Viktor Glass, Schüssler und die verschwundenen Mädchen. Rezensiert von Thomas Feltes

Viktor Glass, Schüssler und die verschwundenen Mädchen. Pendragon Verlag Bielefeld 2018, 296 S., ISBN 978-3-86532-609-6, 13.- Euro.

Kriminalromane (oder besser: ihre Autor*innen) haben ihren jeweils eigenen Charakter, und nicht bei allen lohnt es sich (aus unterschiedlichen Gründen[1]), dass sie hier vorgestellt zu werden. Bei dem Roman von Viktor Glass lohnt aber aus verschiedenen Gründen die Lektüre.

Der (kriminal-)Roman spielt in Augsburg im Jahr 1890. Durch die Industrialisierung verlieren viele Dienstmädchen ihre Lebensgrundlage. Einige von ihnen sehen keinen anderen Ausweg, als sich umzubringen, andere verschwinden spurlos. Die Polizei geht in allen Fällen von Freitod aus und stellt deshalb keine Ermittlungen an. Da wendet sich ein Mann an den Privatermittler Ludwig Schüssler und erteilt ihm den Auftrag, nach seiner Verlobten zu suchen. Zunächst ist Schüssler skeptisch, aber schließlich findet er erste Hinweise auf einen organisierten Mädchenhandel – der natürlich nicht mit dem Menschenhandel der heutigen Zeit vergleichbar ist. Seine Ermittlungen, natürlich im Stil der Zeit ohne Handy, Telefon, ohne PKW, betreibt er zusammen mit einer Frau, die er zufällig kennenlernt und die als Haushälterin in eine außerhalb eines Klosters gelegenen Nonnen-WG (sowas gab es damals schon) arbeitet.

Der Roman besticht durch seine Detailgenauigkeit und die Eindrücke, die dem Leser höchst anschaulich vermittelt werden und die ihm – abseits des kriminellen Geschehens, einen guten und spannenden Einblick in das Leben in Süddeutschland vor etwas mehr als einem Jahrhundert geben.

Das ausgehende 19. Jahrhundert ist für den heutigen Leser Lichtjahre entfernt. Dabei liegen nur zwei bis drei Generationen zwischen der Zeit damals und heute – zumindest bei älteren LeserInnen. Daher ist es schon aus diesem Grund lesenswert, und zudem für alle, die an Polizeigeschichte interessiert sind. Zwar nur am Rande, aber auch hier eindrucksvoll, beschreibt er die Art und Weise, wie damals „poliziert“ wurde.

So ganz nebenbei erhält man auch eine Lektion im Augsburger Schwäbisch und lernt, was ein „Boazahauffa“ ist – nämlich ein Haufen gebündelter „Batzen“, wobei ein „Batzen“ prall gepackte „Tatzen“, also so viele Äste, die gerade noch in eine Hand passen. Der Knüppelkathrin, die die Ermittler unterwegs treffen, wird dann „kuaranzanaachd“, weil sie Holz auf den Kopf bekommen hat – „vollkommende Finsternis“ auf Hochdeutsch (S. 182 f.).

Die erzählte Geschichte ist spannend, was das Buch aber besonders auszeichnet ist, dass es dem Autor gelingt, das Flair der damaligen Zeit zu vermitteln, wobei „Flair“ hier eher der falsche Ausdruck ist: Es geht eher um die (teilweise unmenschlichen) Belastungen, die der Alltag damals mit sich brachte, aber auch um die (fast einzige) Form der Freizeitgestaltung: Den Gang in die lokale Gastwirtschaft, die als Kommunikationszentrum und Ersatz für Telefon und Fernsehen diente.

Der Autor, Viktor Glass, geboren 1950 in Iserlohn, studierte Sinologie und Publizistik an der Ruhr-Universität in Bochum. Er veröffentlichte mehrere Bände mit Erzählungen und Romanen, u. a. den sehr erfolgreichen Roman »Diesel« über das Leben von Rudolf Diesel. Viktor Glass lebt in Augsburg und ist ein hervorragender Kenner der Augsburger Industrie- u. Sozialgeschichte.

Thomas Feltes, August 2023

[1] Erst kürzlich habe ich die Besprechung eines Romans abgelehnt, der damit geworben hat, dass der Autor als Krankenpfleger in der Psychiatrie, in der chirurgischen Notaufnahme einer großen Klinik und in Kriegs- und Krisengebieten tätig war – und auch als Rettungssanitäter. Von seinem Roman (es ist nicht er einzige), „frei nach wahren Gegebenheiten“, hatte ich mir auch vor dem Hintergrund unserer früheren Studien über Gewalt gegen Rettungskräfte (erste Studie aus 2012 hier, zweite Studie aus 2017/18 hier, die umfangreichere Arbeit von Marvin Weigert ist im Verlag für Polizeiwissenschaften erschienen) einen Einblick in diese Tätigkeitsbereiche versprochen – das Ergebnis ist aber eine überzogene Persiflage.