Kulick, Andreas / Goldhammer, Michael (Hrsg.): Der Terrorist als Feind? Rezensiert von Holger Plank

Kulick, Andreas[1] / Goldhammer, Michael[2] (Hrsg.): Der Terrorist als Feind?[3], ISBN: 978-3-16-158983-6, 286 Seiten, Mohr Siebeck-Verlag, Tübingen, 2020, 64.- €, auch als eBook verfügbar.

Der Sammelband vereint die Beiträge der Tagung „Der Terrorist als Feind? Personalisierungstendenzen im Polizei- und Völkerrecht“, die am 03. / 04. Mai 2019 in Köln stattfand und die ein von 2018 – 2019 durch die Fritz Thyssen-Stiftung durch Drittmittel finanziertes gleichnamiges Projekt abschloss. Neben dem Vorwort der Hrsg., einem Geleitwort von Andreas Paulus[4] und einer thematischen Einführung und Einordnung der themengebenden und inhaltlich interdisziplinär orientierten Fragestellung durch die Herausgeber enthält der Band in sechs Kapiteln, gegliedert in die Kategorien

Kap. 2: Der Feind – Theorie des Terrorismus und des Terroristen

Kap. 3: Rechtsstaat und Völkerrecht – der Rahmen der Terrorabwehr

Kap. 4: Wer ist Terrorist?

Kap. 5: Die personale Terror-Prognose

Kap. 6: Erforschung, Überwachung und Eingriff

insgesamt zwölf Beiträge von dreizehn namhaften wissenschaftlichen Autoren (vgl. Inhaltsverzeichnis, Fn. 3).

Das Thema: „Was ist ein Terrorist? Ist er Feind, „enemy combatant“, Störer, Gefährder?“ die damit verbundenen strafprozessualen bzw. gefahrenabwehr­rechtlichen Fragestellungen und die gegen die Betroffenen grds. möglichen weit­reichenden Maßnahmen zieht sich in unterschiedlicher Konnotierung seit den späten 1960er Jahren und dem ersten Brandanschlag der RAF am 02. April 1968 auf ein Kaufhaus in Frankfurt durch die kriminal- und rechtspolitische Diskussion und bildet soit auch den „roten Faden“ des vorliegenden Sammelbandes.

Insbesondere nach den Anschlägen auf das WTC in New York, das Pentagon in Washington und dem Absturz von Flug 93 bei Shanksville (Pennsylvania) vom 11. September 2001 entfaltete es eine bis heute andauernde diskursive und legislative dichotome Dynamik, z. T. geführt nach dem Prinzip „Schwarz – Weiß – ohne die notwendigen und interdisziplinär vielfältigen Grautöne dazwischen“. Obgleich der Begriff „Terrorist“ im Fall von 9/11 ohne jeglichen Zweifel und über alle kulturellen / völkerrechtlichen Schranken hinweg eindeutig erfüllt ist, fällt die transnationale Eingrenzung und eindeutige Zuordnung einer Person zu dieser Kategorie nicht in jedem Fall leicht. Selbst der frühere US-Präsident Ronald Reagan war sich offensichtlich im Einzelfall nicht absolut sicher, worauf das ihm zugeordnete Zitat „One man’s terrorist is another man’s freedomfighter“ hinweist. Völkerrechtlich kann das im Einzelfall schwerwiegende Verwicklungen verursachen, worauf in interdisziplinärer Betrachtung bspw. der rechtstheo­retische Beitrag von Klaus Ferdinand Gärditz, der politik-­ bzw. religions­wissenschaftliche Beitrag von Nahed Samour, die völker- und sicherheitsrecht­liche Perspektive von Tilmann Altwicker oder die rechtskategorialen Beiträge von Tristan Barzcak oder Christina Binder & Verena Jackson in den Kapiteln 2 – 4 des Sammelbandes hinweisen.

Strafrechtstheoretiker wie bspw. Günther Jakobs mit seinen streitbaren Thesen zu einem „Feindstrafrecht“[5]oder politische Entscheidungsträger wie der frühere Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, der in einem Interview mit dem Nach­richtenmagazin Der Spiegel am 08.07.2007 seine Gedanken zu einer Neuver­messung des Sicherheitsrechts, insbesondere auch zur Internierung von Gefähr­dern präzisierte und damit in Gesellschaft und Wissenschaft beachtlichen Wider­stand erzeugte, befeuerten diese nach wie vor z. T. „apodiktisch“ geführte Dis­kussion zum Umfang und Ausmaß der „Staatsaufgabe Sicherheit in Zeiten des Terrorismus“ (vgl. hierzu den Beitrag von Markus Möstl im Sammelband) über die Fachwissenschaft in die breite Öffentlichkeit hinein zusätzlich. Vor allem nach 9/11 veränderten sich Straf- und Polizeirecht auch in Deutschland signi­fikant[6] und ermöglichen seither strafprozessuale Eingriffe z. T. noch weit vor ei­ner Rechtsgutverletzung.[7] Eine trennscharfe Unterscheidung zwischen der An­wendung von Strafprozessrecht auf der Grundlage des zwingend notwendigen (einfachen) Anfangsverdachts (§ 152 Abs. 2 StPO) auf eine strafbare Handlung und modifizierten, sehr weitreichenden informationellen aber auch operativen Gefahrenerforschungseingriffen im Straftatenvorfeld auf der Grundlage föderal unterschiedlich ausgestalteten Länderpolizeirechts und eines sicherheitsbehörd­lich (nicht legal!) definierten „Gefährderbegriffs“[8] (vgl. hierzu die Beiträge von Matthias Bäcker und Andrea Kießling im Sammelband) ist aktuell kaum mehr möglich. Nicht mehr nur vereinzelt wird diese Vorverlagerung staatlicher Ein­griffe und eine damit zutage tretende „Vernachrichtendienstlichung der Polizei“ kritisch moniert, worauf Benjamin Rusteberg hinweist und bspw. ein „neues Trennungsgebot“ fordert. Die sicherheitsrechtliche Dogmatik bedarf generell und im speziellen Fokus des Sammelbandes heute unter den Bedingungen einer mo­dernen, digitalisierten Informationsgesellschaft noch viel intensiver einer stän­digen Austarierung im sensiblen Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit, was u. a. gerade in jüngster Vergangenheit auch die Anzahl höchstrichterlicher Entscheidung in diesem Kontext belegt.

Die Auseinandersetzung mit der „Gefährderthematik“ und ihren umfänglich notwendigen prognostischen Elementen ist, obwohl die Beiträge des Sam­melbandes bereits vor mehr drei Jahren zusammengetragen wurden, nach wie vor hochaktuell und hat nichts von ihrer dogmatischen Brisanz verloren. Bei den Po­lizeibehörden des Bundes und der Länder haben sich inzwischen flächendeckend institutionelle „Zirkel“ gebildet, die sich im Alltag intensiv mit den Themen Risiko- / Bedrohungs- und Gefährdermanagement beschäftigen, ohne dass diese Begriffe im Einzelfall zwingend kategoriale Rahmensetzungen / Begrenzungen voraussetzen. Das ist je nach Themenstellung und Gefahrenprognose einerseits zu begrüßen, kann andererseits aber im Einzelfall auch zu einer Stigmatisierung Betroffener, begleitet von schwerwiegenden Eingriffen in die individuelle Frei­heit führen. Die Sicherheitsbehörden stehen beim Themenfeld „Predictive Po­licing“ (vgl. hierzu bspw. den Beitrag von Thomas Wischmeyer im Sammelband), das derzeit in Deutschland noch nahezu ausschließlich raumbezogene Daten analytisch nutzt, inzwischen jedenfalls diskursiv an der Schwelle der Nutzung künstlicher Intelligenz zur Vorhersage personenbezogener Gefährdungspo­tenziale. Eine umfassende rechtsethische Diskussion hierzu steht noch aus!

Man darf den Herausgebern danken, dass sie dieses in oben skizzierter Arrondierung und vor dem Hintergrund eines aktuell weltpolitisch deutlich ausgeprägten „Freund-Feind-Schemas“, welches wir seit dem Ende des „kalten Krieges“ in der Intensität nicht mehr erlebt haben, sicher dauerhaft bedeutsame Thema auf die Agenda gesetzt und mit dem Sammelband ein diskursives Zeichen gesetzt haben. Man darf annehmen, dass die (erweiterte) Themenstellung in allen ihren bekannten und auch relativ neuen Schattierungen, man denke nur an die jüngst bekannt gewordenen Umsturzpläne von Teilen der „Reichsbürger­bewegung“ und ihrer in der Folge medial höchst unterschiedlichen Konnotierung, noch sehr lange die interdisziplinäre wissenschaftliche, kriminal- und gesellschaftspolitische Dis­kussion rund um den Begriff „wehrhafte Demokratie“ und dessen rechtspolitische Konsequenzen begleiten wird.

Holger Plank (im Dezember 2022)

[1] PD Dr. iur. Andreas Kulick, LL.M. (NYU), Universität Tübingen, z. Zt. als Lehrstuhlvertreter für Öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte, Rechts- und Staatsphilosophie an der Universität Greifswald, Kurzvita.

[2] Prof. Dr. iur. Michael Goldhammer, LL.M, Lehrstuhl für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Verwaltungsrecht sowie Rechtsvergleichung und Rechtsphilosophie an der EBS Law School in Wiesbaden, Kurzvita..

[3] Siehe Verlags-Website von Mohr Siebeck, inkl. Inhaltsverzeichnis.

[4] Prof. Dr. iur. Andreas Paulus, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht an der Georg-August-Universität in Göttingen.

[5] Erstmals 1985 in einem Beitrag für die ZStW (97), S. 751 ff., „Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutverletzung“ entwickelt und in den Jahren 2000 („Das Selbstverständnis der Strafrechtswissenschaft vor den Herausforderungen der Gegenwart“, in: Eser, Hassemer, Burkhardt (Hrsg.), „Die dt. Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende – Rückbesinnung und Ausblick“, S. 47-56), 2004 („Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht“, in HRRS, S. 88 ff.), 2006 („Feindstrafrecht? Eine Untersuchung zu den Bedingungen von Rechtlichkeit“, in HRRS, S. 289 ff.); vgl. auch den Sammelband mit mehr als 30 Aufsätzen von Jakobs, hrsg. von Michael Pawlik, „Strafrechtswissenschaftliche Beiträge. Zu den Grundlagen des Strafrechts und zur Zurechnungslehre“, bei Mohr Siebeck, 2017.

[6] Vgl. z. B. nur den „Bericht der Regierungskommission zur Überprüfung der Sicherheitsgesetz­gebung in Deutschland vom 28.08.2013“; Deutscher Bundestag, WD 3 – 3000 – 037/17 vom 16.02.2017, „Maßnahmen des Bundes zur Terrorismusbekämpfung seit 2001 – Gesetzgebung und Evaluierung“; Deutscher Bundestag, 05.11.2020, „Entfristung der Vorschriften zur Terrorismusbekämpfung beschlossen“.

[7] Nach dem Urteil des BVerfG zum BKAG vom 20.04.2016 (1 BvR 966/09) wurde die Polizeirechtsdogmatik bspw. um den interpretationsbedürftigen Begriff der „drohenden Gefahr“ als (neue?) Eingriffsschwelle erweitert.

[8] Zur Entwicklung und Anwendung des (im Rahmen der AG Kripo, der „Arbeitsgemeinschaft der Leiter es Bundes- und der Landeskriminalämter“ im Jahr 2004 definierten) Begriffs vgl. bspw. nur Hanschmann, „Gefährder – eine neue alte Figur im Öffentlichen Recht“, in: KJ (50) 2017, H. 4, S. 434 ff.; vgl. hierzu auch die personalen Ausführungen im Urteil des BVerfG vom 20.04.2016 (oben Fn. 7), dort Rn. 112.