Dirk Fabricius, Ulrich Kobbé, asozial – dissozial – antisozial. Rezensiert von Thomas Feltes

Dirk Fabricius, Ulrich Kobbé, asozial – dissozial – antisozial. Wider die Politik der Ausgrenzung, ISBN 978-3-95853-832-0, Papst-Verlag Lengerich 2023, paperback, 30.- Euro; als PDF ISBN 978-3-95853-833-7, 15,00 Euro.

Dieser Herausgeber-Band versammelt interdisziplinäre Beiträge zur Diagnostik, Klassifikation und Etikettierung, zur Herstellung von Bildern, Urteilen und Vorurteilen und zum gesellschaftlichen Ausschluss von „Täterpersonen“ – so die Herausgeber in ihrem Vorwort (S. 15). Dabei soll es nicht darum gehen, dass es in jeder Gesellschaft unterschiedlich kriminelle oder delinquente oder unsozial handelnde Täterpersonen gibt; es geht darum, wie „wir (sic!), die Experten, mit ihnen umgehen“. Dabei bleibt, und hier ist den Herausgebern uneingeschränkt zuzustimmen, das Soziale ausgeblendet, worauf Rasch schon 1986 hingewiesen hatte.

Die Praxis, forensische Prototypen einer asozialen, antisozialen oder dissozialen bzw. psychopathischen Persönlichkeit zu schaffen und diese mit wissenschaftlichen Methoden abzusichern und zu zementieren, muss, so die Herausgeber, in ihrem Pragmatismus grundsätzlich hinterfragt werden – und der Rezensent möchte ergänzen: Nicht nur in dem Pragmatismus, sondern auch in der wissenschaftlichen Seriosität und Validität und der ethischen Vertretbarkeit. Menschen auf Prototypen zu reduzieren macht sie zu Objekten und vernachlässigt den Subjektcharakter jedes Individuums – etwas was das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich verboten hat: Niemand darf zum Objekt staatlichen Verfahrens (wozu auch Unterbringung und Begutachtung als Ausfluss staatlichen Handelns gehören) degradiert werden (sog. „Objektformel“).

Denn – und auch hier verdienen die Herausgeber uneingeschränkte Zustimmung – die „Antisoziale Persönlichkeitsstörung (ASPS) des DSM-5 bzw. Dissoziale Persönlichkeitsstörung (DSPS) des ICD-10 und das Psychopathie-Konzept (PP) sind keine wissenschaftlich, klinischdiagnostisch und therapeutisch tragfähigen Paradigmen“ (aaO.).

Die Mainstream-Diskurse (die oftmals nicht einmal das sind, sondern sich gegenseitig bestärkende und verfestigende Monologe, vor allem in forensischen Gutachten) über solche Täterpersonen und deren Bedingungen, Motive und Eigenschaften erweisen sich „als verengte und damit undialektische, als psychosoziale Bedingungsfaktoren ausblendende Konstrukte. Dabei wird das Soziale zum Aktionsfeld bio-psycho-sozial (v)erklärter Diagnostik umfunktioniert und die Dialektik von prosozialen/asozialen/unsozialen Einstellungen und Verhaltensweisen ignoriert“ (aaO.).

Weil es aber um ein ganzheitliches (ein mehr als nur bio-psycho-soziales) Konzept des Tätersubjekts und des strafrechtlichen, diagnostische und resozialisierenden Umgangs mit ihm gehe, bedürfe es eines „ganzheitlichen, transdisziplinären Buchprojekts mit aufklärerisch, empirisch, ethisch, juristisch, psychiatrisch, psychologisch, rechtsphilosophisch, soziologisch, therapeutisch begründeten Beiträgen“ (aaO.).

So weit, so gut. Leider wird zumindest das Ganzheitliche in dem Buch nicht wirklich sichtbar. Die Beiträge stehen relativ unvermittelt und auch ohne den Versuch, sie inhaltlich zu verbinden, neben- bzw. hintereinander.

Die Grundidee, zu verdeutlichen, dass das Ziel von Straf- wie Maßregelvollzug „auch für rücksichtslos, feindselig, ausbeuterisch handelnde Täter auf rückfallpräventive Resozialisierung, Rehabilitation, Reintegration ausgerichtet sein“ muss (aaO.), ist gut und richtig. Leider fehlt es aber schon an einer überreifenden Definition, was denn genau „Resozialisierung“ und „Reintegration“ sein sollen oder welche Ziele dabei erreicht werden sollen.

Dennoch ist das Buch als Ganzes wichtig, und man hätte ihm eine etwas intensivere (sprachlich wie inhaltliche) Lekoratsbetreuung gewünscht. So liefern „15 international vernetzte Insider“ (so der Verlag reichlich nebulös) ihre jeweils individuellen Sichtweisen zu einzelnen Aspekten der Problematik ab, wobei das Ziel, eine „fundamentale Reform krude ausgrenzender Praxis anzustoßen“ mangels Koordination nur schwerlich erreicht werden kann.

Aber zum Inhalt, wobei das Inhaltsverzeichnis dankenswerterweise online zur Verfügung steht.

Nach einem Vorwort der Herausgeber Dirk Fabricius und Ulrich Kobbé (ja, es ist ein Herausgeberbuch, obwohl weder das Cover des Buches, noch die Website des Verlages dies deutlich machen, was – vorsichtig formuliert – irreführend ist) gibt es fünf Kapitel, die (leider wenig inhaltsschwer, dafür umso verwirrender) mit „Im sozialen Raum“ (S. 21 ff), „Ent-Würfe“ (S. 77 ff.), „Zwischenruf“ (S. 105 ff.), Fragen und Antworten“ (S. 115 ff.) und „Perspektiven und Projekte“ (S. 223 ff.).

Der Beitrag von Lorenz Böllinger zu Beginn des Buches (Von der Psychopathy zur Makro-Psychopathie. Zur fragwürdigen Karriere einer Psychodiagnose, S. 21 ff.) gibt einen ersten Einblick in die Zielrichtung des Buches: Die den Titel prägenden Begriffe sollen delegitimiert und entlarvt werden, ihre missbräuchliche Verwendung aufgezeigt und die (erheblichen) Risiken und Nebenwirkungen der Begriffe in der Verwendung z.B. durch Gutachter oder Therapeuten aufgezeigt werden.

Dies gelingt dem Buch insgesamt recht gut, auch wenn der Rezensent gestehen muss, dass er etwas Schwierigkeiten hatte, sich durch das Konvolut der doch sehr (auch theoretisch) unterschiedlichen Ansätze und Beiträge zu kämpfen. Dem Leser wird durch die teilweise überbordende Verwendung von (auch pseudo-)wissenschaftlichen Begriffen, durch überlastige Theoriekonstruktionen und oftmals kaum nachvollziehbare Satzkonstruktionen es nicht leicht gemacht, der Argumentation zu folgen.

Wenn in Beiträgen die Grundprinzipien der deutschen Grammatik und Rechtschreibung in Frage gestellt werden – offensichtlich um damit zu provozieren und/oder besondere Aufmerksamkeit zu wecken – dann muss die Frage erlaubt sein, ob man nicht durch einfachere Sprache, übersichtlichere Satzkonstruktionen und insgesamt klarere Aussagen das Ziel des Buches (s.o.) besser erreicht hätte.

So werden sicherlich die nicht so tiefschürfend-theorieinteressierten Leser*innen relativ schnell das Interesse an dem Buch verlieren, auch weil weder ein roter Faden, noch eine klare Message das Buch durchziehen. Kapitelüberschriften wie „Der institutionelle Psy-Bereich und die Rechtsprechung über das Subjekt“ (S. 77 ff.) lassen nicht einmal ansatzweise erkennen, worum es gehen soll. Und wenn „Geisteskrankheit – ein moderner Fluch“ (S. 115 ff.) sein soll, dann fragt man sich, was an dem Begriff „Geisteskrankheit“ „modern“ sein soll.

Diese Kritik betrifft zwar nicht alle Beiträge, aber doch die meisten. Positiv hervorzuheben ist das Kapitel (oder besser der Beitrag, denn wirkliche Kapitel finden sich in dem Buch nicht) von Bruno Gravier Von der Diagnose der anti- oder dissozialen Persönlichkeit zur Diagnose der Psychopathie: ethische Sackgassen und gesellschaftliche Fehlentwicklungen“, S. 179 ff.) ebenso wie der Beitrag von Allen Frances über die „Missbräuchliche Verwendung von Diagnosen aus dem Diagnostischen und Statistischen Manual in Fällen sexueller Gewalttäter“ (S. 187 ff.). Und auch der Beitrag von Annika Gnoth zur Anpassungsleistung – (negatives) Storytelling in der Forensischen Psychologie und Psychotherapie (S. 259 ff.) ist durchaus lesenswert und weiterführend.

Insgesamt ein Buch, das nach seiner Lektüre mehr Fragen hinterlässt, als aufklärt – dabei wäre doch genau Letzteres so wichtig in diesem von der psychiatrisch-medizinischen-forensischen Gutachtermafia dominierten Bereich.

Thomas Feltes, Juli 2023