Paula Markert, Eine Reise durch Deutschland. Die Mordserie des NSU. Schweizer Broschur mit Klappen; 22,5 × 28 cm; 112 Seiten, 63 Abb.; Hartmann Books Stuttgart 2019, € 28,00. ISBN 978-3-96070-037-1.
Zwischen dem Jahr 2000 und 2007 wurden insgesamt zehn Menschen von dem sog. „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) ermordet. Die polizeilichen Ermittler begannen erst sehr spät, die vorhandenen rechtsextremistischen Hintergründe zu erkennen und zu verfolgen. Bis dahin wurden Ermittlungen in Richtung „Organisierte Kriminalität mit Migrationshintergrund“ geführt und die Opfer standen lange selbst unter Tatverdacht. In der Presse war von „Döner-Morden“ die Rede.
Im Juli 2018 wurde in München nach fünfjährigem Prozess das Urteil im NSU-Mordprozess verkündet, mit über 400 Verhandlungstagen und fast 650 Zeugen und Sachversändigen. Ein Prozess, der das Demokratieverständnis der direkt und indirekt Beteiligten auf’s äußerste herausforderte, in dem am Ende Beate Zschäpe, als einzige Überlebende der NSU-Terrorzelle sowie vier Unterstützer verurteilt wurden.
„Die Hamburger Dokumentarfotografin Paula Markert (*1982) reiste in der Zeit von Herbst 2014 bis Frühjahr 2017 auf den Spuren des NSU durch Deutschland und dokumentierte Menschen und Orte, die mit dem NSU Komplex in Verbindung stehen. Ihre Fotos von Tatorten und Urlaubaufenthalten der Mörder während ihrer Zeit im Untergrund, stehen neben Portraits von Opfern, Anwälten und Institutionen. 12 ausgewählte Textfragmente und Interviewausschnitte ergeben in Kombination mit den Fotos ein vielschichtiges Bild der Vorgänge und der vielen bis heute unfaßbaren Ungereimtheiten, die die Sorgfaltspflicht des Staates und die Rolle des Verfassungsschutzes bis heute in Frage stellen. Dieses gedruckte Buch soll den Prozess und die Opfer vor dem schnellen digitalen Vergessen unserer Zeit bewahren!“ (Verlagstext)
Dabei geht es aber nicht nur um das „digitale Vergessen“ der Opfer, des Prozesses, des Scheiterns der Polizei. Es geht auch darum, dass Bilder eine andere Wirkung erzeugen als Texte, und die Kombination von Text und eindrucksvollen Bildern ermöglichst oftmals, und auch hier, eine andere Sicht auf die Dinge. Möglicherweise bewusst wird diese Sicht in dem Buch auch dadurch provoziert, dass die Bilder erst einmal alleine für sich stehen – ohne unmittelbaren Begleittext. Sie regen dadurch sicherlich zum Nachdenken an – wenn man z.B. als erstes Bild (nach den Portraits des NSU-Trios) eine Hochhaussiedlung auf einer Doppelseite (S. 10 f.) betrachtet, gefolgt von dem Portraitfoto eines Polizisten. Sicherlich kann man dazu jeweils bestimmte Gedanken assoziieren; dennoch will man natürlich wissen, was oder wer dort abgebildet ist. Die „Auflösung“ der Rätsel erfolgt dann erst im „Index“ ab S. 97. Hier sind die jeweiligen Seitenangaben der Bilder zusammen mit verkleinerten Schwarz-Weiß-Abbildungen auf der linken und einem entsprechenden erklärenden Text auf der rechten Seite aufgeführt. Der Rezensent ist sich unsicher, ob nicht eine direkte Erläuterung der Fotos auf der Seite direkt danach hilfreicher gewesen wäre; so blättert man doch ziemlich hin und her.
Die Auswahl der Bilder folgt keiner (zumindest keiner erkennbaren) Logik, außer einem gewissen historischen Ablauf, zumindest teilweise. Es ist aber gerade diese quasi „Beliebigkeit“ der Bilder die deutlich macht (und wohl auch machen soll), wie „normal“, wie wenig außergewöhnlich, wie wenig spektakulär eigentlich das „NSU-Trio“ gelebt hat. Die „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt) wird so optisch in Szene gesetzt. War es Zufall, dass es nicht mehrere „NSU-Trios“ gab?
Hier und da wird auch die gesellschaftliche Hilflosigkeit deutlich, so in dem Bild des Sozialarbeiters „Kaktus“, Streetworker im ehemaligen Jugendzentrum, in dem sich das Trio in den 1990er Jahren kennenlernte. Hier wie bei den meisten Bildern folgt dann auch ein quasi erklärender längerer Text auf den Seiten danach – in Englisch und Deutsch.
Es sind durchaus auch die Überraschungseffekte, die diese Bilder auslösen, die nachdenklich machen. Wenn z.B. Mario M., Kriminalbeamter, ab 1995 Mitglied der Soko REX in Thüringen, später Ermittlungsgruppe Terrorismus/ Extremismus auf einem einfachen Bett im Kloster St. Ottilien sitzend sich auf seine Aussagen vor den NSU-Untersuchungsausschüssen von Bund und Ländern vorbereitet, mit denen er das LKA und das Landesamt für Verfassungsschutz Thüringen schwer belastete. Hier sieht und fühlt man die Last, die auf seinen Schultern liegt ob der Tatsache, gegen eigene „Kolleg*innen“ auszusagen.
Den Abschluss des Bandes bilden Auszüge aus dem psychiatrischen Gutachten von Henning Saß über Beate Zschäpe, das Bild von Abdullah Özkan, eines Überlebenden des Nagelbombenattentats in Köln, bei einer Podiumsdiskussion sowie ein leerer, trostloser Gang, der sich lt. erläuterndem Text im Paul-Löbe-Haus des Bundestages befindet, in dem der dritte NSU-Untersuchungsausschuss 2016 tagte. Mehr Leere geht kaum, und es ist diese Kombination von Menschen, Landschaften und (nur auf den ersten Blick) inhaltsleeren Bildern, die den Band auszeichnen und lesens- wie betrachtenswert machen.
Die Bilder und die Texte finden sich im übrigen auch auf der Website von Paula Markert. Für diejenigen die sich ein Bild vorab machen wollen. Dennoch ist ein Buch ein Buch – er bietet andere Seh- und Leseoptionen als ein Computerbildschirm.
Thomas Feltes, März 2023