Tristan Barczak, Der nervöse Staat. Ausnahmezustand und Resilienz des Rechts in der Sicherheitsgesellschaft, Mohr Siebeck, Tübingen 2020, XXXI, 828 Seiten. ISBN 978-3-16-159083-2, 149,00 €.
Meist ist es ein Ärgernis für alle Beteiligten, wenn ein Buch mit deutlicher Verspätung rezensiert wird. Dies gilt besonders dann, wenn es sich um eine Qualifikationsarbeit handelt und der Autor auf eine positive Resonanz hofft, um damit seine wissenschaftliche Karriere zu befördern, und für den Verlag ist es ärgerlich, wenn die erhoffte Werbung ausbleibt; letztlich quält den Rezensenten das ungute Gefühl, einer Pflicht, die er sich selbst auferlegt hat, nicht nachzukommen.
Im vorliegenden Fall ist die mehr als zweijährige Verzögerung bei der Besprechung der Habilitationsschrift von Barczak vielleicht ausnahmsweise verzeihbar – so hofft zumindest der Rezensent, zumal das Werk in der scientific community relativ schnell und überaus positiv aufgenommen worden war[1], und der Autor inzwischen eine Professur für Öffentliches Recht, Sicherheitsrecht und das Recht der neuen Technologien an der Universität Passau inne hat – ein instruktives Video zu „Demokratie im nervösen Staat“ steht übrigens dort zur Verfügung.
So weit, so gut. Das ungute Gefühl des Rezensenten wird nun auch endlich beseitigt, in dem das Buch hier vorgestellt wird. Vor allem aber wird aus dem „unguten“ sogar ein „gutes“ Gefühl, was allerdings bei der Anforderung des Rezensionsexemplars im November 2020 so nicht absehbar und auch nicht beabsichtigt war: Die vergangenen zwei Jahre haben das Buch einem unerwarteten Praxistest unterzogen, ungewöhnlich für ein juristisches Buch, das meist ohnehin theoretisch, also praxisfremd und quasi „zeitlos“ sein muss – per definitionem. Wohl noch nie in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte waren aber zwei Jahre derart politisch und gesellschaftlich „spannend“, sieht man einmal von den 1980er Jahren und der RAF-Zeit ab.
Barczak hat das selbst frühzeitig erkannt. Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2019 als Habilitationssschrift an der Universität Münster angenommen – also noch vor Corona u.a. Krisen. Auch wenn die vorliegende Fassung auf dem Stand von April 2020 ist, konnte der Autor nicht absehen, was sich danach bis Ende 2022 ereignete.
Dennoch hat er sehr genau die Entwicklungen juristisch benannt und analysiert, die uns in den vergangenen Jahren beschäftigt haben, bis hin jetzt zu einer der größten Polizeimaßnahmen in der Geschichte der BRD, der Razzia gegen Reichsbürger Anfang Dezember 2022. Vor allem aber ist es natürlich der „Pandemiestaat als nervöser Staat“, wie Barczak dies in einer Veröffentlichung in APuZ im April 2022 beschreibt. Das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in Krisenzeiten ist ein ganz besonderes, und eines, an dem einerseits die Resilienz unserer Demokratie zu messen ist, andererseits aber auch bemerkbar wird, wo verdeckte und versteckte Gegner der Demokratie hausen.
Krisen sind, wie Barczak feststellt, „ein Stresstest für den demokratischen Verfassungsstaat und lassen ihn alarmiert, rastlos und überreizt erscheinen. Freiheit und Sicherheit geraten zunehmend aus der Balance“. Dabei ist gegenwärtig nicht nur die (wohl nur vordergründig abflachende[2]) Covid-19-Pandemie eine besondere rechtsstaatliche wie gesamtgesellschaftliche Herausforderung; die Pandemie reiht sich vielmehr ein in eine ganze Reihe weiterer Krisenerscheinungen, zu denen die Folgen des Klimawandels (auch wenn sie keine akute Krise darstellen, sondern schon sehr lange bekannt sind und damit erwartbar waren, vgl. nur den Bericht des Club of Rome zu den „Grenzen des Wachstums“ aus dem Jahr 1972) ebenso gehören wie der zunehmend militanter werdende Protest gegen die Untätigkeit (und wohl auch Unfähigkeit) der Politik in diesem Kontext. Dazu gehören aber auch der zunehmende Verlust in das Vertrauen in die Demokratie als Staatsform[3], die undifferenzierte Querdenker-Bewegung einschließlich der Reichsbürger, die als „spinnerdes“ Phänomen (zu) lange ignoriert wurden und vor allem der Ukraine-Krieg, der uns aus dem wohligen Gefühl der Sicherheit in Europa herausgerissen hat, obwohl dieses Gefühl schon seit den Balkankriegen und spätestens seit der Besetzung der Krim durch Russland oder den Maßnahmen Russlands in Tschetschenien eigentlich ein trügerisches war. Blickt man gar über die engen Grenzen Deutschlands hinaus, dann zeigen die Entwicklungen in Afrika und Asien, dass nicht nur möglicherweise, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit die „guten“ Jahre in Deutschland vorüber sind – zumindest sind die bequemen Jahre vorbei, in denen man sich zurücklehnen und die Dinge bei steigendem Wohlstand für die meisten abwarten konnte.
Barczek analysiert in seinem Buch, dass der Staat in der Bewältigung der Krisenphänomene „zunehmend alarmiert, rastlos und überreizt“ wirkt. Die Pandemie hat, so Barczak 2022, das Bild eines „nervösen Staates“ gezeichnet, „der sich in einem Zustand der nervösen Verkrampfung befindet und in dem die Gewichte von Freiheit und Sicherheit zunehmend aus der Balance geraten“[4].
Dabei seien, so der Autor, die Gefahren und Risiken der modernen, von den Prozessen der Globalisierung, Digitalisierung und Medialisierung geprägten Gesellschaft typischerweise katastrophisch und ihre Konsequenzen irreversibel, weil sie Zerstörungen von einem Ausmaß bedeuten, dass Handeln im Nachhinein praktisch unmöglich wird.
Die klassischen Mittel aus dem „Instrumentenkasten von Notstand und Ausnahmezustand“ helfen hier nicht weiter, und genau dies zeigt die Studie von Barczak. Aus diesem Grund sei im Staat der Gegenwart alles auf möglichst frühzeitige Prävention und möglichst umfassende Vorsorge angelegt – was im Bereich des Strafrechts durchaus und berechtigt immer wieder für Kritik sorgt, wie die Beiträge von Peter-Alexis Albrecht[5] zeigen[6].
Barczak thematisiert auch die „German Angst“[7] als Argument für staatliche Maßnahmen: „Indem sich der Staat in wachsendem Umfang auf die subjektive Wahrnehmung von Risiko und Sicherheit verlegt, versäumt er es jedoch, die Ängste einer freien Gesellschaft zu kanalisieren und bestenfalls zu überwinden“ (S. 2).
Die Annahme, in außergewöhnlichen Zeiten zu leben und hierauf mit außergewöhnlichen Maßnahmen antworten zu müssen, ist ein Symptom ängstlicher Gesellschaften und eines nervösen Staates. „In dem um sich greifenden Vorsorgedenken spiegelt sich die anthropologisch paradoxe Eigenart der Sicherheits- und Risikogesellschaft wider, dass der Mensch noch nie sicherer und risikofreier lebte und gleichzeitig noch nie so viel Angst hatte“ (S. 31).
„Antizipierende gesetzliche Regelungen“ (S. 38) betrachten „Krise als Konjunktiv“, so Barczak. Jede Krise hat das Merkmal, dass man nicht weiß, ob, wann und wie sie endet. Das gilt für die Covid-Pandemie genauso wie für alle anderen Krisen – auch wenn wissenschaftliche Evidenz inzwischen zumindest bei naturwissenschaftlichen Phänomenen wie der Klimakrise deutliche Hilfestellung leistet, die allerdings, wie oftmals, von der Politik nicht oder nur sehr zurückhaltend wahr- oder gar übernommen wird.
Da Nichtstun aber keine politische Option ist, sucht der Staat die Lösung in der möglichst frühzeitigen und umfassenden Vorsorge gegen zukünftige Risiken – oftmals gerne auch nach schweren Straftaten mit dem Ruf nach mehr und härteren Gesetzen. Dabei ist der Ruf nach dem „starken Staat“ nur selten wirklich hilfreich.
Krisenzeiten erzeugen Entscheidungsdruck. Nichtentscheiden, weil die Entscheidungsgrundlagen unsicher oder die Entscheidungsfolgen unabsehbar sind, ist keine Option – weder für die gesetzgebenden noch für die ausführenden oder die rechtsprechenden Organe. Dennoch – oder gerade deshalb – bedarf in einem Verfassungsstaat die Bewältigung von Krisen verfassungsrechtlicher Grundlagen und Grenzen, wie Barczak überzeugend deutlich macht.
„Das Grundgesetz ist eine Verfassung, die für Normal- und für Krisenzeiten gleichermaßen und weithin unterschiedslos gilt. Sie eröffnet für Notzeiten keine Notausgänge, jedenfalls keine solchen, die es erlauben würden, von ihren grundlegenden Struktur- und Wertentscheidungen – und sei es auch nur temporär – abzuweichen“[8]. Der Ausnahmezustand ist dabei besonders problematisch, und noch problematischer ist es, wenn er als „antizipierter Ausnahmezustand“ verstanden wird (S. 47).
Untersuchungsgegenstand dieser Studie ist, und dies beschreibt der Autor selbst, „jedenfalls nicht in erster Linie-, ob eine bestimmte rechtstatsächliche Erscheinung wie der Terrorismus oder bestimmte andere Formen der Kriminalität als Ausnahmezustand in faktischer Hinsicht (Ausnahmelage) zu betrachten sind, was nicht selten erst den Weg in die Freund-Feind-Dezision ebnen soll, sondern die normative Beschaffenheit der staatlichen Krisenreaktion. Die Studie zielt damit weniger auf eine Begründung der Notwendigkeit eines staatlichen Ausnahmerechts de lege ferenda als vielmehr auf eine Identifikation des existierenden Ausnahmerechts de lege lata. Es geht in anderen Worten also weniger um die „Selbstbehauptung“ des rechts- und Verfassungsstaats als vielmehr um dessen sicherheitsrechtliche und sicherheitspolitische „Selbstbelagerung““ (S. 50 f.).
Resilienz als Rechtskonzept und das „Denken vom Ausnahmezustand her“ (S. 63 ff.) ist in dieser Form ein neuer Ansatz, wobei Resilienz in der Kriminologie schon länger thematisiert wird[9].
Was aber ist ein „nervöser Staat“? Ein Staat, der nicht weiß, was er tut? Ein Staat, der vor den Herausforderungen in die Knie geht? Weder noch, oder besser: Genau dies wohl nicht. Barczak versucht die Frage, was einen nervösen Staat ausmacht und welche Risiken und Nebenwirkungen dies beinhaltet, vor dem Hintergrund der sicherheitsrechtlichen Herausforderungen des 21.Jahrhunderts zu beantworten. Er liefert dazu eine kritische Analyse unseres Staatsbildes. Skizziert wird ein Staat, der aus ständiger Angst, den letzten Zeitpunkt rechtzeitigen Handelns zu verpassen, schon in der Normallage so handelt, als befinde er sich im Ausnahmezustand. Unter den Bedingungen einer von Globalisierung, Digitalisierung und Dynamisierung geprägten Risiko- und Sicherheitsgesellschaft tritt an die Stelle des verfassungsrechtlichen Ausnahmeregimes ein permanent abrufbares Präventionsrecht, das der Verhinderung der Krise weit im Voraus konkretisierter Gefahren dient.
Vorverlagerung, Verstetigung und Vergesetzlichung wirken jedoch auf Form und Struktur des Ausnahmezustands zurück, es beginnt quasi ein „Ping-Pong-Spiel“ zwischen Staat und Gesetzgeber auf der einen Seite und gesellschaftlicher Verfasstheit auf der anderen. Reagiert der Staat (zu) hart, verhärten sich die Fronten. Neue rechtliche Bindungen müssen daher ebenso stabil wie elastisch, ebenso rigide wie flexibel sein. Nur so erweist sich das Recht resilient gegenüber einem antizipierten Ausnahmezustand und ebnet dem Staat den Weg aus der Antizipationsfalle.
Mit dieser Konsequenz aus der Studie lassen sich auch die Entwicklungen der letzten zwei bis drei Jahre analysieren – womit deutlich wird, dass das Werk von Barczak zwar aktuellen Bezug hat, aber für die Analyse und daraus entwickelte Weiterkonzipierung unseres Staatswesens und seiner Gesetzgebung in allen Bereichen von herausragender Bedeutung ist. Die aktuellen Entwicklungen haben damit das, was Barczak beschreibt und analysiert, bestätigt, was nicht jede wissenschaftliche Arbeit, und noch seltener juristische Studien von sich behaupten können.
Thomas Feltes, Dezember 2022
[1] Das Werk zählt zu den ‚Juristischen Büchern des Jahres 2021‘, die als Leseempfehlung in der JZ 2021, 991 ff. besprochen werden, und selbst in den „Alltagsmedien“ wurde das Werk mit Interesse und Begeisterung aufgenommen und als „Die Studie der Stunde“ (Jochen Zenthöfer FAZ v. 10.8.2020, S.16) bezeichnet – sicherlich auch, aber nicht nur eine Folge des Aktualität des Themas. Und Heribert Prantl hat es als „Klug, aufschlussreich, hellsichtig […] eine meisterhafte Großdarstellung“ bezeichnet (SZ v. 20./21.2.2021, S.6). vgl. auch die Besprechung von Matthias Lemke oder von Jean-Pierre Wils.
[2] Vordergründig deshalb, weil die Risiken, Neben- und Nachwirkungen dieser Pandemie gegenwärtig nicht absehbar sind. Das betrifft nicht nur die aktuelle Überlastung unseres Gesundheitssystems mit Atemwegsinfektionen, die nur indirekt mit Covid zusammenhängen, sondern auch die noch weitgehend unerforschten Auswirkungen der Impfkampagnen auf der einen und der Covid-Erkrankungen auf der anderen Seite.
[3] Vgl. Feltes, Innere Sicherheit in unruhigen Zeiten. Zur sicherheitspolitischen Lage (nicht nur) in Deutschland. In: SIAK-Journal, Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis des Bundesministerium für Inneres, Österreich, Heft 4, 2019.
[5] Vgl. z.B. sein Standardwerk „Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft“ von 2010 oder ders. https://www.pedocs.de/volltexte/2013/6640/pdf/Diskurs_1995_1_Albrecht_Strafe_Praevention.pdf
[7] Vgl. dazu auch meinen Vortrag „Die „German Angst“: Woher kommt sie, wohin führt sie? Warum wir Deutsche uns so unsicher fühlen, obwohl wir in einem der sichersten Länder auf der Welt leben“ in Coesfeld Ende 2019, verfügbar als Videostream hier sowie meinen Beitrag „Die „German Angst“. Woher kommt sie, wohin führt sie? Innere vs. gefühlte Sicherheit. Der Verlust an Vertrauen in Staat und Demokratie“. In: NK 2019, S. 3 ff.
[8] APuZ aaO.
[9] Vgl. die Bochumer Masterarbeit von Stolzenberg, Das Resilienzkonzept und seine Bezüge zur Kriminologie, komplette Arbeit hier verfügbar nach Anforderung eines kostenlosen Zugangscodes unter pdf@felix-verlag.de.