Steffen Mau, Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Suhrkamp-Verlag Berlin 2019, 2. Aufl. 2021, Broschur, 284 Seiten, ISBN 978-3-518-47092-3, 12.- Euro
Wenn ein Buch als „Bestseller“ vermarktet wird (wie hier), dann wird der wissenschaftlich orientierte Leser gerne vorsichtig. Eine Ausnahme davon stellt das Buch von Steffen Mau dar, das lesbar, lesenswert und wissenschaftlich substantiiert die Auswirkungen der Transformation auf das Leben in Ostdeutschland darstellt.
Der Autor, geboren 1968, ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er wuchs in den siebziger Jahren im Rostocker Neubauviertel Lütten Klein auf. 30 Jahre nach dem Mauerfall zieht Mau eine persönliche und sozialwissenschaftliche Bilanz – und diese Verbindung ist eines der Elemente dieses Buches, das es so spannend zu lesen und den Inhalt so „zuverlässig“ macht: Man spürt, wovon der Autor redet bzw. schreibt, und man glaubt ihm. Er nimmt die gesellschaftlichen Brüche in den Blick, an denen sich Verbitterung und Unmut entzünden. Er spricht mit Weggezogenen und Dagebliebenen, schaut zurück auf das Leben in einem Staat, den es nicht mehr gibt. Und er verbindet seine Beobachtungen mit sozialwissenschaftlichen Theorien und Erklärungsansätzen.
Das Buch ist in zwei große Teile gegliedert. Im ersten Teil geht es um das Leben in der DDR und im zweiten Teil um die Transformationen anlässlich der „Wende“. Mau knüpft dabei an die Befindlichkeiten der Ostdeutschen ebenso an wie an die wirtschaftlichen politischen Entwicklungen. Er benutzt für seine Analyse den Begriff der „gesellschaftlichen Fraktur“. Darunter versteht man in der Medizin den Bruch eines Knochens, Mau verwendet den Begriff für Brüche des gesellschaftlichen Zusammenhangs, die zu „Fehlstellungen“ führen können (S. 13). Eines seiner wesentlichen Ergebnisse ist, dass eine „frakturierte Gesellschaft … an Robustheit und Flexibilität“ verliert (S. 14).
Mau geht davon aus, dass sich trotz aller Transformationserfolge, trotz Angleichung und trotz kultureller, normativer und mentaler Eingewöhnung die Unterschiede zwischen den beiden deutschen Teilgesellschaften (sic!) nicht einfach ausschleichen werden. „Sowohl in sozialstruktureller wie auch in mentaler Hinsicht hat sich in Ostdeutschland eine Form der Sozialität herausgebildet, in der neben langsam steigender Zufriedenheit auch Gefühle der Benachteiligung und der politischen Entfremdung wachsen, die mehr sind als ein nicht enden wollendes Murren einiger Ewiggestriger“ (S. 14).
Überaus interessant auch die Analyse der DDR-Gesellschaft durch Mau. Für ihn war die DDR-Gesellschaft durch eine nach unten zusammengedrückte Sozialstruktur und eine arbeiterliche Kultur geprägt, was auch auf das Dienstleistungsproletariat und die Transferklassen von heute ausstrahle. Es dominierte die „Mentalität der einfachen Leute“ (aaO.). Während es zu Beginn in der DDR noch eine beachtliche Aufstiegsmobilität gab, so war die späte DDR durch eine „starre Sozialstruktur und zunehmend verstopfte Pfade in die höheren Positionen gekennzeichnet. Sie war zudem eine ein gekapselte und ethnisch homogene Gesellschaft, die kaum Erfahrung mit Zuwanderung gemacht hatte. Die Vereinigung versprach zwar schnelle Freiheits-, Wohlstands- und Konsumgewinne, erfolgte aber als ökonomischer sowie sozialer Schock und strapazierte die Bewältigungskapazitäten der Menschen bis aufs Äußerste„. (S. 15)
Die DDR-Bevölkerung fand sich dann nach der Wende „über Nacht auf den unteren Rängen der gesamtdeutschen Hierarchie wieder und unterschichtete die westdeutsche Gesellschaft. Deklassierungs- und Entmündigungserfahrungen waren an der Tagesordnung, und dies zu einem Zeitpunkt, an dem man gerade zum ersten Mal die beglückende Erfahrung kollektiver Handlungsfähigkeit gemacht hatte“ (aaO.).
In Westdeutschland wiederum war der »kollektive Fahrstuhl« (Ulrich Beck) ins Stocken geraten und die „lange Phase kollektiver Wohlfahrtsgewinne, anhaltender Prosperität und offener Aufstiegskanäle – das manchmal so bezeichnete »Goldene Zeitalter« – neigte sich dem Ende zu. So … kam (es) auch zu erheblichen Mobilitätsblockaden, welche die ostdeutsche Teilgesellschaft auf Dauer kleinhalten sollten. Der Deckel auf der nach unten zusammengedrückten Sozialstruktur wurde somit nicht gelöst, sondern in mancher Hinsicht noch fester zugeschraubt. In der Folge hat sich eine gesellschaftliche Formation herausgebildet, in der Vorbehalte, Systemskepsis und populistische Mobilisierung hervortreten, während die Selbstbindung an eine liberale Ordnung und ein tolerantes soziales und politisches Klima einen schweren Stand haben“ (aaO., Hervorhebung durch TF).
Anschaulicher und gleichzeitig analytischer kann man diese Problematik kaum beschreiben. Dies ist eines der wesentlichen Charakteristika des Buches von Mau: Treffende (und verständliche!) Analysen, klare Sprache und der immerwährende anschauliche Vergleich zwischen „vorher“ und „nachher“ helfen dem Leser vieles von dem zu verstehen, was sich aktuell in den ostdeutschen Bundesländern ereignet. Auch deshalb ist es nicht verwunderlich, dass das Buch, das schon vor vier Jahren erschien (2019) auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste von ZDF, Zeit und Deutschlandfunk Kultur stand und Mau 2021 den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft erhielt.
Seine Analysen verortet der Autor dabei in dem Rostocker Vorort „Lütten Klein“, gelegen direkt neben Lichtenhagen. Dort hatte man Mitte der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre mehr als 10.000 Wohnungen erbaut. Die Wohnqualität damals hatte „konkurrenzlose Attraktivität“ (S. 27) – was man durchaus auch heute noch nachvollziehen kann, wenn man durch das Gebiet fährt – wie es der Rezensent häufiger macht. Die klare Struktur, die gute Verkehrsanbindung (ÖPNV), die Freiflächen, die Luft zum Atmen bieten und die Zentralisierung der Infrastruktur (Geschäfte, Dienstleister) machen das Gebiet attraktiv – und es ist schon optisch nicht zu vergleichen mit vielen ähnlichen Wohngebieten in Westdeutschland, die man aufgrund ihres baulichen Zustandes eher als „heruntergekommen“ bezeichnen muss, ganz im Gegensatz zu Lütten Klein (und auch den umliegenden Gemeinden), das von den Bewohnern nach wie vor geschätzt und gepflegt wird.
Mau beschreibt im ersten Teil seines Buches sehr gut und anschaulich die individuellen wie strukturellen Vorteile des Lebens „in der Platte“, in der alle Schichten und Berufsgruppen versammelt waren. Andererseits beschreibt Mau auch, dass es in der DDR einen fruchtbaren Nährboden für Rechtsradikalismus gab (S. 97 f.).
Als Ergebnis seiner gleichsam fundierten wie gut lesbaren Analyse stellt Mau am Ende fest, dass es in Ostdeutschland noch immer Unzufriedenheit, Abstandnahme und Systemskepsis gibt und eine „Gesellschaft des Verdrusses und der Anfälligkeit für Populismen“ (S. 246). Die gesellschaftlichen Spannungen in Ostdeutschland sind für ihn (und hier verwendet er dann wieder den eingangs erklärten Begriff der „Fraktur“) „Ausdruck gesellschaftlicher Frakturen, von denen viele in der DDR-Gesellschaft schon angelegt waren und die im Zuge der gesellschaftlichen Transformation nicht geheilt, sondern häufig noch vertieft wurden“ (S. 245). Und weiter: „Auch noch dreißig Jahre nach der Wende fehlt es der ostdeutschen Gesellschaft letztlich an einem robusten sozialmoralischen und sozialstrukturellen Unterbau, der Toleranz und ein emphatisches Demokratieverständnis tragen könnte“ (S. 148) – und die Ursachen dafür, die sowohl in der Entwicklung der DDR, als auch (und vor allem) im Umgang durch westdeutsche Eliten nach der Wende und vor allem in dem Zusammenspiel dieser beiden Aspekte liegen, beschreibt der Autor in seinem Buch vortrefflich.
Jede/r, der über die „Zustände“ in Ostdeutschland (mit)reden will, muss dieses Buch gelesen haben. Ansonsten bleibt er/sie unglaubwürdig.
Thomas Feltes, Juli 2023