Kristine von Soden, »Ob die Möwen manchmal an mich denken?« Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee. ISBN 978-3-949302-17-6, AvivA-Verlag Berlin, 2. Auflage 2023, 240 S., 22 €.
Wer in diesem Jahr seinen Urlaub an der Ostsee verbracht hat oder noch verbringt, hat wahrscheinlich nicht daran gedacht, dass dieses Urlaubsgebiet nicht nur zu DDR-Zeiten eine besondere Rolle spielte, sondern auch vor und während der Nazi-Herrschaft. Das Buch von Kristine von Soden beschäftigt sich mit dem sog. „Bäder-Antisemitismus“ und zeigt anhand sehr konkreter Beispiele, dass es schon lange vor 1933 einen Antisemitismus in Deutschland gab, der sich auch und gerade im Urlaubsgebiet Ostsee zeigte.
Bereits mit dem Aufstieg der Seebäder im Wilhelminischen Kaiserreich ab 1871 kam der »Bäder-Antisemitismus« auf. »Judenrein!« lautete die Parole an der deutschen Ostseeküste, lange bevor der NS-Staat Wirklichkeit war. Schon damals druckten jüdische Zeitungen »Bäderlisten« ab, warnten vor Badeorten, in denen jüdische Gäste unerwünscht sind. Als »Judenbäder« wiederum galten Orte wie Heringsdorf, wo zunächst noch eine liberale Atmosphäre herrschte.
Anhand einer Fülle historischer Quellen, Tagebucheinträgen, Reiseberichten und Briefauszügen jüdischer Badeprominenz sowie Schilderungen des sommerlichen Bäderalltags zeichnet Kristine von Soden ein facettenreiches Bild jener Zeit bis 1937, als nahezu alle Orte und Strände für jüdische Badegäste verboten waren. Aktualisiert und durch zahlreiche Dokumente speziell zu Warnemünde und Kühlungsborn erweitert sowie mit eindrucksvollen zusätzlichen neuen Abbildungen versehen, schuf die Autorin ein Standardwerk – in literarischem Stil und zugleich wissenschaftlich fundiert.
Dem Leser wird bei der Lektüre dieses nicht nur sehr informativen, sondern auch optisch und bibliographisch schön aufgemachten Bändchens anschaulich vor Augen geführt, wie sich der ganz alltägliche Antisemitismus in den Bädern der Ostsee und darüber hinaus ausbreitete. Die Tatsache, dass es bislang kaum wissenschaftliche Studien darüber gab, macht das Buch so wertvoll. Bereits 1879 wurde eine „Antisemiten-Liga“ ausgerufen (S. 16). Viele Ostseebäder (wie Warnemünde, Boltenhagen oder Graal und Müritz, S. 154) inserieren auch ausdrücklich, dass sie nur an Nicht-Juden vermieten. Ab 1935 stehen dann Schilder wie „Juden Stop!“ „Juden unerwünscht!“ oder „Badestrand nur für Arier!“ in vielen Badeorten (S. 181). Dabei geschieht die Vertreibung der Juden „von unten“ und Rechtsnormen missachtend (aaO.) – also nicht auf Anordnung „von oben“.
Die Autorin beschreibt nicht nur das „Badeleben“ in diesem Zeitraum, sondern macht an den Beispielen berühmter Zeitgenoss*innen deutlich, dass es zwar Widerstand gegen diese antisemitischen Bestrebungen gab, dass sich aber im alltäglichen Geschehen der Antisemitismus immer weiter ausbreitete – und, ähnlich wie heute leider wieder – zumindest in bestimmten Bevölkerungsgruppen dieser gesellschaftliche Akzeptanz erfährt.
Zu den Zeitgenoss*innen, die sich an der Ostsee oftmals länger aufhielten, gehörten u.a. Hannah Arendt (dazu ausführlich S. 47 ff.), Eva und George Grosz, Eva und Victor Klemperer, Käthe Kollwitz, Else Lasker-Schüler, Kurt Tucholsky u.v.a.
Zitate von ihnen zur damaligen Lage baut die Autorin in ihr Werk ein, was die Lektüre zusätzlich spannend macht. Viele jüdische Badegäste kehren danach nicht mehr an die Ostsee zurück, teilweise weil sie, wie Albert Einstein (S. 121), emigriert sind.
Der Titel des Buches gibt übrigens eine Aussage des Stummfilm-Stars Asta Nielsen wider, für die Hiddensee eine „Oase in der Ostsee“ war, wo sie sich in Drehpausen oft mehrere Monate aufhielt. „Nirgends war man so froh, so jung und so frei wie auf dieser schönen Insel. Aber ach, bald hatten wir 1933, und die Stimmung wandelte sich“ … . »Ob die Möwen in Vitte manchmal an mich denken?«, fragt sich Asta Nielsen nach dem Untergang des Rassenwahns in ihrer dänischen Heimat. Nie wieder kehrt sie in ihr rundes Paradies (ihr Haus, TF) auf Hiddensee zurück“ (S. 124).
Ein Buch, das uns in eine nur in Bezug auf die Beschreibungen der Ostsee-Bäder auf den ersten Blick in eine „andere“ Zeit versetzt; zu vielem, was von Soden beschreibt, lassen sich Parallelen bis in die Gegenwart ziehen – was zum Nachdenken Anlass gibt.
Thomas Feltes, Juli 2023