Eisenberg/Kölbel, Jugendgerichtsgesetz (Kommentar), 23. Aufl., rezensiert von Thomas Feltes

Ulrich Eisenberg, Ralf Kölbel, Jugendgerichtsgesetz, C.H. Beck, 23., von Ralf Kölbel neu bearbeitete Auflage des von Ulrich Eisenberg begründeten und bis zur 20. Auflage bearbeiteten Werkes, München 2022, XLVI, 1642 S., 119- Euro, ISBN 978-3-406-78379-1.

Nur ein Jahr nach der 22. Auflage ist Anfang 2022 die 23. Auflage dieses Standardwerkes zum Jugendstrafrecht erschienen. Wie immer sind bis dahin veröffentliche Judikatur und Literatur, aber auch die aktuellen rechtspolitischen Vorgänge berücksichtigt worden. Jugendstrafrechtlich relevante Gesetzesänderungen, wie sie etwa durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz, das Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder sowie das Gesetz zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften vorgenommen wurden, haben ausnahmslos Eingang in die vorliegenden Erläuterungen gefunden.

Außerdem ist die umfassende Neubearbeitung des Kommentars, die durch den Wechsel des Bearbeiters nach der 20. Auflage ausgelöst wurde, seit der Vorauflage weiter vorangeschritten. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass sich in dem Werk eine neue Einleitung und stark veränderte Kommentierungen bei zahlreichen Regelungen finden.

Berücksichtigt sind in der Neuauflage alle Gesetzesänderungen sowie aktuelle Rechtsprechung bis Anfang 2022, u.a.: Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts v. 4.5.2021, Kinder- und JugendstärkungsG v. 3.6.2021, Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder v. 16.6.2021, Gesetz zur Fortentwicklung der StPO und zur Änd. weiterer Vorschriften v. 25.6.2021.

Ungeachtet dessen wird die stringend-kritische Linie des Kommentars weiter beibehalten, was gut und wichtig ist, denn das Jugendgerichtsgesetz bekommt nicht zuletzt aufgrund deutlich rückläufiger Kriminalitätszahlen der entsprechenden Altersgruppen immer weniger Aufmerksamkeit. So ist die zahl der verurteilten Jugendlichen zwischen 2010 und 2020 von über 55.000 auf unter 25.000 zurückgegangen, die der Heranwachsenden von rund 80.000 auf 45.000 (s. Abb.) (Quelle).

In Bezug auf die als Tatverdächtigenbelastungsziffer ist der Rückgang sogar zumindest bis 2015 noch deutlicher, danach steig die Zahl bei den 14-18-Jährigen wieder an, um zuletzt (2020) wieder zurückzugehen (s. Abb.) (Quelle).

Dennoch ist jedes ermittlungs- und Strafverfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende eine besondere Herausforderung für alle Beteiligten – aus verschiedenen Gründen. Dies trifft besonders für Strafverteidiger zu, deren Rechte zwar in den vergangenen Jahren im Ermittlungsverfahren (auch bei Jugendlichen) erweitert wurden. Kölbel stellt diese Problematik bspw. in der Kommentierung zu § 43 JGG (Umfang der Ermittlungen) dar:

„Die Erfordernisse der Vorschrift stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis zum jugendstrafrechtlichen Beschleunigungsprinzip, dessen erzieherische Berechtigung va auf der Verkürzung verfahrensbedingter Belastungen für den Beschuldigten beruht …. Das macht eine zügige Vornahme der notwendigen Informations-, Ermittlungs- und Berichtshandlungen notwendig …. Auch kann auf besonders zeitraubende Nachforschungen, deren Erkenntnisgewinn nicht absehbar substanziell ist, ggf. verzichtet werden. Unter Berücksichtigung des Grades bestehender Verfahrensbelastungen (zB U-Haft ja oder nein), muss hierbei stets ein angemessenes Verhältnis von absehbarem (Zeit-)Aufwand und (Informations-)Nutzen gefunden werden. Dabei spricht der sich abzeichnende Bedarf an einer persönlichkeitsadäquaten Intervention durch eine besonders geeignete Rechtsfolge für die Informationserhebung und gegen eine abgekürzte Ermittlung. Aus diesem Grund ist eine Anklageerhebung vor Abschluss der personenbezogenen Ermittlungen nicht unbedenklich … Informationserhebungen, die gem. § 43 in Umsetzung der besonderen Aufklärungspflicht erfolgen, finden im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine übergreifende Zulässigkeitsgrenze. Speziell für die Untersuchung des Jugendlichen wird diese verfassungsrechtliche Eingriffsbeschränkung sogar in Abs. 2 S. 1 knapp repliziert („soweit erforderlich“). Ausmaß und Intensität der Ermittlungen dürfen aber auch iRv Abs. 1 nicht über das hinausgehen, was bezogen auf den Ermittlungszweck notwendig und angemessen ist. … Insbes. dürfen die Ermittlungen nur so lange geführt werden, wie angesichts der Tat überhaupt mit einer Maßnahme und (noch) nicht mit einer Einstellung gem. § 45 oder gem. §§ 153, 170 Abs. 2 StPO zu rechnen ist. Unabhängig von der grundrechtlichen Zwangsläufigkeit solcher Konsequenzen entsprechen diese auch dem erzieherischen Anliegen, da Jugendliche für die Proportionalität staatlicher Reaktionen auf ihr Verhalten durchaus sensibel sein dürften“.

Auch zum Bereich der Vernehmung des Beschuldigten Jugendlichen oder Heranwachsenden (§ 70 c JGG, Rdnr. 24, 25) kommentiert Kölbel sachlich-distanziert und gleichermaßen Kritik implizierend. Hier wie an anderen Stellen in der Kommentierung hätte man sich eine etwas pointiertere, klarer die Recht des Jugendlichen hervorhebende und polizei-kritischere Darstellung gewünscht, denn letztlich werden es (zumindest im Ermittlungs- und Vorverfahren) vor allem Strafverteidiger sein, die zu diesem Kommentar greifen.

Dies trübt den positiven Gesamteindruck aber nur bedingt, sollte aber bei einer Neuauflage ebenso Beachtung finden wie eine intensivere Beschäftigung mit den Vorgaben der Anti-Folter-Kommission des Europarates zur Situation bei Verhaftungen, Vernehmungen und der Unterbringung von Jugendlichen im Polizeigewahrsam, auf die Kölbel nur an zwei Stellen knapp eingeht. „Im Polizeigewahrsam sind einschneidende Maßnahmen (zB Fixierung) bei Jugendlichen und Heranwachsenden unzulässig. Die Ausstattung der Hafträume (mindestens Matratzen) muss den Schutzpflichten ggü. Jugendlichen genügen (vgl. zum Ganzen etwa Bericht Europarat CPT//Inf (2017) 13, v. 1.6.2017)“ (§ 2, Rdr. 40). Dies gilt vor allem, weil es dazu ein eigenes Dokument der Anti-Folter-Kommission des Europarates gibt, das u.a. folgende Schutzvorkehrungen fordert:

„Die Polizeibeamten sollten formell verpflichtet sein, selbst sicherzustellen, dass ein Verwandter oder eine andere erwachsene Person, welcher der Jugendliche vertraut, über die Tatsache unterrichtet wird, dass dieser festgenommen worden ist (ungeachtet der Frage, ob der Jugendliche darum ersucht hat oder nicht). Ein festgenommener Jugendlicher sollte niemals einem Polizeiverhör unterzogen oder aufgefordert werden, eine Aussage zu machen oder ein Dokument zu unterschreiben, im Hinblick auf die Straftat(en), die man ihm vorwirft, ohne die Anwesenheit eines Anwalts und, prinzipiell, einer vertrauten erwachsenen Person (die Option „wünscht keinen Anwalt“ sollte auf Jugendliche keine Anwendung finden). Allen festgenommenen Jugendlichen sollte unmittelbar nach der Ankunft in einer Polizeieinrichtung ein spezielles Informationsblatt über die oben genannten Schutzvorkehrungen ausgehändigt werden. Das Informationsblatt muss kindgerecht und in einer leichtverständlichen und klaren Sprache verfasst sein und in mehreren Sprachen zur Verfügung stehen. Es sollte insbesondere sichergestellt werden, dass die Jugendlichen die Informationen vollständig verstanden haben“. (Quelle: aaO.)

Es bleiben aber die durchgängig strenge Systematik, differenzierte Untergliederungen und vorbildlich klare Darstellungsweise sowie die umfassende Auswertung der gesamten Judikatur – sieht man von Urteilen es Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ab.

Das Werk wendet sich an Jugendrichterinnen und -richter, Jugendstaatsanwaltschaft, Strafverteidigung sowie Mitarbeitende im Jugendstrafvollzug, bei den Jugendämtern, der Jugendgerichtshilfe und der Bewährungshilfe, Polizei und Kripo sowie Psychologinnen und Psychologen sowie Psychiaterinnen und Psychiater. In der Besprechung der 2021 erschienenen 22. Auflage des Werkes hat Holger Plank festgestellt: „Der „Eisenberg / Kölbel“ ist und bleibt ein „schnörkelloses“, damit ebenso griffiges wie auch praxisgerecht aufgebautes und gestaltetes Nachschlagewerk“. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Thomas Feltes, Dezember 2022