Johannes Makepeace, Der Polygraph als Entlastungsbeweis. Rezensiert von Thomas Feltes

Johannes Makepeace, Der Polygraph als Entlastungsbeweis. Grenzen, Probleme und Lösungen bei der Begutachtung von Aussagen im Strafverfahren. XII, 203 Seiten, Verlag Mohr Siebeck Tübingen 2022, ISBN 978-3-16-161813-0, 74.- Euro

Der Sachbeweis gilt als der Königsweg in einem Strafverfahren, doch wenn entsprechende Beweismittel nicht zur Verfügung stehen, spielt der Personenbeweis eine entscheidende Rolle. Kein Strafverfahren kommt ohne Aussagen von Opfern, Zeugen oder Angeklagten aus. Steht Aussage gegen Aussage, muss das Gericht entscheiden, wem es glaubt. Normalerweise verlassen sich die Richter dann auf ihre (vermeintliche) Fähigkeit, Lügen zu erkennen oder sie beauftragen Sachverständige mit einer aussagepsychologischen Begutachtung. In dieser Arbeit wird eine technologische Lösung vorgeschlagen: Der Einsatz des Polygraphen (Lügendetektors), den es seit inzwischen fast 100 Jahren gibt und der vor allem in den USA zu trauriger Berühmtheit gelangt ist.

Als Lügendetektor wird (so Wikipedia) ein Gerät bezeichnet, “das kontinuierlich den Verlauf von körperlichen Parametern (nämlich der peripher-physiologischen Variablen) – wie Blutdruck, Puls, Atmung oder die elektrische Leitfähigkeit der Haut – einer Person während einer Befragung misst und aufzeichnet. In Fachkreisen wird das Gerät nicht als Lügendetektor, sondern als Polygraph („Vielschreiber“), Mehrkanalschreiber oder auch Biosignalgerät bezeichnet. Der Begriff „Lügendetektor“ ist deshalb nicht korrekt, weil es sich bei dem Polygraphen lediglich um ein technisches Hilfsmittel handelt, mit dem physiopsychologische Parameter gemessen und aufgezeichnet werden. Die aufgezeichneten Reaktionen sind nicht spezifisch für die Wahrheit oder Unwahrheit der gegebenen Antwort, sondern zeigen lediglich das momentane Aktiviertheitsniveau an“.

Biosignal- bzw. Biofeedbackgeräte, die beispielsweise de Leitfähigkeit der Haut messen, werden auch in der Entspannungstechnik und zum Stressmanagement angeboten, und das seit vielen Jahrzehnten. Als „Biofeedback für zuhause“ gibt es Geräte in der Preisspanne zwischen 50.- und 1.000 Euro. Hier aber geht es weder um Entspannung, noch um Stressabbau – sondern eher um das genaue Gegenteil: Durch den Einsatz von Polygraphen wird (und soll) Stress bei dem Probanden aufgebaut werden, den man einem solchen „Test“ unterzieht. Dazu aber später mehr.

Makepeace beschäftigt sich in seiner Arbeit, die als Dissertation an der juristischen Fakultät der Universität Regensburg (bei Tonio Walter) 2022 vorlag, mit dem Polygraphen und den „Grenzen, Problemen und Lösungen bei der Begutachtung von Aussagen im Strafverfahren“ (so der Untertitel). Makepeace behandelt ein „Hilfsmittel zur Ermittlung der Glaubhaftigkeit einer Aussage …, das von den Strafgerichten bislang kategorisch abgelehnt wurde. … Dabei untersucht er, was die aussagepsychologische Begutachtung einerseits und die polygrafengestützte Aussageanalyse andererseits zu leisten vermögen. Zusätzlich würdigt er deren Einsatz – vor allem jenen des Polygrafen – im Strafprozess rechtlich, um häufiger richtige und gerechte Ergebnisse zu erzielen“ (so der Verlagstext).

Die American Psychological Association (der Berufsverband für Psychologen in den USA) sieht den Einsatz von Lügendetektoren bis heute als unzuverlässig und wissenschaftlich nicht bestätigte Methode. Die American Polygraph Association, ein Interessenverband für Lügendetektoren (ja sowas gibt es in den USA) sieht die Trefferquote von Polygraphen hingegen bei bis zu 90 Prozent und beruft sich auf eine Meta-Studie, die zahlreiche Ergebnisse anderer Studien zusammenfasst. Eine Polygraphen-Studie vom Polygraphen-Verband ist, so könnte man meinen, wie eine Zucker-Studie im Auftrag der Zucker-Industrie – nicht zwingend falsch, aber besonders kritisch zu beurteilen.

Auf diese Studie bezieht sich der Autor in seiner Arbeit zwar auch, der Schwerpunkt seiner juristischen Dissertation liegt aber natürlich bei der Frage, ob und wie der Polygraph im deutschen Strafverfahren angewendet werden kann oder werden soll, wobei natürlich die empirische Evidenz des Einsatzes von Polygraphen eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Denn neben strafrechtlichen, strafprozessualen, verfassungs- und menschenrechtlichen Fragen (letztere spielen in der Arbeit leider kaum eine Rolle) geht es natürlich auch um die Frage, ob diese Wunderwerke der Technik tatsächlich das liefern, was sie versprechen, und das ist nicht weniger als die Wahrheit.

Makepeace geht, was sehr zu begrüßen ist (auch wenn es der Titel der Arbeit nicht erwarten lässt) am Ende (ab S. 179) auch auf andere Formen der Überprüfung von Aussagen ein, die zukünftig sicherlich eine wichtigere Rolle spielen werden als der nun doch in die Jahre gekommene Lügendetektor. Es hat sich in den vergangenen Jahren (auch aufgrund entsprechender finanzieller Förderung durch Geheimdienste) ein breiter Markt von Software-Lösungen entwickelt, die z.B. mithilfe von Erkennungssoftware und künstlicher Intelligenz Merkmale im Gesicht von Probanden bzw. den Gesichtsausdruck entsprechend interpretieren können; zudem gibt es in diesem Bereich bildgebende Verfahren der Neurologie und auch mit der Durchblutung des Gesichts sowie Veränderungen in der Stimme wird gearbeitet. Der Autor zitiert hier Gerhold, der vermutet, dass der technische Fortschritt bei KI „in nicht allzu ferner Zukunft“ auf Trefferquoten bei der Erkennung bewusst wahrheitswidriger Aussagen von über 90 % hoffen lässt (S. 180 unter Verweis auf Gerhold ZIS 2020, S. 431, Hervorhebung TF). Ungeachtet der Tatsache, dass dann noch immer unbewusste Lügen nicht erkannt werden würden, bleibt die Frage der ethischen Verantwortung sowohl bei Makepeace, als auch bei Gerhold unbeachtet, vor allem dann, wenn es um wahre Aussagen geht, die von Ermittlungsbehörden als unwahr eingestuft werden (dazu unten).

Zurück zu den USA, die quasi als Ursprungsland des Lügendetektors gelten, obwohl die Grundidee auf den Schweizer Psychiater und analytischen Psychologen Carl Gustav (C.G.) Jung und den in Prag geborenen deutschen Gestaltpsychologen Max Wertheimer zurückgeht. 1913 wurde erstmals ein Apparat konstruiert, der die Atmungsphasen und den Puls registriert und an dem abgelesen werden sollte, ob die Versuchsperson lügt – der erste Polygraph.

Seitdem haben sich Polygraphen in einigen Ländern verbreitet, das Hauptanwendungsland war und sind jedoch die USA, wo die o.gen. Lobby-Organisation existiert. Die Anwendungsgebiete erstrecken sich von Bewerbungsgesprächen für eine Arbeitsstelle bis zu Vernehmungen bei der Polizei. Auch Geheimdienste und FBI verwenden Polygraphen, um die Vertrauenswürdigkeit aktueller und potentieller Mitarbeiter zu beurteilen.

Dabei wird das Gerät auch als (m.E. illegales) Druckmittel eingesetzt: Egal, ob das Gerät funktioniert, allein die Angst des Verhörten, dass das Gerät funktionieren könnte, macht ein Geständnis oder subjektiv (!) wahre Angaben in Bewerbungsgesprächen wahrscheinlicher.

Wenn verschiedene Meinungen aufeinandertreffen, ist es keine schlechte Idee zuerst die nüchternen Fakten zu betrachten, so Zoltan Lucas in einem lesenswerten Beitrag von Januar 2023 in „Crime Report“. Der Anfang 2023 veröffentlichte Film „The Lie Detector“, auf den sich Lucas bezieht, beschreibt die Irrungen und Wirrungen um dieses Gerät – und auch den Missbrauch in den USA. Denn die Verheißungen des Lügendetektors entpuppten sich als trügerisch, und der Lügendetektor wurde allzu oft zu einem Instrument der Angst und Einschüchterung. Der Film ist „eine Geschichte über gute Absichten, verdrehte Moral und ungewollte Konsequenzen“ (Übersetzung aus dem Original TF).

Aber zurück zur Arbeit von Makepeace. Sie gliedert sich in sieben Kapitel, wobei sich die Anfangskapitel 2 und 3 mit der aussagepsychologischen Begutachtung allgemein beschäftigen. Kapitel 4 behandelt dann die polygraphengestützte Glaubhaftigkeitsbegutachtung und geht u.a. auf das Urteil des BGH von 1998 ein, in dem dieser den Lügendetektor abgelehnt hat. Im fünften Kapitel mit dem doch sehr oberflächlichen Titel „Zahlen lügen nicht“ versucht der Autor nachzuweisen, dass der Polygraph „kein völlig ungeeignetes Beweismittel ist“ (S. 115). Oberflächlich übrigens deshalb, weil auch dem Autor, der ein Jurastudium abgeschlossen hat, bekannt sein dürfte, dass Zahlen sehr wohl „lügen“ können – je nachdem, wer sie wie interpretiert. Kapitel 6 behandelt dann den Polygraphen im Strafverfahren, bevor ein sehr kurzes 7. Kapitel abschließende statistische Überlegungen enthält und Kapitel 8 einen „Blick in die Zukunft“ wagt (s. dazu bereits oben).

Zurück zu Kapitel 5: Hier geht es um Trefferquoten und neue Forschung zu diesem Bereich, d.h. um die empirische Belastbarkeit der Ergebnisse von Polygraphen-Untersuchungen. Das Zwischenergebnis des Autors kling erst einmal positiv: „Trotz der methodischen Unterschiede stimmen die Ergebnisse qualitativ hochwertiger Feld- und praxisnäherer Laborstudien weitgehend überein. Zuzugeben ist, dass auch die Glaubhaftigkeitsbegutachtung mittels eines Polygrafen keine perfekten Trefferquoten erzielen kann“ (S. 138).

Weder einem positiven noch einem negativen Ergebnis könne, so Makepeace, ein 100-prozentiger Beweiswert zugesprochen werden – was aber auch niemand erwarten könne. Während Schuldige mit meist über 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit als solche entlarvt würden, sei die Trefferquote bei Unschuldigen „geringer“. Damit sei die Quote falsch-positiver höher als die falsch-negativer Ergebnisse.

Darf daher der Polygraph nur bei Schuldigen eingesetzt werden? Aber hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Der Polygraphen-Test soll doch gerade zwischen „Schuldigen“ und „Unschuldigen“ unterscheiden, und genau dies leistet er nicht.

Denn genau das ist das Problem: Die Aussagen Unschuldiger werden öfter fälschlicherweise als bewusst wahrheitswidrig deklariert als im umgekehrten Fall. Die Kritik, es bestünde die Gefahr einer falschen Belastung, könne, so auch Makepeace „daher nicht per se zurückgewiesen werden“. Der Rezensent würde es allerdings anders formulieren: Die Kritik kann überhaupt nicht zurückgewiesen werden, weil sie zutrifft. Wenn, so die Zusammenstellung der Ergebnisse in der Studie von Makepeace auf S. 125 (s. Abbildung unten), von 500 subjektiv wahren Aussagen 45 % als „falsch“ bewertet werden, dann ist der Polygraph tatsächlich nicht nur nicht verwendbar, sondern sogar eine Gefahr für das Straf- und Ermittlungsverfahren. Da kann es auch nicht darum gehen, die Zahlen „richtig zu lesen“, wie der Autor meint (S. 125), sondern die Gefahr, dass Unschuldige aufgrund solcher Tests massiver Einschränkungen ihrer verfassungsmäßig garantierten Rechte zu befürchten haben, ist zu hoch, um mit solchen Techniken zu experimentieren. Der Polygraph ist vielleicht „nicht völlig ungeeeignet“, wie Makepeace meint – aber er ist ungeeignet, und ungeeignete Methoden dürfen im Strafverfahren nicht angewendet werden.

Da darf es dann auch keine Rolle spielen, dass der Einsatz von Polygraphen auf freiwilliger Basis zulässig sein soll, wie dies eine Einzelmeinung in Deutschland glaubt: „Wer bereits im Ermittlungsverfahren in der Lage ist, ein entlastendes Ergebnis einer polygraphischen Untersuchung vorzulegen, sollte das … in der Regel tun. Meist folgt eine Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO[1]. Polygraphischen Untersuchungen, so wird argumentiert, komme ein „indizieller Beweiswert“ zu. Sie könnten Beschuldigte davor schützen, Opfer falscher Anschuldigungen zu werden, sowie Gerichte und Staatsanwaltschaften davor bewahren, Fehlentscheidungen zu treffen.

Zu Risiken und Nebenwirkungen frage man da besser diejenigen, die sich dann weigern, solche Tests zu machen – wegen der hohen Rate von „false positives“, s.o. Und auch das Argument, andere Möglichkeiten wie die gerichtliche Beweiswürdigung oder Sachverständigengutachten seien nicht besser, zieht nicht: Zum einen erwecken sie nicht den Eindruck einer technologischen Wahrheit wie der Polygraph; zum anderen gibt es bei der gerichtlichen Würdigung von Aussagen Rechtsmittel und im Bereich der Sachverständigenbegutachtung haben sich die dort tätigen Psychologen und mit ihnen die Scientific Community in diesem Bereich in den vergangenen Jahren deutlich evidenzbasierter aufgestellt und liefern transparentere Ergebnisse als früher.

Auch wenn in Deutschland wahrscheinlich ein Missbrauch des Lügendetektors, wie er sich in den USA z.B. im Kampf gegen angebliche Kommunisten oder andere politisch unliebsame Personen gezeigt hat und wie er in dem o.gen. Film eindrucksvoll geschildert wird (ein längerer Ausschnitt findet sich hier) eher unwahrscheinlich ist: Mit Menschenrechten experimentiert man nicht.

Am Ende bleibt es bei der klaren Aussage der American Psychological Association: Lügendetektoren sind unzuverlässig und eine wissenschaftlich nicht bestätigte Methode. Der BGH hat richtig entschieden, dass solche Experimente im deutschen Strafverfahren nicht zulässig sind – und daran ändert auch die zwar juristisch solide entworfene Arbeit von Makepeace nichts, denn in seiner Bewertung der empirischen Ergebnisse liegt er falsch, ebenso wie die Anwälte, die den Einsatz des Lügendetektors in einem Sexualstrafverfahren verlangten. Und dabei bleibt die Frage außen vor, ob es überhaupt die „objektive“ Wahrheit gibt, die man mit dem Polygraphen „herausfinden“ will. Leider spielt das in der Arbeit von Makepeace aber keine Rolle…

Thomas Feltes, Januar 2023

[1] Putzke, Holm / Scheinfeld, Jörg / Klein, Gisela / Undeutsch, Udo: Polygraphische Untersuchungen im Strafprozess. Neues zur faktischen Validität und normativen Zulässigkeit des vom Beschuldigten eingeführten Sachverständigenbeweises; in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) 121 (2009), S. 607–644. Verfügbar hier: http://www.holmputzke.de/images/stories/pdf/2009%20putzke%20zstw%20polygraph.pdf