiedenen Akteure“ zu interpretieren (S. 106). Andererseits zeigen Gutachten (vgl. z. B. Bäcker[9], 2018) und jüngere ober- und höchstrichterliche Entscheidungen zur Zulässigkeit der Ausweitung strafrechtlicher Tatbestände ins Vorfeld einer Rechtsgutverletzung (beispielhaft im Terrorismusstrafrecht seit 2001, vgl. bspw. nur Puschke[10], 2018) oder aber hinsichtlich zunehmender informationeller Verflechtungen zwischen den Kooperationspartnern im staatlichen Sicherheitsnetzwerk sowie der Ausweitung operativer Befugnisse gerade auch im Nachrichtendienst­recht (vgl. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 26.04.2022, 1 BvR 1619/17, hier zum Bayerischen Verfassungsschutz­gesetz) – und damit weit jenseits der Schwelle polizeilichen Gefahrenabwehr­rechts – kritische rechtsstaatliche Gefahrenquellen auf.

Es gibt unendlich viel und auch klug formulierte kasuistische und konzeptionell lehrbuchartige Literatur zum Polizeirecht, einschließlich der gängigen Kommentare und Handbücher. Der Kanon wächst beständig, was ein Hinweis auf die Bedeutung dieses Rechtsgebietes in der „Risikogesellschaft“ ist. Dennoch, nein, gerade deshalb ist die Monografie von Kniesel ein echter Gewinn für diese Rechtsmaterie, nicht nur, weil sie die mit den jüngeren legislativen Initiativen verbundenen Aspekte der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung, der Gefahrenerforschung und der -vorsorge gelungen in die historische Entwicklung des polizeilichen Gefahrenabwehrrechts dogmatisch und rechtstatsächlich einbettet. Dem Autor gelingt es auch, sein profundes Wissen mit seinen professionell vielschichtigen persönlichen Erfahrungen zu einem kritisch-reflexiv gestalteten Ganzen zu verbinden. Schon deshalb ist das Werk absolut lesenswert, ggf. auch in Kombination mit dem in derselben Reihe des Verlages erschienenen Werk von Markus Löffelmann unter dem Titel „Überwachungsgesamtrechnung und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz“ (2022), in welchem viele bei Kniesel aufgeworfene Aspekte jedenfalls an den Rändern arrondiert werden.

Holger Plank (im August 2022)

[1] *1945; Dr. iur.; von 1976 – 1993 in verschiedenen Funktionen bei der nordrhein-westfälischen Polizei (zuletzt von 1988 – 1993 als Polizeipräsident in Bonn) und als Leiter des Fachbereichs Rechtswissenschaften an der Polizei-Führungsakademie (heute Deutsche Hochschule der Polizei) in Münster tätig; von 1993 – 1995 Staatsrat beim Innensenator in Bremen, danach Anwalt und Unternehmensberater in Bonn.

[2] Zugleich Diss. iur. (2022; mit inzwischen 77 Jahren!) an der HU Berlin; siehe Verlags-Website von Duncker & Humblot.

[3] BVerfG, 1 BvR 966/09, Rn. 112.

[4] Betreut von dem Polizeirechtsexperten und Schriftsteller Prof. Dr. Bernhard Schlink.

[5] Der Musterentwurf für ein einheitliches Polizeigesetz – ein Muster exekutiven Rechtsstaats­ver­ständnisses, in: Kritische Justiz (9) 1976, H. 4, S. 407 – 422.

[6] In: Schriftenreihe der PFA, 1979, Münster.

[7] In: Heise, Gerd & Riegel, Reinhard, 1978, Boorberg-Verlag, Stuttgart.

[8] Die IMK hat die DHPol mit der Erarbeitung eines neuen MEPolG beauftragt; mit der Leitung dieses Projekts ist Prof. Dr. Dr. Markus Thiel, Fachgebiet III.4 „Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Polizeirecht“ beauftragt.

[9] Bäcker, „Sicherheitsarchitektur und Terrorismusbekämpfung“, Dt. Bundestag, UA-Stellung­nah­me vom 14.05.2018, Ausschuss-Drs. 19 (25)249.

[10] Puschke, Das neue Terrorismusstrafrecht im Lichte der Verfassung, in: KriPoZ, 2018, H. 2, S. 101-108.