Stellungnahme von Clemens Arzt zum Urteil des Bundesverfassungsgericht zum SOG MV

Stellungnahme von Professor Dr. Clemens Arzt[1] zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Dezember 2022 – 1 BvR 1345/21 – (Polizeiliche Befugnisse nach dem SOG MV)

Leicht redigiert, mit Hervorhebungen versehen und bereitgestellt von Thomas Feltes

Wie so oft in der Vergangenheit hat auch hier der Gesetzgeber vorhersehbar verfassungswidrige Regelungen erlassen, anstatt sich der gebotenen Zurückhaltung bei erheblichen Grundrechtseingriffen zu bemühen. Dies bringt die Polizei immer wieder in die Lage, Normen als Eingriffsoptionen bereitgestellt zu bekommen, die kaum oder nie genutzt wurden und das Vertrauen in eine ordnungsgemäße Gesetzgebung, gerade auch zum Schutz der Grundrechte, deutlich in Frage stellen.

Hinsichtlich Maßnahmen der Verfolgungsvorsorge wurde nunmehr seit 2005 wiederholt die Gesetzgebungskompetenz eines Landes im Bereich der Verfolgungsvorsoge verneint (Rn. 163 ff.), deren Ansiedelung im Polizei- und Gefahrenabwehrgesetz auch mit Blick auf die Transparenz von Eingriffsgesetzen mehr als problematisch ist. Dies ignorieren viele Bundesländer seit nunmehr 17 Jahren.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat in seiner erst jetzt bekannt gewordenen Entscheidung festgestellt, dass mehrere Vorschriften des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern (Sicherheits- und Ordnungsgesetz – SOG MV) mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. Einige der darin geregelten polizeilichen Ermittlungsbefugnisse verletzen in ihrer konkreten Ausgestaltung die Grundrechte der Beschwerdeführenden, namentlich das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Schutz der informationellen Selbstbestimmung, teils auch in seiner Ausprägung als Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) sowie die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG).

Die angegriffenen Vorschriften sind vor allem deshalb zum Teil verfassungswidrig, weil sie den in ständiger Rechtsprechung konkretisierten Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne an heimliche Überwachungsmaßnahmen der Polizei nicht vollständig genügen. Verfassungsrechtlich unzureichend sind sie auch mit Blick auf den erstmals näher konturierten Kernbereichsschutz beim gefahrenabwehrrechtlichen Einsatz von Vertrauenspersonen und verdeckt Ermittelnden sowie die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen der heimlichen Wohnungsbetretung durch die Polizei zur Vorbereitung einer Online-Durchsuchung oder einer Quellen-Telekommunikationsüberwachung.

Ein Teil der verfassungswidrigen Vorschriften wird nicht für nichtig, sondern lediglich für mit der Verfassung unvereinbar erklärt – verbunden mit der Anordnung ihrer befristeten Fortgeltung. Denn die Gründe für die Verfassungswidrigkeit dieser Vorschriften betreffen nicht den Kern der mit ihnen eingeräumten Befugnisse, sondern einzelne Aspekte ihrer rechts­staatlichen Ausgestaltung, die der Gesetzgeber nachbessern und so den Kern der mit den Vorschriften verfolgten Ziele auf verfassungsmäßige Weise verwirklichen kann.

Im Einzelnen (nach der Pressemitteilung des Gerichts vom 01.02.2023):

  1. § 33 Abs. 2 SOG MV (Besondere Mittel der Datenerhebung) ist in Satz 1 und Satz 3, soweit dieser auf § 67c Halbsatz 1 Nr. 1 SOG MV verweist, verfassungswidrig, weil die Eingriffsvoraussetzungen hinter einer konkretisierten Gefahr zurückbleiben. Die in § 33 Abs. 2 SOG MV enthaltenen Verweisungen verstoßen hingegen nicht gegen das Gebot der Normenklarheit. Der Kernbereichsschutz nach § 26a Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 SOG MV, der für den Einsatz von Vertrauenspersonen oder verdeckt Ermittelnden nach § 33 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 3 und 4 SOG MV eine Ausnahme von der Abbruchpflicht bei Eindringen in den Kernbereich privater Lebensgestaltung regelt, genügt in seiner konkreten Ausgestaltung nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
  2. § 33b Abs. 1 Satz 2 SOG MV (Wohnraumüberwachung) ist verfassungswidrig, weil die Eingriffsschwelle nicht dem Erfordernis einer dringenden Gefahr aus Art. 13 Abs. 4 GG genügt.
  3. § 33c Abs. 1 Satz 2 SOG MV (Online-Durchsuchung) ist verfassungswidrig, soweit danach in Verbindung mit § 67a Abs. 1 und § 67c Halbsatz 1 Nr. 1 SOG MV die konkretisierte Gefahr der Begehung einer Vorfeldtat für die Durchführung einer Online-Durchsuchung genügen kann. In ihrer konkreten Ausgestaltung genügt auch die Ermächtigung in § 33c Abs. 5 Alternative 2 SOG MV (Heimliche Wohnungsbetretung und -durchsuchung) nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, weil nicht hinreichend bestimmt geregelt ist, dass dies der Abwehr einer konkretisierten Gefahr dienen muss.
  4. § 33d Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SOG MV in Verbindung mit § 67a Abs. 1 und § 67c Halbsatz 1 Nr. 1 SOG MV (Telekommunikationsüberwachung) und § 33d Abs. 3 Satz 3 in Verbindung mit § 33c Abs. 5 Alternative 2 SOG MV (Heimliche Wohnungsbetretung und -durchsuchung) sind aus denselben Gründen verfassungswidrig wie die entsprechenden Regeln zur Online-Durchsuchung.
  5. § 35 Abs. 1 SOG MV (Ausschreibung zur polizeilichen Beobachtung) ist mangels Gesetzgebungskompetenz des Landesgesetzgebers formell verfassungswidrig, soweit § 35 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Nr. 4 SOG MV die Vorsorge für die Verfolgung künftiger Straftaten umfasst. § 35 Abs. 1 Satz 1 SOG MV ist auch materiell verfassungswidrig, weil keine den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechende Kombination von Eingriffsschwelle und zu schützendem Rechtsgut vorausgesetzt wird. Das gilt auch für § 35 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 67a Abs. 1 SOG MV, soweit § 67a Abs. 1 SOG MV auf § 67c Halbsatz 1 Nr. 1 SOG MV verweist.