Thomas Obruca, Ahmići. Die acht Tage des 13jährigen Adnan. Rezensiert von Thomas Feltes

Thomas Obruca, Ahmići. Die acht Tage des 13jährigen Adnan. Verlag Bibliothek der Provinz, A-3970 Weitra, Österreich, ISBN 978-3-99126-078-3, 21,5 x 15 cm, 144 Seiten, Hardcover, € 18,00

Wie kurz doch unser (kollektives) Gedächtnis ist. Wenn man dieses Buch in die Hand nimmt, wird dies deutlich. Es handelt von dem Schicksal eines Kindes, das das Massaker in einem kleinen Dorf in Bosnien überlebte. Der Autor erzählt die Geschichte der acht Tage, die der 13-jährigen Adnan Zec erlebte, als sein Dorf niedergebrannt und seine Eltern ermordet wurde.

Dabei dürfen die Morde und Kriegsverbrechen, die vor, während und nach den Kriegen zwischen 1991 und 2001 auf dem Balkan begangen wurden[1], nicht vergessen werden, ebenso nicht wie die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) von 1993 bis 2017.

Zum Buch: Am 16. April 1993 wurden in dem kleinen Dorf Ahmici in Bosnien 116 Menschen ermordet. Thomas Obruca, ein österreichischer Polizeibeamter und von 2002 bis 2007 einer der Sonderermittler des UN-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag, beschreibt das Schicksal eines Kindes, das den schrecklichen Angriff auf sein Dorf überlebte, während er zusehen musste, wie seine Eltern und seine Schwester erschossen wurden.

Die Grausamkeiten kamen damals aus völlig heiterem Himmel, erzählt er in einem Interview. Wohl waren Kriegshandlungen bekannt, aber „dass dieser Schrecken über ein Dorf hereinbricht, in dem die Einwohner eine Woche zuvor noch gemeinsam Ostern gefeiert haben, Kroaten und Muslime, das war nicht absehbar“, so Obruca. Daraus lerne man „wie schnell sich die Welt ändern kann.“ Etwas, was wir derzeit tagtäglich wieder erleben müssen.

116 Menschen wurden in dem Dorf Ahmici innerhalb weniger Stunden ermordet. Sie alle waren Zivilisten, zum großen Teil Frauen und Kinder. Adnan, dessen Eltern und Schwester umgebracht wurden, überlebte schwer verletzt[2]. Obruca: „Er blieb auf der Straße liegen und stellte sich tot. Einen Tag lang, während die feindlichen Soldaten in unmittelbarer Nähe vorbeigingen. Irgendwann schaffte er es, sich in ein ausgebranntes Haus zu flüchten, wo er eine Woche später von UNO-Soldaten gefunden und gerettet wurde.

Diese acht Tagen im Leben des 13-Jährigen zeichnet das Buch nach, und zwar auf eine ganz besondere Art und Weise. Als „psychologisches Meisterwerk“ bezeichnet es der Kriminalpsychologe Thomas Müller, als „schockierendes Beispiel wie ethnisch unterschiedliche Gruppen, die seit vielen Generationen zusammenleben und die Religion, die Sitten und Gebräuche der anderen akzeptiert haben, in einen menschlichen Abgrund gerissen wurden“.

Das Buch von Obruca wechselt zwischen (soweit möglich) sachlich-neutraler Beschreibung der abscheulichen Umstände und Abläufe einerseits und den Gedanken und Träumen des 13-jährigen Jungen andererseits, die kursiv in den Text eingefügt sind. So wird dem Leser vermittelt, welcher Krieg einerseits „draußen“ vor der Tür des Versteckes von Adnan stattfindet, und andererseits in seinem Kopf – und der Leser wird sich an vielen Stellen fragen, welcher dieser beiden „Kriege“ der schrecklichere, der traumatischere ist.

Das Buch enthält auch Details über die Arbeit der Ermittler des ICTY und Hintergründe, warum die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen nicht wirklich als gelungen bezeichnet werden kann. Es fügt sich damit ein in die Reihe der Sachbücher und wissenschaftlichen Aufsätze (darunter auch von mir[3]), die aus unterschiedlicher Perspektive versucht haben, den (in meinen Augen) Misserfolg der internationalen Gemeinschaft auf dem Balkan zu analysieren.

Im Vorwort schreibt Obruca, unter Bezugnahme auf eine der Urteilsbegründungen aus dem Jahre 2000 (S. 7):

„Acht Tage, die sein Leben prägen. Die Tragödie, die sich in diesem Dorf im 20. Jahrhundert ereignete, spiegelt in ihrem Mikrokosmos die viel weiter reichenden Spannungen, tiefer liegende Konflikte und den Hass, die seit 1991 das ehemalige Jugoslawien geplagt und so viel Leid und Blutvergießen verursacht haben. Menschen, die verschiedenen ethnischen Gruppen angehörten, die gutnachbarschaftliche Beziehungen pflegten, die friedlich nebeneinander lebten und die unterschiedlichen religiösen Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche des anderen respektierten, verwandelten sich innerhalb weniger Monate zu Feinden. Die nationalistische Propaganda schürte und zündelte und brachte allmählich einen Wandel in der Wahrnehmung und Selbstidentifikation der Angehörigen der verschiedenen ethnischen Gruppen. Nach und nach wurden die »Anderen«, d. h. die Mitglieder anderer ethnischer Gruppen, die ursprünglich nur als »verschiedenartig« gesehen wurden, als »fremd« und dann als »Feind« wahrgenommen; als potentielle Bedrohung für die Identität und den Wohlstand der eigenen Gruppe. Das freundliche nachbarschaftliche Zusammenleben wurde zur Verfolgung dieser »Anderen«.“

Die emotional aufwühlende Geschichte hat Obruca auch nach Beendigung seiner Tätigkeit als internationaler Sonderermittler in Bosnien nach dem Krieg, der dem Zerfall Jugoslawiens folgt, nicht losgelassen und über Jahre hinweg beschäftigt. Nach Rücksprache mit dem jungen Mann von heute erzählt er seine Geschichte.

Die Erlebnisse sind für den Schreiber wie für den Leser kaum zu ertragen, und dennoch muss man dieses Buch lesen, auch und gerade jetzt, wo sich abseits des Ukraine-Krieges auch auf dem Balkan wieder neue Konflikte anbahnen[4], die letztlich zeigen, dass die Arbeit und das Geld, das die EU und die UN investiert haben, abseits der politischen und persönlichen Bemühungen vieler Menschen letztlich so wenig Erfolg gehabt haben.

Auch die ebenfalls finanziell wie personell aufwändige und für jeden einzelnen, der dort tätig war, aufreibende und belastende Arbeit des ICTY kann nur bedingt als erfolgreich angesehen werden – wie die Übersicht der Urteile der Hauptangeklagten im Zusammenhang mit den Ereignissen im Lasva Tal am 16.04.1993, vor allem im Hinblick auf das Dorf Ahmici, in dem Adnan lebte, zeigen, die Obruca ab S. 124 in dem Buch darstellt – verbunden mit kurzen Beschreibungen, was aus den Angeklagten und Verurteilten bis zum heutigen Tag geworden ist.

Es ist diese Kombination der individuellen Geschichte des 13jährigen Jungen mit der Arbeit des ICTY, die das Buch so einmalig und damit so lesenswert macht. „Es ist kein Albtraum, sondern Zeugnis einer grausamen Realität. Das Einzelschicksal eines Kindes in einem heute als beigelegt betrachteten Konflikt lässt sich auf tausende andere Kinder und Menschen dieser Welt übertragen. Immer noch. Immer und immer wieder, wie es heute Syrien, Afghanistan und die Ukraine zeigen. Somit ist diese Erzählung relevant und wichtig für die Gesellschaft, denn Vergangenheit kann sich wiederholen. Und zwar dann, wenn man seine eigene Geschichte vergisst“ (S. 8).

Thomas Obruca ist heute stellvertretender Leiter des Amtes für Asyl und Fremdenwesen im österreichischen Innenministerium. Die aktuelle Situation in der Ukraine zeige unübersehbare Parallelen, sagt er: „Das gleiche, was vor fast dreißig Jahren in Bosnien passiert ist, passiert jetzt in der Ukraine. Als ich im Jahr 2019 begonnen habe, dieses Buch zu schreiben, hätte ich mir in den schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können, dass sich praktisch vor unserer Haustür gleiche Schicksale entwickeln. Das Buch soll jetzt als Spiegel dienen für die Menschheit, dass sich alles jederzeit wiederholen kann – auch das Schreckliche.

Übrigens wurde ein weiteres Buch von Thomas Obruca, der eindrucksvolle Bildband „16 Jahre später – Sarajewo und Mostar: ein Wiedersehen“ wurde bereits vor einiger Zeit im Polizei-Newsletter vorgestellt.

Thomas Feltes, Oktober 2022

[1] Die Balkankriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien wurden von 1991 bis 2001 geführt. Nach Volksabstimmungen erklärten im Juni 1991 die jugoslawischen Teilstaaten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit. Im Laufe der Konflikte versuchte die Jugoslawische Volksarmee die Unabhängigkeitsbestrebungen zu vereiteln. Dadurch kam es 1991 zum 10-Tage-Krieg in Slowenien sowie zum bis 1995 dauernden Kroatienkrieg. Im November 1991 erklärte sich Mazedonien unabhängig. Nach der Unabhängigkeitserklärung von Bosnien und Herzegowina im März 1992 begann der bis 1995 dauernde Bosnienkrieg, in dessen Rahmen von 1992 bis 1994 der kroatisch-bosniakische Krieg geführt wurde. Dies waren die ersten Kriege nach der KSZE-Schlussakte von Helsinki, in der sich die europäischen Länder 1975 auf die Unverletzlichkeit der Grenzen geeinigt hatten. Darüber hinaus wurde von 1998 bis 1999 der Kosovokrieg geführt und 2001 erfolgte der albanische Aufstand in Mazedonien. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Jugoslawienkriege

[2] Im Zuge des Kriegsverbrechertribunals war Adnan Zec im Jahr 2005 ein wichtiger Zeuge, den Thomas Obruca befragte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits Familie und zwei Kinder. Nach der Befragung präsentierte er Thomas Obruca stolz die neugeborene Tochter. „Es war ein hartes Interview, wie das eben in solchen Situationen der Fall ist. Und dann der Schwenk in sein neues Leben mit der Tochter in der Hand. Das war so beeindruckend, das lässt mich bis heute nicht los“, erinnert sich Thomas Obruca. Deshalb habe er sich auch entschlossen, dieses Buch zu schreiben. https://noe.orf.at/stories/3175325

[3] Peacebuilding and Police Reform in the New Europe: Lessons from Kosovo, in: Möllers/van Ooyen: Jahrbuch öffentliche Sicherheit 2008/09, Frankfurt 2008, S. 439 – 466; Wessen Frieden wird gesichert?  Kritische Anmerkungen zur UN-Mission im Kosovo In: Offene Grenzen – Polizieren in der Sicherheitsarchitektur einer post-territorialen Welt. Hrsg. Von Rafael Behr und Thomas Ohlemacher, Frankfurt 2009, S. 45 – 78 sowie ausführlicher: Building Peace and Justice in Countries in Transition: The Kosovo Experience. University of Cape Town, Centre of Criminology, 2009.

[4] Vgl. die seit vielen Jahren beständig guten und substantiierten Berichte von Erich Rathfelder in der taz, u.a. am 06.04.2022 aus Anlass des Beginns des Bosnienkrieges vor 30 Jahren mit dem Titel „Hilflos, unklar und teils vergessen“.