Uwe Füllgrabe, Psychologie der Eigensicherung. Rezensiert von Thomas Feltes

Uwe Füllgrabe, Psychologie der Eigensicherung. Überleben ist kein Zufall. Richard Boorberg Verlag, 2023, 10., aktualisierte und erweiterte Auflage, 328 S.; ISBN 978-3-415-07416-3, gebunden 39,80 Euro.

Mit dem Buch will Füllgrabe „Hinweise darauf (liefern), wie man in gefährlichen Situationen seine Überlebenschancen erhöhen kann, und vermittelt einen realistischen Optimismus: Man hat selbst in Gefahrensituationen mehr Chancen, als man glaubt“ (S. 7).

Die 8. Auflage dieses Buches wurde bereits von mir hier besprochen. Die 10. Auflage bietet lt. Verlagsangabe (lediglich) folgende zusätzliche Themen: „Wie man Survivability wissenschaftlich ermittelt. Aus welchen Gedanken ein Gefahrenradar bei einer Fahrzeugkontrolle bestehen kann. Wie man einen Überfall oder eine Entführung in einem Restaurant vermeidet“.

Unter „Survivability“ versteht der Autor dabei: „… die psychologische Grundlage und Voraussetzung der erfolgreichen Gefahrenbewältigung. Die Bedeutung der Psychologie dabei wird bereits alleine schon durch die Tatsache dokumentiert, dass viele polizeiliche Techniken psychomotorische Fähigkeiten beinhalten, wobei körperliche und psychologische Faktoren eng verzahnt sind. Und dass das bloße Üben von Techniken nicht ausreichend ist, belegt die in der Praxis und sogar in Rollenspielen nicht selten beobachtbare Tatsache, dass es relativ vielen Polizeibeamten schwerfällt, eine psychologische Schwelle zu überschreiten und den Schritt vom Sprachlichen zum praktischen Handeln zu machen: Wenn jemand bedrohlich direkt auf sie zugeht oder sich weigert, einer Anordnung zu folgen oder sie beschimpft … Dieses Buch zeigt auch auf, dass das Beherrschen von Kampfsport alleine nicht immer gegen Angreifer hilft. Psychologische Faktoren spielen nämlich in dieser Situation eine wichtige Rolle“ (S. 7). Warum er dafür nicht das deutsche Wort Überlebensfähigkeit verwendet, erklärt er nicht.

Der Verlag bewirbt das Buch nach wie vor auf seiner Website[1] damit, , dass es eine „Tatsache“ sei, „dass sich in der letzten Zeit nicht nur Angriffe auf Polizisten häufen, sondern auch auf Feuerwehrleute und Rettungskräfte“ und dies die Notwendigkeit dieses Buches belege, dann wird man als Kriminologe hellhörig. Denn der Anstieg, von dem hier ausgegangen wird, ist nach wie vor nicht belegt. Vor allem wurde die Diskussion in den vergangenen Jahren aber durch Berichte über Gewalt durch Polizeibeamt*innen geprägt, und hierauf geht der Autor nach wie vor nicht intensiv genug ein; vor allem verkennt er nach wie vor den dynamischen Charakter von gewalttätigen Auseinandersetzungen und die Tatsache, dass oftmals hinterher nicht feststellbar ist, wer oder was tatsächlich der Auslöser der Gewalt war.

Man mag der Auffassung sein, dass dies nun eben nicht das Thema des Buches von Füllgrabe ist, aber die Ereignisse der jüngsten Zeit haben gezeigt, dass sich nicht nur die gesamtgesellschaftliche Situation, sondern auch das Verhalten der einzelnen Polizeibeamt*innen geändert hat[2] und die Ausbildung dem nicht Rechnung trägt. Polizeiausbilder in Deutschland arbeiten einer aktuellen Studie zufolge „ziellos, ineffektiv und ohne Reflexion ihrer Arbeit“. Dabei wenden sie zwei Hauptstrategien an, um ihre Lernenden auf die Ziele der Ausbildungssitzung vorzubereiten. Erstens konzentrieren sie sich darauf, die Lernerfahrung unterhaltsam zu gestalten, und zweitens weisen sie auf die Relevanz der zu erlernenden Fähigkeiten hin. Die Daten deuten jedoch darauf hin, dass die Ausbilder der Polizei im Allgemeinen nicht in der Lage sind, Ausbildungsziele festzulegen und ihre Ausbildung kohärent und effektiv auszurichten. Darüber hinaus gab es so gut wie keine weitergehende Reflexion über die Durchführung der Schulungseinheiten.

Auf die gesellschaftssoziologische und gesellschaftspsychologische Entwicklung, bei der auch Covid-19 eine Rolle gespielt hat, geht Füllgrabe leider nur am Rande und in dem Kapitel „Corona und der schwarze Schwan“ (S. 145 ff.) ein. Am Beispiel der Corona Pandemie könne gut aufgezeigt werden, welche Probleme z. B. ein fehlender Gefahrenradar auslöst. Gleichzeitig könne mit dem schwarzen Schwan gut die Fehlinterpretation von Wahrscheinlichkeiten illustriert werden. Es gelte also: „Erwarte das Unerwartete, sei vorbereitet. Aber selbst wenn man nicht spezifisch auf bestimmte Gefahren vorbereitet sein sollte, ist es analog zum Immunsystem, das auch lernt und schnell in der Lage ist, auch auf neue Gefahren zu reagieren. Ähnlich kann es offensichtlich z.B. bei Selbstverteidigungstechniken zu einer Generalisierung des Gelernten kommen. Ich habe dies selbst einmal beim Judo erlebt, wo ich einen Angriff eines Würgegriffs mit einer nicht gelernten Technik abwehrte“ (S. 146).

Das Kapitel, in dem sich dieser Passus befindet, ist mit „Der Gefahrenradar“ überschrieben (Kap. 9, ab S. 115) und ist ebenso wie das anschließende Kapitel, das sich mit „synergistischem Denken“ beschäftigt, spannend zu lesen, auch wenn der Bezug zum eigentlichen Thema das Buches hier und da etwas verloren geht – aber das ändert nichts daran, dass das Buch von Füllgrabe hilfreich und notwendig. Es zeigt auf, dass das Beherrschen von Kampfsport allein nicht immer gegen Angreifer hilft, und dass der Ruf nach mehr Repression durch Politik und Gewerkschaften eher wohlfeil ist. Psychologische Faktoren spielen bei Konflikten im Polizeialltag eine wichtige, vielleicht sogar die entscheidende Rolle (s. dazu ausführlicher meine letzte Besprechung).

Der Autor zeigt auf, wie man „seine Überlebenschancen durch Beachtung psychologischer Faktoren erhöhen kann“ – auch wenn diese Formulierung des Verlages unangemessen plakativ ist, denn es gibt durchaus andere Berufe, die gefahrenträchtiger sind, und die Wahrscheinlichkeit eines Suizid-Todes im Polizeidienst[3] ist um ein Vielfaches höher als ein Tod, der durch das sog. „polizeiliche Gegenüber“ verursacht wurde. Er zeigt letztlich aber eben auch auf, wie gewalttätige Auseinandersetzungen generell vermieden werden können – und das hilft letztendlich beiden Seiten: Den (ggf. gewaltgeneigten) Polizeibeamt*innen und den (ggf. gewaltbereiten) Bürger*innen.

Der Autor beschäftigt sich u.a. damit, welche Rolle psychologische Faktoren spielen, wie sich Gewalt entwickelt und wie sie vermieden werden kann. Behandelt werden auch polizeiliche Fehler bei der Eigensicherung, die Steuerung von Situationen, „mentales Judo“ (leider fehlt ein Kapitel über „verbal judo“). Die/der Leser*in kann selbst prüfen, ob sie oder er vorbereitet, einsatzkompetent, und beispielsweise das Phänomen „Suicide by cop“ kennt und ob man weiß, wie man den „lagebedingten Erstickungstod“ verhindern kann. Behandelt werden auch die unterschiedlichen Motivationen von gewaltbereiten Personen.

Leider nach wie vor nicht behandelt (zumindest nicht ausdrücklich) wird der Umgang mit psychisch gestörten Personen, obwohl dies in den vergangenen Jahren zu einem bedeutsamen Problem geworden ist, da zunehmend solche Personen durch polizeilichen Schusswaffengebrauch zu Tode kommen. Schätzungsweise drei von vier von der Polizei im Einsatz getöteten Personen sind psychisch beeinträchtigt[5].

Der Besprechung lag das eBook (als pdf) zugrunde. Empfohlen wird allerdings nach wie vor die Anschaffung des gedruckten Buches, das zum Nachschlagen deutlich besser geeignet ist.

Thomas Feltes, Juli 2023

 

 

[1] Die Website ist im Übrigen nicht einfach zu finden. Gibt man Füllgrabe und den Titel sowie den Verlag in die Suchmaske eines bekannten Browsers ein, so landet man auf einer leeren Seite des Verlages. Die Suche auf der Verlagsseite selbst führt dann zum Ziel.

[2] Ein 26-seitiges „Expertenpapier“ von 2017 aus dem Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei NRW hat die Recherchegruppe ebenfalls veröffentlicht. Darin wird etwa empfohlen, die Polizei müsse „gewaltfähiger” werden, begründet wird dies u.a. mit der (sozialen) Herkunft der (jüngeren) Polizeibeamt*innen. Die handlungsleitende These lautet: „Die Polizei NRW muss an Konsequenz, Stabilität, Führungsstärke und Robustheit deutlich zulegen!” Der Grund für diese neue Härte: Gewalt und Respektlosigkeit gegenüber Polizeibeamt*innen hätten zugenommen, darauf müsse man reagieren. Die Leitlinie „Kommunikation, so lange wie möglich“ sei in der Polizei mehr oder weniger unausgesprochen durch „Einschreiten, so konsequent wie möglich“ ersetzt worden, schreibt Dirk Heidemann in einem Aufsatz anlässlich des Todes von Dramé. Heidemann leitete bis 2022 den Bereich Polizeiliche Führungslehre an der DHPol. In seinem Text verweist er auch auf das „Expertenpapier“ und sieht einen Zusammenhang zwischen diesen Überlegungen und dem tatsächlichen Verhalten von Polizeibeamt*innen im Einsatz: „Ein solcher Rahmen verändert die Annahmen, die einzelne Polizeibeamt/innen auf dem Weg in den Einsatz bilden und die für sie handlungsleitend werden.“ Die Folge sei: Durchsetzung statt Kommunikation und Verständigung. Als Beispiel führt er das Ereignis in Dortmund an: Gerade einmal zwei Minuten Zeit nehmen sich die Polizeibeamt*innen, um Mouhamed Dramé anzusprechen, bevor sie gewaltsam gegen den bis dahin regungslosen Jugendlichen vorgehen. Zitiert nach meinem Vortrag (s. FN 5).

[3] Diese Rate ist mindestens doppelt so hoch wie in der Durchschnittsbevölkerung. Hinweise aus dem Ausland (Frankreich, Österreich) weisen jedoch darauf hin, dass sie durchaus noch deutlich höher sein kann.

[5] S. dazu meinen Vortrag an der DHPol und vor Polizeiseelsorger*innen im Mai 2023; verfügbar hier.