Strafrecht als Risiko. Festschrift für Cornelius Prittwitz zum 70. Geburtstag. Rezensiert von Thomas Feltes

Strafrecht als Risiko. Festschrift für Cornelius Prittwitz zum 70. Geburtstag. Hrsg. von B. Brunhöber u.a., Nomos, Baden-Baden 2023, 844 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8487-8549-0, 199.- Euro

Die Festschrift für Cornelius Prittwitz zum 70. Geburtstag ehrt nicht nur den Autor der bekannten Monographie über das Risikostrafrecht, sondern auch einen Wissenschaftler des Frankfurter Instituts für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie, der für eine rationale, am sog. „ultima ratio-Prinzip“ orientierte Kriminalpolitik eintritt. Prittwitz setzte und setzt sich für ein faires, die Grundrechte achtendes und schützendes Straf- und Strafverfahrensrecht ein. Die nationale und internationale Anerkennung, die der Geehrte sich erworben hat, kommt in über vierzig Beiträgen namhafter Autor*innen aus dem In- und Ausland zum Ausdruck.

Die Herausgeber Beatrice Brunhöber, Christoph Burchard, Klaus Günther, Matthias Jahn, Michael Jasch, Jesús-María Silva Sánchez und Tobias Singelnstein haben einen facettenreichen und wissenschaftlich beachtlichen Band zusammengestellt, in dem einige Beiträge durch ihre besondere Aktualität auffallen. Wie immer bei Festschriften, so kann auch hier eine auch nur ansatzweise vollständige Würdigung des Werkes nicht erfolgen. Leider kann nicht einmal auf ein online verfügbares Inhaltsverzeichnis verwiesen werden, weil der Verlag ein solches nicht zur Verfügung stellt. Eine (sehr) grobe Übersicht findet sich hier und nicht auf der Hauptseite des Verlages. Warum der Verlag diese restriktive Politik verfolgt, ist schwer verständlich.

In der für eine Festschrift üblichen „Laudatio“ zu Beginn des Buches beschreiben die Herausgeber den Jubilar etwas genauer. Sie verweisen darauf, dass Fortschritte in der Wissenschaft nicht nur durch das geschriebene Wort erzielt werden, sondern nicht selten (der Rezensent meint: sogar oftmals oder vielleicht sogar meist, wenn er an seine eigenen Erfahrungen denkt) durch das gesprochene Wort, durch die Kommunikation unter Anwesenden, den lebendigen Austausch.

Die entsprechende Haltung eignet dem neugierigen Fuchs eher als dem Igel, der sich nur ungern in der Arbeit an seinem System stören lässt. Allerdings bedarf es dazu weniger füchsischer Schläue als der Fähigkeit zur Empathie, weil gemeinsam mehr neue, wissenschaftlich herausfordernde Dinge zu finden sind, als allein. Wer das Glück und das Vergnügen hatte oder haben wird, mit Cornelius Prittwitz ein wissenschaftliches Gespräch zu führen oder einem seiner Vorträge zuzuhören und mit ihm darüber zu diskutieren, gerät unversehens in einen nachhaltigen Lernprozess“ (S. 9).

Prittwitz habe „sprachliche und kulturelle Grenzen“ überwunden und seine Kompetenzen, Tugenden und Talente hätten sich nicht zuletzt auch innerhalb einer Universität „als einer sich selbst verwaltenden Gelehrtenrepublik, die auch geprägt ist von mehr oder weniger notorischen Konflikten“, die manchmal auch in destruktiver Weise unter Kolleg*innen ausgetragen würden, bewährt. „Wer die gegenwärtige Situation der Universitäten in Deutschland kennt, weiß, dass es nicht selten an Kolleg:innen fehlt, die Distanz zu einer festgefahrenen Auseinandersetzung einnehmen und so schlichtend darauf einwirken können, dass aus einem Konflikt neues Vertrauen zwischen den Beteiligten entsteht“ (S. 10).

Ein solches Lob dürfte nicht Vielen zuteilwerden, die in dem von außen nur selten so wahrgenommenen Haifischbecken Universität gearbeitet haben oder arbeiten. Notorische Profilierungssucht, durchaus auch zulasten von Studierenden, oftmals gepaart mit einer besonderen Form von Ignoranz, hat sicherlich auch mit dazu geführt, dass die deutschen Universitäten zumindest international im Vergleich bestimmter Fachbereiche (zu denen auch die juristischen gehören) nicht (mehr) in den vorderen Rängen stehen. Cornelius von Prittwitz war hier mit seiner Arbeit wohl eine Ausnahme, und umso mehr kann die Frankfurter Fakultät dankbar sein, ihn in seinen Reihen gehabt zu haben.

Prittwitz hatte vor genau 30 Jahren mit seiner Studie zu „Strafrecht und Risiko“ eine Diskussion zur Krise von Strafrecht und Kriminalpolitik in der Risikogesellschaft losgetreten, die noch bis heute andauert. Er hatte damals eine kritische Rekonstruktion von Strafrecht und Kriminalpolitik in einer Gesellschaft beschrieben, in der Risiken zum zentralen Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung geworden sind. Als Ergebnis hatte er festgestellt, dass Kriminalpolitik, Straftheorie und Strafrechtsdogmatik längst durch die „Risikogesellschaft“ geprägt seien. Das Strafrechts diene primär der Risikominimierung und der subjektiven Versicherung, womit es aber überfordert sei. „Die nach Antworten drängenden sozialen und ökologischen Probleme bleiben durch die Überweisung an das Strafrecht in Wirklichkeit unerledigt. Und weil die strukturellen Ursachen des Scheiterns strafrechtlicher Lösungsversuche verkannt werden, zerstören vermeintliche Nachbesserungen kontinuierlich das rechtsstaatliche Profil des Strafrechts“. Diese Sätze, 1993 geschrieben, haben heute mehr denn je Gültigkeit.

Das Strafrecht hat sich tatsächlich in der Zwischenzeit zwischen alle Stühle gesetzt und ist im Moment wieder einmal dabei dies zu tun, und zwar im Zusammenhang mit der Diskussion um die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters nach der Tötung eines 13-jährigen Mädchens durch zwei andere, 12- und 13-jährige Mädchen und der in diesem Zusammenhang durch einen Ministerpräsidenten erfolgten Ausrufung einer gesellschaftlichen Krise, weil angeblich die „Kinderkriminalität“ ansteige[1].

In welche (kritische) Richtung viele der Beiträge in dem Band gehen, macht der Beitrag von Peter-Alexis Albrecht deutlich, der „Wege jenseits von Recht aufgrund seiner globalen Auflösung“ (S. 21 ff.) beschreibt. Unter der Unterüberschrift „Rechtsstaatliches Strafrecht versus Zweckstrafrecht der Macht“ beschreibt er, dass rechtsstaatliches Strafrecht „mit wissenschaftlicher Methode die Legitimation von Recht“ erfasst. Geltungsbasis des rechtsstaatlichen Strafrechts sei die Idee der Menschenwürde und der individuellen Freiheit. „Es rekurriert auf Verstöße gegen Grundrechte der Person auf Leben, Freiheit, Gesundheit, persönlichen Besitz. Es erfasst private, politische, wirtschaftliche und finanzielle Machtausübung und begrenzt und ahndet im Rahmen eines engen Kernstrafrechts massives Unrecht in der (absoluten) Achtung von Würde und Freiheit aller“ (S. 21).

Ein solches sich selbst als rechtsstaatlich verstehendes Strafrecht habe „keine Steuerungsfunktion für Kriminalitätsentwicklung in der Gesellschaft, es folgt auch keinem anderen Zweck gesellschaftlicher Steuerung“. Dieses Strafrecht habe es noch nie gegeben, vielmehr gebe es „das rechtsstaatswidrige Strafen, das sich auch Strafrecht nennt“ – so Albrecht unter Bezugnahme auf Naucke (KritV 1990).

Dieses „andere“ Strafrecht sei ein Instrument von Ordnungsmacht, das in der modernen Gesellschaft bewusst als symbolisches Strafrecht diene (S. 22). Diese konsequent-radikale Sichtweise auf das Strafrecht ist weder modern, noch politisch gewünscht, aber Albrecht wie auch der Jubilar Prittwitz verfolgen diese Linie dankenswerterweise immer wieder und immer weiter – und erinnern uns daran, dass Strafrecht eben nicht dazu geeignet ist, moderne Gesellschaften und die Handlungen Menschen in diesen Gesellschaften zu steuern, obwohl es immer wieder dazu missbraucht wird oder werden soll.

Dieses „Ordnungsstrafrecht produziert ausufernde, beliebige, lückenfüllende, stets wechselnde und wachsende Ordnungsregeln, seit dem 19. Jahrhundert verstärkt auch präventiv intendierte Steuerung der Besserung für Abweichende. In sozial rauen Zeiten greift es restriktiver zu, in sozial gesicherten Zeiten zeigt es mehr Liberalität. Strafrechtlicher Zugriff des machtnahen Strafrechts in jedweder Staatsform – folgt mithin dem politischen Ziel des Versuchs von Effektivitätssteigerung der Staats- und Gesellschaftsverwaltung zwecks Sicherung von Ruhe und Ordnung“ (aaO.). Die abschließenden Anmerkungen von Albrecht sind angesichts der aktuellen Weltlage sind beachtenswert: „Recht auf der Basis strikter Rechtsstaatlichkeit hat im dominanten globalen ökonomischen Kontext den Status einer Utopie. Gleichwohl muss man unter Wissenschafts- und Praxisjuristen Verbündete suchen, die trotz und wegen gegenseitiger atomarer Vernichtungsgefahr die Dominanz der Ökonomie mit institutionellen Zügeln von Sicherheit und Zusammenarbeit und eines auf Ausgleich zielenden ,Handelsgeistes‘ einhegen wollen. Aber: Das geht nur in kulturell und regional beherrschbarer Übersichtlichkeit! Nur das ist der Weg zum ewigen Frieden“ (Kant) mit umzusetzenden Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (Wilhelm v. Humboldt)“ (S. 39).

Mit diesem ausführlicheren Hinweis auf den Beitrag von Albrecht soll deutlich gemacht werden, welchen Anspruch der Jubilar in seinem Werk verfolgt und welchen Anspruch auch diese Festschrift hat: Auf wissenschaftlich angemessenem Niveau die jeweils herrschende Lage in der Gesellschaft zu analysieren und zu bewerten, und zwar nicht nur spiegelbildlich im Strafrecht, aber eben besonders dort.

Die Beiträge in dieser Festschrift seien für jede/n, die/der an einer solchen offenen Diskussion über die Gegenwart und die Zukunft des Strafrechts abseits von vordergründig-politischen Zweckmäßigkeitserwägungen Interesse hat, empfohlen. Sie/er wird dann auch in den Kapiteln zur „Kriminalpolitik“ (ab S. 637) und „Kriminologie“ (ab S. 755) fündig werden, wo es z.B. um „Corona-Leugnen“ (Beitrag von Herzog und Sotiriadis, S. 637 ff) oder in dem Beitrag von Anja Schliemann um „Widerstandsdelikte im Wandel der Zeit – Kriminalpolitik wider besseres Wissen“ (S. 739) geht. Den Band schließt übrigens der Beitrag von Tobias Singelnstein mit dem Titel „Gewalt gegen die Polizei“ (S. 817 ff.).

Thomas Feltes, März 2023

[1] S. dazu meine Zusammenstellung hier https://twitter.com/krim_rub/status/1636036411060019204