Bürger, Bernd, Die Rolle der Polizei bei Versammlungen. Rezensiert von Holger Plank

Bürger, Bernd[1] „Die Rolle der Polizei bei Versammlungen. Theorie und Praxis“[2] ISBN: 978-3-658-37493-8, 378 Seiten, Springer Verlag, Wiesbaden, 2022, als Softcover-Ausgabe 49,99 €, auch als .pdf / EPUB verfügbar).

Der von Bürger herausgegebene und im Rahmen von fünf Beiträgen, bei denen er als (Mit-)Autor auftritt, auch inhaltlich wesentlich mitgestaltete Sammelband, spiegelt in 15 interessanten Aufsätzen aus der Feder von insgesamt 17 Autoren, die – nach einer instruktiven Einführung des Herausgebers – thematisch in vier Teile untergliedert.

  1. „Theoretische Grundlagen und praktische Schlussfolgerungen“ (fünf Kapitel),
  2. „Ethik, Recht und Vorschriften“ (drei Kapitel),
  3. „Umsetzung in der Praxis“ (vier Kapitel) und
  4. „Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation“ (drei Kapitel)

Die Teile thematisieren das reflexiv-kritisch Selbstverständnis und die Rolle der Polizei bei der Gewährleistung der „Versammlungsfreiheit als einem der konstituierenden Grundrechte“ unserer „Verfassung“.[3]

„Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“

So ist Art. 8 des Grundgesetzes als der kommunikative Kern aktiv gelebter, lebendiger Demokratie im Grundrechtsteil unserer „Verfassung“ formuliert.

Gerade die letzten drei Jahre, gekennzeichnet durch zahlreiche gesellschafts-, wirt­schafts-, finanz-, sozial-, gesundheits-, umwelt-, energie-, bildungs- und vertei­digungspolitisch (…) bedeutsame Fragestellungen, die zudem im globalen Kontext vielfach nicht mehr nur alleine nationalstaatlich diskutiert oder gar in diesem regional eingeschränkten Rahmen befriedet werden können, haben die Bedeutung gerade dieses kommunikativen und meinungsbildenden Grundrechts deutlich gemacht. Das merkt auch Bürger in seinem einleitenden Beitrag zum Sammelband (S. 4 f.) prononciert an und bezeichnet Inhalt und gelebte Praxis des Versammlungsrechts als „Lackmustest für eine gesunde Demokratie!“

In der Politik scheint für viele die Kraft und die Fähigkeit zum Kompromiss als dem demokratischen Ideal vor dem Hintergrund der o. g. allgemeinen gesell­schaftspolitischen Risikofolie zu schwinden. Das liegt mitunter auch daran, dass Populist*innen immer häufiger mühsam errungene politische Kompromisse diskreditieren. Deshalb kommt es politisch gerade heute darauf an, Strategien für die Überwindung gesellschaftlicher Polarisierungen zu entwickeln. Es ist daher ein gesellschaftspolitisches Gebot, die Stimmungslage in der Bevölkerung sorgsam und empathisch aufzunehmen, sie zu analysieren und wesentliche Aspekte im Rahmen der politischen Entscheidungsfindung kommunikativ zu spiegeln. Das Versammlungsgrundrecht ist hierbei ein (wichtiger) Sensor für die Politik und unterstreicht daher die Bedeutung der Art. 5 und 8 GG, gleich in welcher friedlichen „kommunikativen Protestform“, als gesamtgesellschaftliche Seismographen. Damit ist die Republik in ihrer 77-jährigen Geschichte, im Versammlungsrecht spätestens seit der judikativen Verankerung einer dees­kalativen, kooperativ-versammlungsfreundlichen Einsatzstrategie der Polizei[4] auf „Augenhöhe“ (Vorwort, S. XII) bislang fast durchgängig gut „gefahren“! Schon aus diesem Grund sind (un-) strukturierte „Dialogexperimente“ (nicht nur in Form von Vorfeldkooperationsgesprächen zwischen Veranstalter, Ordnungs­behörde und Polizei) vor und im Nachklang von Versammlungsgeschehen, von denen in dem Sammelband bspw. im Beitrag von Behrendes die Rede ist, sondern auch die mediale Begleitung des Einsatzes selbst durch die Polizei (bspw. ereignisbezogen erklärend via Sozialer Medien, über die die Rolle und Einsatztaktik der Polizei stets aktuell dargelegt werden können, ja müssen, vgl. hierzu den Beitrag Grutzpalk / Jarolimek) essenziell für gelungene, friedvolle und im Sinne der Meinungsbildung wirkmächtige Versammlungsszenarien. Sie veranlassen alle Beteiligten zu einem notwendig reflektierten „Perspektiv­wechsel“ (vgl. Beitrag von Becher & Bürger). Insofern kann man den Sammel­band ganz abstrakt auch als Maßnahme einer öffentlichen Einsatznachbereitung betrachten, wie sie bspw. die wesentliche Leitvorschrift polizeilichen Handelns, die PDV 100 „Führung und Einsatz“ (VS-NfD), in der Ziff. 1.6.2.7 „grund­sätzlich“ vorsieht. Diese dialektische Terz, als Dreiklang bestehend aus dem „Vor, Während und dem Danach“ ist wichtig, denn nirgendwo sonst „wird die Arbeit der Polizei, das Polizieren, sich sichtbar wie im Versammlungsgeschehen“, wie Bürger zurecht anmerkt (S. 5).

Die Rolle der Polizei – von den Protestierenden mitunter als kleinlich, wenig empathisch bzw. überzogen agierender „verlängerter“ Arm der Regierenden („Büttel“[5]) wahrgenommen – ist im Versammlungsgeschehen sehr bedeutsam, weshalb sie besonders sorgfältiger Betrachtung bedarf. Das gilt sicher in Teilen auch umgekehrt, denn gelegentlich wird die Polizei als Teil staatlicher Eingriffs­verwaltung, im Rahmen der Wahrnehmung des staatlichen Gewaltmonopols ausgestattet mit mächtigen Eingriffsbefugnissen, in diesen bewegten jüngeren Zeiten es durchaus als „unbequemes Grundrecht“ (vgl. Fn. 3), welches sie aber um jeden Preis zu schützen aufgerufen ist, empfunden haben. Dabei ist Art. 8, verbunden mit seinem kommunikativen Kernelement der „freien politischen Rede“, zusammen mit „ihrem Geschwistergrundrecht, der Meinungsfreiheit“, der im Rahmen der grds. weitgehend vorbehaltlos garantierten Versammlungsfreiheit konstitutive Ausdruck, „das schlagende Herz“ der Demokratie. Art. 8 sichert das „Recht, mit anderen zusammenzukommen und sich an der öffentlichen Mei­nungsbildung zu beteiligen“ (vgl. Fn. 3, Hong). Grenzen setzt hierbei einerseits „nur“ die verfassungsunmittelbare Schranke „friedlich und ohne Waffen“ und der formulierte einfache Gesetzesvorbehalt, legislativ zum Ausdruck gebracht durch die verschiedenen Landesversammlungsgesetze.[6] Bis zum Jahr 2006 war die Rechtslage einfachgesetzlich bundeseinheitlich im Rahmen der „konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG a. F.) im Versammlungs­gesetz des Bundes geregelt. Am 1. September 2006 trat die sogenannte „Föderalismusreform 1“ in Kraft. Durch die Änderung des Grundgesetzes zur Umsetzung dieser Reform erhielten die Bundesländer u. a. die Gesetzge­bungskompetenz für das Versammlungsrecht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 n. F. iVm Art. 125a Abs. 1 GG).

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die verfassungsrechtliche Formu­lierung „ohne Anmeldung oder Erlaubnis“! Das Versammlungsgrundrecht ist also nicht etwa „genehmigungsbedürftig“, wie es nicht selten fälschlich in der öffentlichen Berichterstattung zu lesen ist. Die Sicherheitsbehörden (das können nach den unterschiedlichen Zuständigkeitsregelungen in den verschiedenen Versammlungsgesetzen des Bundes und der Länder sowohl die ursprünglich originär zuständigen kommunalen Ordnungsbehörden als auch – und zwar nicht nur im „Eilfall“ – die Polizei sein) müssen vielmehr im Rahmen einer um­fassenden, im Zweifelsfall stets mit konkreten, nicht nur vereinzelten Anknüpfungspunkten entwickelten Gefahrenbewertung darlegen, weshalb im Einzelfall bestimmte Auflagen für die Veranstalter ausnahmsweise geboten sind. Ein Versammlungsverbot – als Ultima Ratio – ist, wie die versammlungsrecht­liche Jurisdiktion[7] zeigt, inzwischen kaum noch zu rechtfertigen.

Umso wichtiger ist es deshalb, dass sich mit dieser beachtlichen Wortmeldung gerade die Polizei – im Versammlungsgeschehen stets unmittelbar beteiligt – öffentlich wahrnehmbar, reflexiv und vor allem außerhalb des Formats eines klassischen Lehrbuchs mit einigen gewichtigen Facetten des polizeilichen Einsatzes im Rahmen verschiedener Kunstformen dieses Grundrechts auseinan­dersetzt und sich so über den im Anschluss wünschenswerten polizei- und sozial­wissenschaftlichen Diskurs ggf. folgerichtige Ableitungen für das eigene Handeln entwickeln können. Der Sammelband erhebt denominativ den Anspruch, ge­ronnenes Erfahrungswissen wissenschaftstheoretisch und interdisziplinär (soziologisch, psychologisch, kriminologisch, ethisch und nicht zuletzt aus diesen Ableitungen rechtlich, Vorwort, S. VIII) und angereichert durch fachlich beachtliche außerpolizeiliche Expertise zu „strukturieren“ (Vorwort, S VI) Erfah­rungsgeleitet begründete und durchaus in praxi bewährte Einsatzphilosophien können sich demnach durch fachwissenschaftliche Begleitung durchaus noch fortentwickeln, wie der Hrsg. aus eigener Erfahrung berichtet (auch wenn es sich bspw. nur um die scheinbare Petitesse eines freundlichen „Lächelns“ handelt, Vorwort, S. VI,). Hierbei vereinen sich die eigene Profession und die akade­mische Leidenschaft des Hrsg. zu einem beachtenswerten konzertierten theoretischen wie auch praktischen polizeiwissenschaftlichen Impuls über das sicherheitsbehördliche „Public Order / Crowd Management“.

Doch nun, nach dieser allgemeinen Einleitung und epistemologischen Verortung der Wortmeldung konkret zu einigen Beiträgen des Sammelbandes. Hierbei gilt es zunächst anzumerken, dass ich bei dieser kasuistischen Betrachtung mir bewusst nur einige wenige Beiträge des reichhaltigen Angebots für die erweiterte Besprechung des Sammelbandes ausgesucht habe, obgleich auch alle anderen durchgängig lesens-, besprechungs- und zitierwürdig sind, und zwar aus jedem der vier Buchteile jeweils einen. Die Nichtberücksichtigung eines Einzelbeitrags dieses Sammelbands ist also nicht etwa eine qualitative Einordnung. Vielmehr entspringt sie dem Interesse des Verfassers und ist zudem dem Format dieser kurzen Besprechung für den PNL geschuldet.

Teil I – Kapitel 1 – Bürger: Die Rolle der Polizei bei Versammlungen. Von der Theorie zur Praxis.

Man bemerkt schon am Titel des Beitrags den progressiv-edukativen Charakter des Buches. Ist der Sammelband titelgebend im Subtitel noch mit „(…). Theorie und Praxis“ bezeichnet, weist Bürger seinerseits über die Formulierung des Subtitels seines ersten Beitrags „(…). Von der Theorie zur Praxis“ semantisch auf die Notwendigkeit wissenschaftstheoretischer Fundierung als handlungs­leitendes Erkenntnismotiv mit Praxisorientierung hin.

Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Versammlungen als demokratische Hygienefaktoren arbeitet er mit wohlfeil gesetzten Worten heraus, ohne kon­fligierende Aspekte, etwa die praktische Grundrechtskonkordanz bei wider­streitenden Interessen oder mitunter diametralen Lebens- oder Weltanschauungen der verschiedenen beteiligten Parteien / Gruppen zu vernachlässigen. Je höher die Emotionen kochen, um so kühler muss die Polizei kalkulieren und handeln und ihr Handeln beständig professionell reflektieren und erforderlichenfalls zügig anpassen – und das, ohne die notwendige Empathie und angemessene Kommunikation vermissen zu lassen.

Erfahrene Einsatzleiter werden das u. U. mit dem aus der griechischen Mythologie tradierten „Gordischen Knoten“ vergleichen. In Anlehnung an eine damalige Prophezeiung des Orakels über den am Streitwagen des phrygischen Königs zur Verbindung der Deichsel mit dem Wagen „untrennbar“ verbundenen Knoten werde derjenige die Herrschaft über die Lage erringen, dem es gelinge, den „Gordischen Knoten“ zu lösen. Das gelingt – anders als Alexander dem Großen, der den Knoten der Sage nach mit dem Schwert gewaltsam durchschlagen haben soll – in der polizeilichen Praxis weit überwiegend völlig ohne die alexandrinische bewaffnete Militanz. Vielmehr haben sich voraus­schauende Planung, flexible (Auftrags-)Taktik innerhalb weiter Hand­lungs­spielräume eröffnender Leitlinien und kluges, deeskalatives Auftreten im Wechselspiel mit einer für jedermann erkennbaren Entschlossenheit erfreuli­cherweise weit überwiegend bewährt. Das ist aber nur mit Hilfe pro­fessionalisierter, entsprechend erfahrener Einsatzeinheiten im Wechselspiel mit aufgeschlossenen Einsatzleitungen möglich, über die die deutsche Polizei inzwischen durchgängig in allen Ländern und in insgesamt beachtlicher Stärke verfügt.

Bürger arbeitet im weiteren Verlauf sowohl semantisch begriffserläuternd als auch inhaltlich gut massenpsychologische Besonderheiten heraus – bspw. an dem nach wie vor alltagsplausiblen, wenngleich stigmatisierenden und deshalb fürderhin untauglichen Begriff des „Mobs“ – und leitet in diesem Kontext auf das kognitive Analyseschema „Elaborated Social Identity Model of Crowd Beha­viour“ (ESIM)[8] über, das innerhalb einer Menschmenge identitätsstiftende bzw. -aktivierende handlungsleitende Motive identifizieren helfen kann. Hieraus lassen sich in Menschenmengen, abhängig von der Hierarchie und dem Organisations­grad der Versammlung, letztlich auch bestimmte Devianztypologien entfalten, auf die je nach zugrundeliegender aktueller Konfliktstruktur (Kapitel 1.5) und un­bewussten Eskalationsmechanismen polizeilich gezielter und vor allem dees­kalativ reagiert werden kann. Die gebotenen deeskalierenden Maßnahmen, die sich auf Grundlage des ESIM-Modells lageangepasst entwickeln lassen, sind stets vom Kontext abhängig. Das Modell Deeskalation sei dabei allerdings keinesfalls alleine mit Passivität gleichzusetzen, so Bürger (S. 20 f.). Bewusst gesetzte aktive und passive Kommunikation und ein vor und während des Einsatzgeschehens regelmäßiger Perspektivwechsel (1.7.6) sind hierbei sehr wirksame Tools und können eine im Rahmen des Entscheidungsermessens als geboten erachtete „differenzierte, gezielte und eingrenzbare“ Intervention bei günstiger Gelegenheit (1.7.3) vorbereiten und Chaos vermeiden (1.7.5)“ helfen. Hierzu bedarf es aber eines positiven Mindsets der eingesetzten Beamten / Beamtinnen und eines spezifischen wertegeleiteten Menschenbildes, das nicht nur über Einsatzleitlinien vermittelt, sondern in der Lebenswirklichkeit stetig positiv und mithilfe er­fahrener Trainer, insbesondere auch im Rahmen der regelmäßigen Einsatz­nachbereitung fortentwickelt werden sollte. Hier sind wir wieder beim Ideal einer vertrauenswürdigen Bürgerpolizei, auf das der Autor vielfach in seinem interessant entwickelten. fakten- und erfahrungsreichen Beitrag reflektiert.

Teil II – Kapitel 7 – Wächtler: Bürger und Polizei bei Versammlungen. Zwischen Anspruch des Bundesverfassungsgerichts und Realität.

Der Münchener Strafverteidiger Harmut Wächtler, der als Fachmann für Polizei- und Strafverfahrensrecht und für seine konstruktiv kritische Kritik an der legislativ wachsenden sicherheitsbehördlichen Maßnahmenfülle bekannt ist, steuert einen weiteren lesenswerten Beitrag bei. Er entwickelt in seinem Kurz­beitrag auf der Grundlage des nach wie vor aktuellen, trotz einiger inzwischen sinnbildlich inaktueller Argumentationsmuster und der zur damaligen Zeit im Kontext von Versammlungen scheinbar noch dogmatisch und rechtstatsächlich weniger bedeutsamen Meinungsäußerungsfreiheit und den hieraus ggf. erwachsenden Konflikten wegweisenden, versammlungsfreundlichen Brokdorf-Urteils des BVerfG aus dem Jahr 1985 (vgl. Fn. 4), insbesondere des dort denominativ entfalteten „Kooperationsgebots“, ein Idealbild des Verhältnisses zwischen Bürger und Polizei auf Augenhöhe. Im nächsten Schritt gleicht er dieses alltagsempirisch und in kritischer Konnotation mit der von ihm beruflich und in praxi wahrgenommenen Wirklichkeit ab. Schon deshalb entsteht aus dieser Struktur ein beachtenswerter und praxistauglicher Diskurs zwischen Rechtsdogmatik und -wirklichkeit. Versammlungs- und die hierbei in besonderer Weise wichtige Meinungsäußerungsfreiheit bedürften eines „staatsfreien Raumes“ und einer einen solchen ermöglichenden vertrauensvollen Kooperation der Sicherheitsbehörden mit den Veranstaltern. Er benennt hierfür auch einige Beispiele, u. a. bezieht er sich durchaus auch auf positive Erfahrungen, z. B. mit dem Hrsg. des Sammelbandes im Kontext mit dem G7-Gipfel 2015 in Elmau (Obb.).

Bürger seien in einer lebendigen Demokratie keine „Gewaltunterworfenen“ mehr, obwohl materielles Strafrecht, z. B. nach der Modifikation der §§ 113 ff. StGB, seiner Meinung nach durchaus und immer noch ein „rechtliches Machtgefälle induziert“ (7.3.1), das die Akzeptanz polizeilicher Vollstreckungsmaßnahmen im Versammlungskontext nachhaltig beschädigen kann. Das sei demokratie­ge­fährdend, weil derart „selbstbewusste Bürgerlichkeit, die weiß, die Gesetze sind für alle gleich“ sich in „abwehrende Feindschaft“ bzw. in durch empfundene Hilflosigkeit hervorgerufene Staatsskepsis wandeln könne. Schon deshalb dürfe der Polizei kein „Raum für unkontrollierte Macht“ eröffnet werden, der eine Begegnung Bürger-Polizei auf Augenhöhe konterkariere. Er plädiert deshalb u. a. für eine partielle Modifikation der materiell-rechtlichen Regelwerks im Straf­recht, für eine „Ent-Anonymisierung“ von Polizeibeamten, z. B. durch eine individuelle Kennzeichnung, sowie für eine klare gesetzliche Zugangsregelung für polizeilich angefertigte Film- und Tonaufnahmen (in Vollständigkeit), die im Rahmen von Polizeieinsätzen angefertigt wurden. Allesamt zwar seit langem bekannte Forderungen, sie sind jedoch im fachlichen Kontext des Sammelbandes in diesem Beitrag titelgebend und inhaltlich ansprechend verpackt.

Teil III – Kapitel 10 – Becher / Bürger: Perspektivwechselseminare – ein Beitrag zu einer reflektierten polizeilichen Praxis bei Versammlungen und darüber hinaus.

In diesem kurzen, gehaltvollen Beitrag wird die Praxis und das theoretische Grundgerüst der sogenannten „Perspektivwechselseminare Polizei und Zivil­gesellschaft“ vorgestellt, die in einen „netzwerkartigen Kontext der Deutschen Hochschule der Polizei (DHPol) und der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) eingebunden sind“. Es wird empfohlen, dieses Konzept regional auszu­rollen, da einzelne Erfahrungen aus München, sowohl iZm zivilgesellschaftlichen Teilnehmern von Versammlungen als auch mit Fußballfans zeigten, dass danach eine vertrauensvollere Kooperation und Kontaktaufnahme bei zukünftigen Einsatzanlässen bis hin zu einem „Self-Policing“ innerhalb der genannten zivilgesellschaftlichen Gruppen möglich werde.

Hieraus hat sich zudem der Arbeitskreis „Politische Bildung und Polizei“ gefunden, der sich in besonderer Weise für Demokratiebildung in der Polizei bemüht. Angesichts der bekannt gewordenen Ereignisse der letzten Jahre ist die Arbeit dieses AK zur Stärkung der demokratischen und menschen­rechtsorientierten Haltungen in der Polizei sehr wertvoll. Auch in diesem Zu­sammenhang gibt es die Empfehlung eines „strukturierten Austausches zwischen Polizeiausbildung, Polizeipraxis, Polizeiforschung, Wissenschaft und Zivilgesellschaft“, der aber nicht nur bei der „Bekämpfung von Rechtsextre­mismus und Rassismus“ nachhaltig befördert, strukturell verankert und verstetigt werden sollte.

Teil IV – Kapitel 14 – Brandl / Brüger; Der messbare Effekt Taktischer Kommunikation im Einsatz.

Die beiden Autoren, ersterer promovierter Psychologe in Diensten des Bayerischen Landeskriminalamtes, weisen in einem interessanten, aufwändigen experimentellen quantitativen Studiensetting (via Szenario-Training und Augmented Reality-Komponenten) nach, dass eine geschickt geplante und zielgenau eingesetzte taktische polizeiliche Einsatzkommunikation signifikante deeskalierende Wirkung auf die abgefragten Variablen „Dominanz und eigene Aggression“ und eine Steigerung vor allem bei den Werten der deeskalierenden Variablen „Vermeidung und Nachgeben“ entfalten kann. Mittels Taktischer Einsatzkommunikation (auf den verschiedensten Kanälen) kann zudem „eine (tragfähige) Brücke zwischen Demonstrationsteilnehmern und der Polizei“ entstehen, indem die „Polizei Einblick in ihre Arbeitsweise und ihre Bedürfnisse gibt, gleichzeitig aber offensiv Verständnis für die Belange der Versamm­lungsteilnehmer“ zum Ausdruck bringt und Wort und Tat im Einsatz stets kongruent bleiben. Ähnliche Effekte seien im Übrigen auch im Vorfeld entsprechender Anlässe durch die weiter oben besprochenen „Perspektiv­wechselseminare“ festzustellen. „Kontakt zwischen den Gruppen könne das Wissen über die jeweilige Gruppe verbessern, die Ängste vor den Personen der jeweils anderen Gruppe reduzieren sowie die Empathie für einander erhöhen.“

Im Grunde wird hier geronnenes Erfahrungswissen, in der Polizei durch viel­fältige praktische Maßnahmen (bspw. Anti-Konflikt-Teams, professionalisiert betriebene Social Media-Kanäle im Einsatzfall auch mit hoher Reichweite, professionelle Sprecher in der konzeptionell stets aktuellen Einsatz­kommunikation etc.) umgesetzt und ausgebaut, in einem aufwändigen experi­mentellen Ansatz weitgehend wissenschaftlich bekräftigt. Die Quintessenz wird aber noch erweitert: Die Autoren plädieren für einen Ausbau und eine strukturelle Kontinuität kommunikativer polizeilicher Arbeit auf mannigfaltigen Kanälen außerhalb des Settings konkreter Einsatzanlässe, bei denen dieses Vorgehen inzwischen in den taktischen Einsatzkonzeptionen standardisiert ist. Zudem könne jede(r) einzelne Polizeibeamte / Polizeibeamtin seine / ihre individuelle Kommunikation und die hiermit erzielte Wirkung beobachten und stetig positiv fortentwickeln.

Der schlüssig gegliederte, erkenntnisreiche Sammelband mit 15 lesenswerten Beiträgen namhafter Autoren (zu den Autoren vgl. Fn. 2) ist eine insgesamt gelungene, weil reflexive polizeiwissenschaftliche bzw. versammlungsso­ziologische Wortmeldung von, über und für die Polizei als Organisation, für Einsatzleiter künftiger Versammlungsgeschehen, für die bei Versammlungen eingesetzten Polizeibeamten und -beamtinnen, nicht nur in Sachen (inzwischen fachlich überholter) „massenpsychologischer Phänomene“, daher „mit Bürger“ besser und fachwissenschaftlich eingebettet in das „ESIM“-Modell (S. 8 ff.), nicht zuletzt natürlich auch für Versammlungsteilnehmer selbst, die durch die unter­schiedlichen fachwissenschaftlichen Beiträge in beachtlicher Weise über einsatz­taktische Besonderheiten informiert werden. Er trägt damit zur Identifizierung einiger ganz wesentlicher erfolgskritischer Facetten des guten, bürgerorientierten Polizierens im Allgemeinen und im Umfeld von Versammlungen bei, die im Rahmen der friedvollen und ergiebigen Nutzung dieses überaus bedeutsamen demokratischen Grundrechts grundlegend werden können.

Die Wortmeldung ist auch deshalb beachtlich, weil sie zeigt, dass die Polizei durchaus in der Lage ist, sich gleichermaßen selbstkritisch „über die Schulter zu schauen“ wie sich auch im Rahmen polizeiexterner Beiträge des Sammelbandes „schauen zu lassen.“ Das ist eine Feststellung, die es gerade angesichts jüngerer (anlassbezogen durchaus berechtigter) polizeikritischer Berichterstattung und fachwissenschaftlicher Beiträge als in diesem Kontext wichtige vertrauens­bildende Maßnahme (vgl. Bürger, S. 5) positiv festzuhalten gilt. Schließlich apostrophiert Bürger die deutsche Polizei als „bürgerorientiert“ (ebd.) bzw. als „vertrauenswürdige Bürgerpolizei“ (S. 23), alles andere wäre für einen demokratischen Rechtsstaat aber auch unerträglich, wenngleich an diesen Idealen stets mit großem Engagement weiterzuarbeiten ist. „Wer aufgehört hat besser werden zu wollen, hat aufgehört, gut zu sein!“ (Bürger, Vorwort, S. VII). Hierbei ist jedoch ein bestimmtes Mindset mit bestimmten individuellen und strukturellen Komponenten, das Bürger auch grafisch unterstützt anschaulich entfaltet (Abb. 1, S. 24), sehr hilfreich.

Holger Plank (im September 2022)

[1] Polizeidirektor, Dr. rer. pub., M. A. mult. („Public Management & Police Administration“; Criminology & Police Science), Leiter des Fachbereichs Einsatz und Verkehr beim Fort­bildungsinstitut der Bayerischen Polizei, Kurzvita.

[2] Siehe Verlags-Website von Springer Gabler, inkl. Verzeichnis aller Beiträge des Sammel­bands.

[3] Hong, „Ein unbequemes Grundrecht“, LTO, 16.05.2019, Zugegriffen: 21.09.2022.

[4] Grundlegend: „Brokdorf-Beschluss“, BVerfGE 69, 315 (vom 14.05.1985), zugegriffen: 21.09.2022, in der verfassungs- und verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung inzwischen viel­fach konkretisiert und rechtstatsächlich fein säuberlich ziseliert.

[5] Vgl. am Beispiel einiger versammlungstypischer Tatbestände u. a. Winter, „Die Polizei: autonomer Akteur oder Herrschaftsinstrument“, 1997, zugegriffen: 21.09.2022. Meine persönliche Auffassung zur Titelgebung des nach wie vor lesenswerten Beitrags ist, sie ist weder das eine noch das andere, in der letzten Nuancierung jedenfalls bezogen auf die negative begriffliche Semantik, wenngleich die Polizei sicher nach wie vor die „politischte aller Verwaltungen“ ist (vgl. Beitrag Schiweck, S. 166, unter Verweis auf Fritz Werner).

[6] Da der Herausgeber des Sammelbandes Polizeibeamter in Bayern ist, wird im Rahmen der Besprechung beispielhaft und begleitend illustrativ auf das Bayerische Versammlungsgesetz (GVBl. S. 421 vom 22. Juli 2008, zuletzt geändert durch § 4 des Gesetzes vom 23. Juli 2021, GVBl. S. 418) hingewiesen.

[7] Vgl. hierzu ausschnittsweise bspw. https://dejure.org/dienste/lex/GG/8/1.html, zugegriffen: 21.09.2022.

[8] Reicher & Dury, in Group Processes & Intergroup Relations, 1999 (2), Issue 4, zugegriffen: 21.09.2022.