Frank-Arno Richter (Hrsg.): Phänomen Clankriminalität. Rezensiert von Thomas Feltes

Frank-Arno Richter (Hrsg.): Phänomen Clankriminalität. Grundlagen – Bekämpfungsstrategien – Perspektiven. Richard Boorberg Verlag, Stuttgart 2022, 1. Auflage, 310 S., ISBN 978-3-415-07207-7, 38.- Euro

Wir schwurbeln nicht länger herum und leugnen nicht länger das, was draußen auf der Straße längst mit Händen zu greifen war – aber aus falsch verstandener politischer Korrektheit lange unter den Teppich gekehrt wurde.“ Mit diesen Worten kündigte der Innenminister des Landes NRW, Herbert Reul, den „Lagebericht Clankriminalität“ im Jahr 2019 an[1] – in Wort und Bild gemeinsam mit dem Herausgeber des hier vorgestellten Sammelbandes, dem Polizeipräsidenten von Essen.  Wenn ein Polizeipräsident ein Buch herausgibt, zu dem der amtierende Innenminister seines Bundeslandes (also sein oberster Dienstherr) ein „Geleitwort“ schreibt, dann darf und muss man die Frage stellen, unter welche Kategorie von „Büchern“ diese Veröffentlichung fällt oder fallen soll.

Der Verlag kündigt den Band auf seiner Website als „praxisorientierten, topaktuellen Leitfaden“ an, der sich u.a. mit der Rolle der Clankriminalität im Rahmen der Organisierten Kriminalität, dem Kriminalitätsphänomene im Bereich familiärer Strukturen und der Rolle der Frau im Kontext der Clankriminalität beschäftigt. Zudem soll gezeigt werden, wie (Friedens-)Richter der Clans agieren und warum kriminelle Finanzierungsnetzwerke eine Herausforderung für die Exekutive darstellen. Ein Leitfaden also für polizeiliches Handeln?

Begründet wird die Veröffentlichung auf der Website damit, dass in den letzten Jahren kaum ein Kriminalitätsphänomen in der Öffentlichkeit eine derart große Aufmerksamkeit erfahren habe wie die Clankriminalität. „Sei es durch respektloses und aggressives Auftreten in größeren Personengruppen gegenüber Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, durch Massenschlägereien in Stadtquartieren (sog. Tumultlagen), durch spektakuläre Überfälle und Einbruchsdiebstähle oder durch die in den Medien als solche betitelte »Clan-Abzocke« bei Jobcentern“. Über Jahre hinweg sei diese Form der Kriminalität als Teil der Kriminalitätsbekämpfung und damit als rein polizeiliches Problem klassifiziert worden und daher will man „Den »blinden Fleck« ins Sichtfeld rücken“.

Dazu sollen die folgenden Fragen beantwortet werden: Was … unterscheidet Clankriminalität von anderen Kriminalitätsformen? Wie können Staat und Gesellschaft der Clankriminalität begegnen? Ist die derzeitige Sicherheitsarchitektur in Deutschland für dieses Phänomen der Kriminalität ausreichend gewappnet?

Das „kompetente Autorenteam“ erläutere, wie ein wirksames strafrechtliches Verfolgungskonzept gegen Clans, Banden, kriminelle Vereinigungen und Organisierte Kriminalität aussehen sollte und es vermittle darüber hinaus neue Wege zur Bekämpfung der Clankriminalität, wie z.B. den Ausbau lokaler Bündnisse zu kriminalpräventiven Netzwerken.

Zweifellos erhebt der Band einen wissenschaftlichen Anspruch (oder er erweckt zumindest den Eindruck), und sicherlich hat man den Boorberg-Verlag ausgewählt, der die entsprechende Nähe zur polizeilichen Praxis hat. Und man (der Herausgeber Richter?) hat dazu sogar eine renommierte Kriminologie-Professorin als Autorin gewonnen, neben einem Lehrstuhlinhaber für Deutsches und Europäisches Straf- und Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht sowie Strafrechtsvergleichung.

Was an dem Band als erstes auffällt (sieht man einmal von der Herausgeberschaft ab) ist die Tatsache, dass es zwar ein Herausgeberband ist, die Beiträge aber zumindest im Inhaltsverzeichnis nicht mit den Namen der Autor*innen gekennzeichnet sind – im Text dann allerdings schon. Ein Versehen? Oder steckt dahinter die Idee, dass der Band quasi „aus einem Guss“ ist und alle Autor*innen die gleiche inhaltliche Linie vertreten? Letzteres ist de facto der Fall; ob dies dann auch zu dem ungewöhnlichen Gliederungsaufbau geführt hat, weiß man nicht.

Seinen eigenen Beitrag (S. 17 ff.) beginnt der Herausgeber mit der Behauptung, dass es sich bei der „Clankriminalität“ um eine „unterschätze Gefahr“ handelt. Als Definition des Begriffes übernimmt er die des Landeskriminalamtes NRW – ohne jegliche Differenzierung oder Kritik daran, die inzwischen an verschiedenen Orten und von vielen Autor*innen geäußert wurde. Diese Reststenz (oder soll man besser sagen. Renitenz) gegenüber anderen Meinungen durchzieht den Band von der ersten bis zur letzten Seite. So ist der Beitrag von Richter letztlich nichts anderes als eine Wiederholung der immer gleichen Behauptungen, verbunden mit dem Loblied auf die eigene Arbeit in Essen. Dazu schreibt er am Ende des Buches folgendes (S. 303): „Essen ist im Hinblick auf das Kriminalitätsphänomen Clankriminalität signifikant belastet. Um der Clankriminalität wirksam und nachhaltig zu begegnen, richtete Frank Richter seine Behörde strategisch neu aus und bildete eine direktionsübergreifende Besondere Aufbauorganisation namens „BAO Aktionsplan Clan“. Das Polizeipräsidium Essen schuf eine Organisationsform, die neue Wege einer erfolgreichen Kriminalitätsbekämpfung ermöglicht“.

Eher inhaltlich schwach ist (auch) der Beitrag von Bannenberg („Clankriminalität – Clanstrukturen“, S. 69 ff.), die eigene ältere Beiträge aufwärmt und ansonsten als Quellen vornehmlich Zeitungen, Zeitschriften und Pressemitteilungen von Innenministerien oder Landeskriminalämtern verwendet. Eine Sichtung oder gar Bewertung der aktuellen kriminologischen und sozialwissenschaftlichen Literatur zu dem Themenkomplex findet nicht statt, was doch gerade bei dem Titel „Clanstrukturen“ mehr als nahe gelegen, ja dringend notwendig und wissenschaftlich geboten gewesen wäre. Warum diese unwissenschaftliche Beschränkung? Handelt es sich um einen Gefälligkeitsbeitrag, mit dem sie sich für zukünftige „Forschungs“gelder bewerben will?

Generell haben die meisten Beiträge ein eher oberflächliches Niveau. Das wird schon dadurch deutlich, dass eine tatsächliche wissenschaftliche Beschäftigung mit dem jeweiligen Thema des Beitrages nur selten (wie bspw.  im Beitrag von Sinn, s.u.) stattfindet. Stattdessen verwendet man lieber Zeitungs- und Zeitschriftenartikel oder Alltagsliteratur. Wenn Duran in ihrem Beitrag „Die (Friedens-) Richter der Clans. Wie Selbstjustiz im Namen der Ehre ausgeführt wird“ als erste und wesentliche Quelle für eine wichtige Aussage das Buch eines Journalisten anführt und nicht einmal ansatzweise versucht, sich in die wissenschaftliche Diskussion zu diesem Thema einzuarbeiten, dann wird das Grundproblem des Buches deutlich: Es ist (und nicht einmal das umfassend) eine polizeiliche Bestandsaufnahme, geschrieben im Wesentlichen von Polizeipraktikern, mit Literaturverweisen, die den Eindruck von Objektivität und Wissenschaftlichkeit erwecken sollen, in Wirklichkeit aber lediglich „mehr vom selben“ sind, also die eigene Meinung widerspiegeln. Von seriöser Auseinandersetzung mit Gegenmeinungen oder empirischen Ergebnissen keine Spur, und wenn dann einmal Kritiker (wie der Rezensent) zitiert werden, dann bleibt das Zitat unkommentiert im Raum stehen, getreu dem Motto: Wie haben gelesen, was da geschrieben wird, aber entweder haben wir es nicht verstanden, oder wir halten es nicht für wert, sich damit auseinanderzusetzen.

Der Gerechtigkeit halber muss hier hinzugefügt werden, dass dies nicht für den Beitrag von Arndt Sinn („Clans, Banden, kriminelle Vereinigungen und Organisierte Kriminalität – das strafrechtliche Verfolgungskonzept gegen Clankriminalität“) gilt, der sich immerhin die Mühe macht (S. 178 ff.), die Begrifflichkeit des administrativen Ansatzes zu diskutieren, aber ansonsten auch in der (vom Herausgeber gewünschten) Argumentationslinie verbleibt.

Auch wenn repressive Aspekte in dem Band im Vordergrund stehen soll nicht verschwiegen werden, dass zumindest der Herausgeber in seinem Vorwort erkennt, dass „auch Präventions- und

Interventionskonzepte eine wichtige Rolle (spielen), die an unterschiedlichen Anknüpfungspunkten ausgerichtet sind“ (S. VIII). De facto beschränkt sich dieser Aspekt in dem Buch jedoch auf einen einzigen Beitrag. Der Beitrag zur Entwicklung lokaler Bündnisse in kriminalpräventiven Netzwerken in Essen (S. 190 ff.) ist aber eine reine Deskription, in der nicht einmal ein theoretischer Ansatz (so er denn vorhanden war) dargestellt oder begründet wird. Das gleiche gilt quasi schon per Titel auch für den Beitrag „Die Rolle der Clankriminalität im Rahmen der Organisierten Kriminalität aus Sicht eines erfahrenen Berliner Kriminalbeamten“ (S. 226 ff.).

Insgesamt macht der Band mehr oder weniger offensichtlich Werbung für den Bekämpfungsansatz, der in NRW und vor allem in Essen von Innenminister und Polizeipräsidenten vertreten wird – wofür auch die „Auswahl“ der meisten Autor*innen spricht. Die relativ sinnbefreite Auswahl an Beiträgen verfolgt einzig und allen den Zweck, die „Strategie“ des Innenministers und „seines“ Polizeipräsidenten zu verbreiten. Eine angemessene kritische, analytische oder wissenschaftlich fundierte Beschäftigung mit dem Thema wird hier nicht vorgelegt – und war vielleicht auch nicht beabsichtigt. Letztlich eine aufwändig und teuer produzierte Werbebroschüre für die „Kriminalpolitik“ gegen Clans in NRW, die diesen Namen allerdings nicht verdient.

Da darf und muss man durchaus die Frage stellen, wer den Band aus welchen Mitteln finanziert hat, denn bei einem Buch mit diesem Umfang sind ansonsten Druckkostenzuschüsse in vierstelligen Bereich üblich. Vielleicht sorgen Herausgeber, Verlag und Ministerium hier für Transparenz, ebenso wie bei der Frage, ob der Herausgeber hier im Haupt- oder im Nebenamt und mit oder ohne Genehmigung des Dienstherrn tätig war und ob er dabei und wie unterstützt wurde. Denn ein Buch herauszugeben und dort auch selbst einen Beitrag zu verfassen, das macht man nicht mal so nebenbei.

Thomas Feltes, November 2022

[1] https://www.ruhr-konferenz.nrw/zuhoeren/themenforum-03