Weißmann, Martin: Organisiertes Misstrauen und ausdifferenzierte Kontrolle. Zur Soziologie der Polizei. Rezensiert von Thomas Feltes

Weißmann, Martin: Organisiertes Misstrauen und ausdifferenzierte Kontrolle. Zur Soziologie der Polizei. Springer VS-Verlag Wiesbaden 2022 ISBN Softcover: 978-3-658-39226-0, ISBN e-book: 978-3-658-39227-7, 436 S., E-Book als Open Access kostenlos, Softcover Euro 42,79 Euro.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bielefeld und legt in seinem Buch theoretische Synthesen zu zentralen Themen der interdisziplinären Polizeiforschung vor. Er leistet, so der Verlag, „einen Beitrag zur Integration dieser ansonsten oft empiristischen Forschung in die stärker theorieorientierte Soziologie“. Dabei ist das Buch aber bei weitem nicht so theoretisch, wie es hier angekündigt wird.

Weißmann schlägt in der Arbeit, mit der er 2021 an der Universität Bielefeld promovierte, vor, (Kriminal-)Polizeien als Fall misstrauischer Sozialsysteme zu analysieren. Wie beispielsweise auch Geheimdienste oder der Investigativjournalismus seien sie auf die Gewinnung von Informationen über eine Umwelt spezialisiert, welche dies durch Prozesse des Verbergens und Täuschens erschwert. Auch wenn dies nicht „immer und überall“ zutreffen dürfte (es gibt auch Straftaten, die relativ offen begangen werden, teilweise sogar unten den Augen der Polizei), so macht der Ansatz doch deutlich, dass das Suchen nach belastenden Informationen quasi genetisch in der Institution Polizei verankert ist – was bspw. dazu dienen kann und muss, die Bereiche Prävention oder die bürgernahe Polizeiarbeit zu hinterfragen.

Das Buch behandelt zunächst die (Vor-)Geschichte polizeilicher Ermittlungsarbeit in Europa als Fall der Ausdifferenzierung, Professionalisierung und Organisationswerdung sozialer Kontrolle (untersucht an den Fällen Englands im 18. Jahrhundert sowie der Kriminalpolizeien in Paris um 1820 und Berlin um 1920). Die anschließenden Kapitel widmen sich der Arbeit von Polizisten mit Informanten und an Beschuldigten (in der Vernehmung) als Fall des Kontakts einer organisationalen Grenzrolle mit formal nicht zur Kooperation verpflichteten Nichtmitgliedern der Organisation. Und schließlich analysiert der Autor den polizeilichen Korpsgeist als Fall einer kollegialen Versicherungsgemeinschaft gegen die individuelle Verantwortlichkeit für Fehler bei der Arbeit.

Der Anspruch des Autors ist, Übersetzungsarbeit zwischen zwei Bereichen sozialwissenschaftlicher Forschung zu leisten: Der zeitgenössischen, nur durch ihren Gegenstandsbezug integrierten, empiristischen Polizeiforschung auf der einen Seite und einigen stärker theorieorientierten Bereichen soziologischer Forschung auf der anderen Seite. Realisiert wurde dieser Anspruch in der Durchführung von Analysen von Polizei als Organisation und Polizeiarbeit als professioneller Arbeit. Diese Analysen wiederum wurden vorbereitet und gerahmt durch die Diskussion und Entwicklung von Konzepten wie demjenigen der „Grenzrolle“ oder der „misstrauischen Sozialsysteme“ sowie des Äquivalenzfunktionalismus als Methode soziologischer Analyse, Begriffsbildung und Kritik.

Beispielhaft sei hier auf den zweiten Teil des Buches verwiesen, wo unter dem Titel „Ausgangspunkte und Perspektiven. Die (Kriminal-)Polizei als misstrauisches Sozialsystem und Polizeiarbeit als Arbeit an den Grenzen des Rechts“ theoretische Konzepte entwickelt werden, die geeignet sein sollen, Kontakte zwischen empirischer Polizeiforschung und theorieorientierter Soziologie zu initiieren. Dabei geht Weißmann immer auch wieder darauf ein, ob und wie die Grenzen des Rechts überschritten werden (müssen).

In diesem Kontext schreibt Weißmann: „Wenn jede Polizistin davon ausgehen muss, im Zuge ihres Berufslebens Straftaten dieser Art vor den Augen ihrer Kolleginnen zu begehen, weiß sie, dass sie auf das stumme Einverständnis der Dienstgruppe bezüglich der Unvermeidbarkeit und Akzeptabilität unrechtmäßiger polizeilicher Maßnahmen angewiesen ist. Angesichts der skizzierten, für Polizeiarbeit charakteristischen Kombination von Problemlagen wird die (Zwangs-)Mitgliedschaft in dieser informal-illegalen kollegialen Versicherungsgemeinschaft aus Sicht der einzelnen Polizistin zur schwer verzichtbaren Voraussetzung, um ihrer Arbeit nachgehen zu können“ (S. 403).

Insofern ist dieses Buch zwar primär ein theoretisches; es hilft aber dabei, die (nicht nur, aber auch) aktuellen Probleme in der und mit der Polizei zu benennen, zu verstehen und zu analysieren. Das von  dem Autor entwickelte Konzept der „Berufsgruppe als einer Versicherungsgemeinschaft“ will die Genese und Stabilität sowie Funktionen und Folgeprobleme von Solidaritätsnormen in der Polizei thematisieren und soll das in den Sozialwissenschaften normalerweise genutzten Konzepts der „Gefahrengemeinschaft“ relativieren, welches – so seine These – in Hinblick auf die Genese von Solidaritätsnormen unter Polizisten die Bedeutsamkeit der physischen Bedrohung von Polizisten über- und die Bedeutsamkeit des Risikos für Polizisten als Rechtssubjekte unterschätzt. Nicht thematisiert dabei wird der Aspekt, dass eine „Versicherungsgemeinschaft“ einen gewissen (auch moralischen) gesellschaftlichen Anspruch hat, während die „Polizeigemeinschaft“ sich eher durch Abschottung und Feindschaft gegenüber (zumindest manchen Mitgliedern der) Gesellschaft erweist.

Insofern ist es kein Buch GEGEN die Polizei, sondern eines FÜR sie und vor allem auch für die Mitarbeitenden in der Institution Polizei. Die Tatsache, dass der Autor für seine Arbeit den Preis der Deutschen Hochschule der Polizei 2022 erhalten hat, würdigt sicher auch diesen Aspekt.

Das Buch ist kostenlos als Open Access hier verfügbar.

Thomas Feltes, November 2022-