Hoppe, Amina, Gebundene Freiheit und strafrechtliche Schuld. Rezensiert von Holger Plank

Hoppe, Amina (geb. Hallmann)[1], Gebundene Freiheit und strafrechtliche Schuld. Zur Reformbedürftigkeit des Schuldbegriffs vor dem Hintergrund neurowissenschaftlicher Erkenntnisse[2], ISBN: 978-3-16-7155386-8, 183 Seiten, Mohr Siebeck, Tübingen, 2017, 59.- €.

Die Autorin setzt sich in ihrer an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena an­genommenen Dissertation mit dem „Aussageverhalten der neurowissenschaftlichen Forschung“[3] und möglichen Wirkungen dieser Forschungserkenntnisse auf die Straf­rechtswissenschaft, insbesondere auf den Schuldbegriff als Grundlage strafrechtlicher Zurechnung auseinander. Sie behandelt damit Fragen, die, würde man den Nachweis des Experiments des US-Psychologen Benjamin Libet aus dem Jahr 1979 inzwischen durch die neuen bildgebenden Verfahren („Neuroimaging“, u. a. MRT, fMRT und PET, haben dabei mit ihren grafischen Belegen eine hohe Überzeugungswirkung) als absolut gegeben annehmen, von existentieller rechtsdogmatischer Bedeutung – nicht nur für die Strafrechtswissenschaft – sind.

Libet zeigte damals experimentell, dass das motorische Zentrum des Gehirns mit der Vorbereitung einer Bewegung bereits begonnen hat, bevor man sich bewusst wird, dass man sich für die sofortige Ausführung dieser Bewegung entschieden hat. Mit der methodischen Verfeinerung der Neurowissenschaften in den letzten 20 Jahren hat dieses einfache Experiment und dessen Konsequenzen auf das Determinismus-Dogma[4] (Schuldstrafrecht basiert auf der Annahme der Willensfreiheit – ohne dieses Dogma ist „rationales, schuldabhängiges Strafen“ nicht denkbar[5]) zu vielen interdisziplinären Hochschulschriften und wiss. Veröffentlichungen mit unter­schiedlicher dogmatischer / empirischer Schwerpunktsetzung geführt.[6] Die Spannbreite der im jeweiligen Fachgebiet experimentell bzw. dogmatisch unterschiedlich über­zeugend dargelegten Standpunkte reicht von „Als Mörder geboren (…)“[7]über die bspw. von Wetzell vorgetragene grundlegende Kritik neurowissenschaftlicher Anleihen in die Strafrechtswissenschaft: „Die grundsätzliche Kritik aus der Perspektive des De­terminismus, dass alle menschlichen Handlungen das zwangsläufige Resultat von inne­ren und äußeren Kausalfaktoren sind und es somit keine Willensfreiheit gibt, hat ein lange Geschichte und ist nicht an neurowissenschaftliche Erklärungsmuster gebunden“[8], bis hin zum wertenden Zitat des früheren Richters am Bundesverfassungsgericht Ernst Gottfried Mahrenholz[9], dass „Straftaten zumeist komplexere Handlungsverläufe sind, die einen entsprechend nachhaltigeren Prozess der (Willens-) Entscheidung zum straf­rechtlich zurechenbaren Fehlverhalten erforderten.“

Innerhalb dieser Spannbreite und zwischen den jeweiligen „extremen“ Ankerpunkten lässt die vorläufige Feststellung, die man literaturgestützt als derzeitigen wiss. Zwi­schenstand skizzieren kann, nämlich dass auch „neuere Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften den (In-)Determinismus nicht bewiesen haben, sodass weiterhin sowohl Indeterminismus als auch Determinismus in Bezug auf die menschliche Entscheidung möglich bleiben“[10] und damit Raum für weitere neurowissenschaftliche und biokriminologische Forschung, die Sammlung weiterer experimenteller Erkennt­nisse und die Fortentwicklung der Strafrechtsdogmatik bleibt, die diese Erkenntnisse ggf. im Strafzweckgedanken verarbeiten helfen.

Die Autorin stellt sich in ihrer interdisziplinären juristischen Arbeit mit philosophischen und neurowissenschaftlichen Bezügen die Forschungsfragen: „Wer kann was wozu sagen und beitragen? Welches Schuldverständnis hat das Strafrecht überhaupt? Dürfen wir unsere gefühlte und sozial bestätigte Freiheit überhaupt zur Grundlage der straf­rechtlichen Schuld machen? Was bedeutet das für die Gerichte?“

Hierbei unternimmt sie den Versuch, dasjenige, was (dogmatisch) als Schuld[11] benannt wird, in Begriffe und Strukturen zu übersetzen, die für die angesprochene Debatte genutzt werden können und erarbeitet Ansätze auf die Folgefragen: Wozu wird der Schuldbegriff überhaupt benötigt? Was bedeutet es, wenn ein Täter „schuldig“ ist und wie wirkt sich dies auf die Strafzumessung aus?

Die alles überlagernde Frage ist dabei, inwieweit die Begriffe durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften Veränderungen erfahren müssen, zeigt sich hierbei doch unsere allge­meine Skepsis gegenüber der immer weitergehenden Erforschung des Gehirns, denn mit jeder neuen Erkenntnis der Neurowissenschaft nimmt die vermeintliche Freiheit und Selbstbestimmtheit ab und mit der Annahme des Indeterminismus schrumpft der eigene Verhaltensspielraum (S. 4). Insofern ist die methodisch anspruchsvolle, interessante inter­disziplinäre Arbeit im Themenfeld einer „Gesamten Strafrechtswissenschaft“ im Liszt’schen Ansatz einzuordnen. Die Autorin versucht sich als Juristin und Kriminologin an der schwierigen Aufgabe, Dogmatik und Empirie zu vereinen. Ein kompliziertes, wenngleich zur Fortentwicklung der Strafrechtsdogmatik dringend gebotenes Unterfangen.

Sie bewegt sich mit ihrer titelgebenden Annahme einer „gebundenen Freiheit“, den sie in ihrer „wissenschaftstheoretischen Grundlegung“ (Teil „C“) entfaltet, grds. auf dem Pfad von Brökers, wenngleich sie sich auch für den Gedanken einer neurobiologischen Determiniertheit des Handelns offen zeigt (S. 87). Gleichwohl schränkt sie später partiell ein und stellt fest (S. 160), dass „eine vollständige Erklärung des Verhaltens praktisch nicht möglich sei und nicht alle Determinanten des Verhaltens einzeln und in ihren komplexen Zusammenhängen bewertet werden können, weshalb in der straf­rechtlichen Praxis der umgekehrte Weg gewählt und in begründeten Fällen die Schuld ausgeschlossen werden“ müsse. Als Grundlage für ihre Schlussfolgerungen entwickelt sie argumentativ den Begriff des „epistemischen Indeterminismus“ (S. 50 f.) und versucht unter Rezeption verschiedener neurowissenschaftlicher und juristischer Argumentationen in der Fachliteratur mit diesem Muster den „logischen Kurzschluss von der neuronalen Determiniertheit zu einer unfreien Entscheidung“ zu vermeiden. Die hohe Komplexität des menschlichen Geistes- und Soziallebens sei mit den heutigen Messmethoden nicht abbildbar und für den Einzelnen auch nicht erkennbar (ebd.). Es komme jedoch „im Rahmen des „epistemischen Indeterminismus“ aufgrund der nicht nachvollziehbaren und auch nicht vollständig erfassbaren Zusammenhänge auf der sozialen Ebene zu Freiheit“ (ebd.). Mit diesem Konzept der Möglichkeit „gebunden-freier Entscheidungen“ (begriffliche Entfaltung im Teil „E“ der Arbeit) sei ein „Anders-Handeln-Können in einem dem Strafrecht entsprechenden, sozialen Sinne möglich, auch wenn möglicherweise in Hinblick auf den Schuldbegriff in Einzelheiten An­passungen nötig werden“ könnten (S. 89). Im Übrigen bedürfe das Konzept des „epistemischen Indeterminismus zwingend normativ-wertender Begriffe, um adäquate Beschreibungen der sozialen Phänomene zu ermöglichen“ (S. 159).

Mit den Ergebnissen dieser interessanten, methodisch anspruchsvoll das strafrechtliche Prinzip der Zurechenbarkeit individueller „Schuld“ in ihren unterschiedlichen dog­matischen Ausprägungen und der Präzisierung einer darauf basierenden „gerechten Strafe“ skizzierenden Arbeit über die Begrifflichkeiten des „epistemischen Indeter­minismus“ und der „gebunden-freien Entscheidung“ lässt sich festhalten, dass „neue Erkenntnisse etwa der Neurowissenschaften nicht vorschnell zu einer Qualifizierung einer Tat als unfrei und damit nicht vorwerfbar  führen  sollten,  sondern  vielmehr  für  jede  mögliche identifizierte Determinante  überprüft  werden  muss,  wie  stark  der  entsprechende Einfluss auf das Verhalten ist und inwieweit daher eine Verant­wortlichmachung möglich und sinnvoll erscheint.“

Diese Feststellung kann aber dogmatisch vor dem Hintergrund dynamisch fort­schreitender neurophysiologischer und -biologischer Forschung wohl nur ein Zwischenergebnis darstellen. Man darf gespannt sein, ob sich im Lichte neuerer experimenteller empirischer Erkenntnisse die dogmatischen Brücken auch zukünftig als tragfähig erweisen oder die Strafrechtsdogmatik innerhalb der individuell schuldab­hängigen Strafzwecksystematik gezwungen sein wird, andere Akzente zu entwickeln.

Holger Plank (im Dezember 2022)

[1] Dr. iur. Amina Hoppe (geb. Hallmann), Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kriminologie der Universität Köln.

[2] Siehe Verlags-Website von Mohr-Siebeck; Inhaltsverzeichnis.

[3] Hierzu veröffentlichte sie im Vorfeld ihrer Dissertation auch einen Beitrag in der Zeitschrift Neue Kriminalpolitik (NK), 2017 (29), H. 1, S. 3-14 unter dem Titel: „Wie ernst muss die Kriminologie die Neurowissenschaften nehmen? Zum möglichen Aufkommen einer neuen Biokriminologie.

[4] Der Gedanke des Schuldstrafrechts basiert auf der Annahme der Willensfreiheit, vgl. hierzu z. B. Marlie, ZJS 2008, Heft 1, S. 41 ff.

[5] Vgl. hierzu bereits 1971 (!) sehr lesenswert Hoerster, in: Archiv für Rechts- und Sozial­philosophie, Vol. 57 Nr. 1, S. 77-90.

[6] Vgl. bspw. nur Spilgies, 2004, „Die Bedeutung des Determinismus-Indeterminismus-Streits für das Strafrecht“; Stompe & Schanda (Hrsg.), 2010, „Der freie Wille und die Schuldfähigkeit in Recht, Psychiatrie und Neurowissenschaften“; Bröckers, 2015, „Strafrechtliche Verant­wortung ohne Willensfreiheit“; Adrian Raine, 2015, „Als Mörder geboren. Die biologischen Wurzeln von Gewalt und Verbrechen“ (vgl. Besprechung von Plank im PNL – Raine vertritt diesen Standpunkt nicht wirklich!); Hillenkamp, „Hirnforschung, Willensfreiheit und Strafrecht. Versuch einer Zwischen­bilanz“, in: ZStW 2015 (127), H. 1, S. 10 – 96; von der Heydt, 2017, „Perspektivität von Freiheit und Determinismus“; Mosch, 2018, „Schuld, Verantwortung und Determinismus im Strafrecht. Eine Grundlegung unter Bezugnahme auf die Neurowissenschaften“ etc.

[7] Vgl. Raine, 2015, Fn. 6.

[8]Wetzell, „Neurowissenschaften, Willensfreiheit und Kriminalität“, 2013, zugegriffen: 19.12.2022.

[9] In der Zeitschrift „myops. Berichte aus der Welt des Rechts“, 2013, Heft 17, S. 5-11.

[10] Bröckers, 2015, oben Fn. 6.

[11] Hierzu trennt sie in ihrem methodischen Ansatz der Fundierung des Schuldkonzepts den Begriff und die hieraus erwachsenden Konsequenzen in den schuldstrafrechts­theoretischen Hauptteilen „D-G“ der Arbeit in das allgemeine Schuldprinzip, den individuellen Schuldvorwurf und die Strafzumessungs­schuld auf und macht ihn so für ihre Forschungsfragen und Schlussfolgerungen (S. 159 ff.) zugänglich.