Hilbert, Patrick / Rauber, Jochen: Warum befolgen wir Recht? Rezensiert von Holger Plank

Hilbert, Patrick[1] / Rauber, Jochen[2]: „Warum befolgen wir Recht?“ [3], ISBN: 978-3-16-156636-3, 302 Seiten, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen, 2019, 74.- €.

Der Sammelband enthält neben der Einführung der Hrsg. zehn Beiträge, die aus einer „unter dem Dach“ des 1986 gegründeten interdisziplinären Internationalen Wissenschaftsforums der Universität Heidelberg (IWH) Veranstaltung im März 2018[4] hervorgingen. Gegliedert ist der Band in die vier Kapitel: Interdisziplinäre Grundlagen, Rechtsbefolgung jenseits des Staates, Juristische Perspektiven und Ansätze zur Effektuierung der Rechtsbefolgung.

Die Erstausgabe des Bandes liegt zwar bereits drei Jahre zurück, das übergreifende Thema ist und bleibt jedoch hochaktuell. Gerade wenn man auch Aspekte der Normenakzeptanz im digitalen Raum[5] und deren kriminologisch-sozialwissenschaft­liche Komponenten / Implikationen, z. B. im Zusammenhang mit dem kriminal- und gesellschaftspolitisch aktuell bedeutsamen Phänomen Hate Speech, die in dem Sammelband allerdings nicht explizit behandelt werden, berücksichtigt, wird deutlich, dass die theoretischen Maßstäbe in diesem Kontext ggf. einer Modifizierung bedürfen. Eben bei diesem hochaktuellen Thema wird das übergreifende Tagungsmotto, dass „Rechts­ordnungen auf freiwillige Rechtsbefolgung angewiesen“ sind, in besonderer Weise theoretisch und rechtstatsächlich offenbar. „Die zwangsweise Durchsetzung rechtlicher Vorgaben in allen oder auch nur den meisten Fällen ist (vor allem im digitalen Raum, aber auch rechtstatsächlich analog) weder leistbar noch (rechtsdogmatisch) wünschens­wert.“ Wie schon Popitz (vgl. Fn. 5) anführte, und worauf die Hrsg. einleitend auch reflektieren (S. 2) ist „Recht als normative Praxis ohne die Möglichkeit seiner Ver­letzung nicht zu denken“. Kelsen verdeutlicht dies in seiner Abhandlung zum Wesen des Staates mit der Feststellung, „(…) die Ordnung muss verletzt werden können, weil sie sonst überhaupt nicht den Charakter einer normativen Ordnung hat.“ Mit der Norm ist also stets auch die Abweichung gesetzt![6] Darauf hat der Normgeber stets zu achten und ihm ist daher nur dringend anzuraten, sich im legislativen Prozess bei aller Dringlichkeit im Einzelfall stets auf interdisziplinäre wissenschaftliche Beratung (und Evaluation) einzulassen, die nicht nur als gutachtliches Feigenblatt im kriminalpolitischen Rechtsetzungsprozess angelegt sein darf. Schließlich kann die normsetzende Instanz die Rechtbefolgung stets auch erzwingen (Hrsg., S. 3), was in punkto Normakzeptanz und -treue für den Gesetzgeber und auch die Exekutive hohe Hürden setzt.

 

„Die Gründe und Umstände, von denen die Bereitschaft abhängt, sein Verhalten am Recht auszurichten, werden (aber) bislang in Soziologie, Psychologie, Ökonomie und Philosophie weitgehend getrennt voneinander untersucht und von der Rechts­wissenschaft kaum beachtet“, weshalb im „interdisziplinären Austausch nicht nur Gemeinsamkeiten und Differenzen in den jeweiligen Forschungen offengelegt werden, sondern die erarbeiteten Erkenntnisse auch füreinander verfügbar gemacht werden sollen“, so die Veranstalter und Hrsg. in ihrer Tagungsbeschreibung. Diese Zusam­menführung verdichtet letztlich auch den theoretischen Nutzen der Erkenntnisse und in der Folge dann ggf. auch die Prüfung der empirischen Relevanz im Feld. „Denn selbst – oder vielleicht gerade – in Situationen, in denen wir das Recht wie selbstverständlich einhalten oder brechen, versteht sich keinesfalls von selbst, warum. Ist es Gewohnheit oder ökonomisches Kalkül, Überzeugung oder doch der Versuch, das eigene Selbstbild nicht zu erschüttern? Einfache, insbesondere monokausale Antwortversuche bleiben dabei meist angreifbar. Insbesondere die Angst vor (staatlichem) Zwang bzw. Sanktionen bei Rechtsverstößen wurde schon sehr früh als alleiniges Motiv der Rechtsbefolgung zurückgewiesen.“[7] Allerdings weisen die Hrsg. auch darauf hin, dass der Begriff der „Befolgung“ durchaus interpretationsbedürftig ist, jedenfalls dann, wenn sich Normen nicht mehr dem Nukleus allgemeinen (Un-)Rechtsempfindens zuordnen lassen. Insofern verknüpft dieser Begriff Verhaltens- und Normwissenschaften (S.15) miteinander. Das ist legislativ durchaus bedeutsam, da die Einbettung sozial- und verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse stets normativ eingebettet werden muss und damit insbesondere unter dem Vorbehalt der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit steht (S. 19).

 

Die Interdisziplinarität der Beiträge rund um die nicht ganz einfach Ausgangsfrage erstreckt sich daher folgerichtig unter breiter Klammer über die „Psychologie der Steuerehrlichkeit“ (Katharina Gangl) bzw. „Psychologische Erklärungen staatlichen Rechtshandelns“ (Cornelia Frank), die „Rechtsbefolgung aus ökonomischer … Johannes Paha)“, „soziologischer …“ (Doris Mathilde Lucke), „moralischer … (Peter Rinderle) oder „völkerrechtlicher Perspektive“ (Anne von Aaken). Sie skizziert mit Beiträgen von Andreas Funke und Jan Hendrik Klement einen engeren juristischen Fokus und greift abschließend mit einem verhaltenswissenschaftlichen Beitrag von Johanna Wolff  und einem interdisziplinären Schlussstein von Armin Steinbach einige vereinigende „Ansätze zur Effektuierung der Rechtsbefolgung“ auf.

 

Blickt man mit dem Okular einer „Gesamten Strafrechts­wissenschaft“ auf die ansehnliche Bandbreite der Beiträge in dem Sammelband, fehlt vielleicht noch eine zusätzliche, übergreifende theoretische kriminologische Per­spektive als Arrondierung, geht es doch mittelbar auch um „Abweichung“ respektive „Nichtbefolgung“ von geschriebenen Regeln als soziales gesellschaftliches Konstrukt. „Normen“, so Steinbach (S. 294), sind (nämlich auch) „Medium zur Steuerung men­schlichen Verhaltens. Sie entfalten ihre Wirkkraft erst durch tatsächliches Verhalten. Zwischen Normsetzung und Normbefolgung liegt eine Wirkungskette: Normen werden gesetzt, kommuniziert, anschließend kognitiv verarbeitet und schließlich folgt eine Normbefolgungsentscheidung des Individuums.  Die verschiedenen Abschnitte bilden Gegenstand sowohl normativer Erwartungen als auch empirischer Evidenz – das schafft multi-disziplinäre analytische Zugänge“, womit man sich im Nukleus kriminologischer Empirie, sowohl auf grundlagentheoretischer als auch auf affektiver / konativer Ebene befindet.[8]

 

Der Sammelband ist auch ein interessanter und zeitloser inter­disziplinärer Beitrag zur Rechtsethik und -philosophie. Die inhaltliche Vielfalt der durchgängig gut lesbaren und mit reichhaltigen Quellen versehenen Beiträge und die Formgebung und innere Schlüssigkeit des Bandes spiegeln das Menschenbild des Grundgesetzes sowie den Wertepluralismus unserer Gesellschaft und die beide Pfeiler umfließende gesamte Rechtsordnung in wesentlichen Teilen und in ihrer Komplexität wider und zeigen so auch wesentliche Implikationen eines (zu) engen Verständnisses der Begriffe „Gehorsam“, „Normenakzeptanz“ und „-treue“ auf. Ich werde schon deshalb den Sammelband immer wieder einmal als Nachschlagewerk in der heimischen Bibliothek nutzen und mich bei der Beurteilung der jeweils zugrunde liegenden Fragestellung von den Beiträgen inspirieren lassen.

 

 

 

Holger Plank

im Dezember 2022

[1] Prof. Dr. iur. Patrick Hilbert, Institut für Umwelt- und Planungsrecht an der WWU Münster, Kurzvita.

[2] Dr. iur. Jochen Rauber, Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Internationales Öffentliches Recht, Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosophie von Prof. Dr. Bernd Grzeszick, LL. M. an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg.

[3] Siehe Website des Verlags nebst Inhaltsverzeichnis des Sammelbandes.

[4] Tagungsbericht von Prof. em. Dr. Klaus F. Röhl, RUB, vom 02.04.2018

[5] Aus soziologischer, anomietheoretischer Perspektive erscheint mir diesbezüglich vor allem die der Popitz‘schen Ansatz der „Präventivwirkung des Nichtwissens“ und seine Übertragbarkeit in den digitalen Kontext (vgl. hierzu bspw. Plank, 2022, zugegriffen: 19.12.2022; eine Kurzfassung des Online-Beitrags ist erschienen in Feltes / Klaas / Thüne (Hrsg.), 2022, „Digitale Polizei: Aktuelle Einsatzfelder, Potenziale, Grenzen und Missstände“, Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft) interessant.

[6] Bröckling, in: Disziplin, 1997, S. 11.

[7] So die Hrsg. (S. 3) mit Verweis auf Jellineks Allgemeine Staatslehre aus dem Jahr 1914, dort S. 335.

[8] Eine sehr aktuelle konative Komponente des Themas ist z. B. der Effekt der „Verhaltensbeeinflussung durch Beobachtung?“, den ganz aktuell (2022) ein interdisziplinäres Forscherteam im Auftrag des Nationalen Forschungszentrums für angewandte Cybersicherheit („Athene“) im Rahmen einer explorativen Nutzerbefragung zu den Auswirkungen verschiedener Beobachtungssituationen untersucht hat.