Die Kriminalwissenschaften als Teil der Humanwissenschaften. Festschrift für Dieter Dölling zum 70. Geburtstag. Hrsg. von H. Beisel u.a.. Rezensiert von Andreas Ruch

Die Kriminalwissenschaften als Teil der Humanwissenschaften. Festschrift für Dieter Dölling zum 70. Geburtstag. Herausgegeben von Horst Beisel, Torsten Verrel, Christian Laue, Bernd-Dieter Meier, Arthur Hartmann, Dieter Hermann. Nomos, Baden-Baden 2023, 1.111 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8487-8338-0, 199,– Euro.

Die Herausgeber der Festschrift für Dieter Dölling zum 70. Geburtstag würdigen den Jubilar als einen „in der ganzen Breite des Fachs tätigen Kriminalwissenschaftler […], wie er heute kaum noch vorzufinden ist“ (S. 17). „Seine Arbeiten decken nicht nur ein breites Spektrum ab, insbesondere Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafrecht, sie überschneiden sich zudem mit Themen aus Soziologie, Psychiatrie, Psychologie, Pädagogik, Philosophie und Geschichte.“ (S. 15). Dieter Dölling ist es in seinem wissenschaftlichen Wirken gelungen, „singuläre Themen zu verknüpfen und den Austausch zwischen den verschiedenen Teilen der Wissenschaft und den Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis herzustellen“ (S. 26).

Der Blick in das Inhaltsverzeichnis zeigt, dass die Interdisziplinarität der Forschung des Jubilars und der von ihm betriebene Austausch zwischen Theorie und Praxis auch in der ihm gewidmeten Festschrift ihren Widerklang findet. Zahlreiche der vom Jubilar geprägten Forschungsbereiche werden von den Autorinnen und Autoren aus ihrer jeweiligen fachlichen Perspektive heraus betrachtet. Auf diese Weise entstehen über die klassische Aufteilung der Festschrift in ein strafrechtliches, jugendstrafrechtliches und kriminologisches Kapitel (und in ein Kapitel mit weiteren Beiträgen) kapitelübergreifende thematische Gemeinsamkeiten, welche sich auch als Ausdruck einer Würdigung der Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte Dieter Döllings begreifen lassen. Einzelne dieser thematischen Schwerpunkte der Festschrift sollen im Folgenden nachgezeichnet werden.

Eine Reihe von Beiträgen befasst sich mit Befunden aus der vom Jubilar mitinitiierten MHG-Studie, in der mit einem interdisziplinären Ansatz der sexuelle Missbrauch im Verantwortungsbereich der katholischen Kirche untersucht worden ist. Kruse (S. 821) betont in seinem Beitrag die Bedeutung der Aufarbeitung von Missbrauchstaten für die psychische Situation von Missbrauchsopfern, aber auch für das Selbstverständnis der katholischen Kirche in Form eines Beitrags zur institutionellen Erneuerung. Schmitt (S. 939) zeigt die Hürden für Betroffene bei der Offenlegung von Taten auf und berichtet davon, dass sich ein Großteil der Betroffenen dagegen entscheidet, sich anderen Personen mitzuteilen. Dieser Befund fügt sich ein in die im vorgenannten Beitrag von Kruse hervorgehobene Bedeutung der Hinwendung zur psychischen Verfasstheit von Missbrauchsopfern und es stimmt den Leser daher umso nachdenklicher, wenn man bei Schmitt erfährt, dass auch für diejenigen Personen, die sich ihrem Umfeld gegenüber geöffnet haben, dieser Schritt „nicht die erhofften Folgen gehabt zu haben“ scheint (S. 948).

Mit der systematischen Aufarbeitung der Missbrauchstaten durch die katholische Kirche befasst sich Schöch (S. 951). Er hebt in seinem Beitrag die Vorzüge institutionell unabhängiger wissenschaftlicher Untersuchungen gegenüber einer gutachterlichen Aufarbeitung durch Rechtsanwaltskanzleien hervor. Ferner setzt er sich kritisch mit der an Diözesanangehörige gerichteten Anzeigepflicht auseinander, welche er mit guten Gründen im Konflikt zum Selbstbestimmungsrecht der Opfer über den weiteren Umgang mit der erlittenen Viktimisierung stehend sieht (S. 958). Pohlmann (S. 873) geht der Frage nach den Gründen für das Schweigen (innerhalb) einer ganzen Organisation nach. Der Beitrag legt eindrucksvoll die (auch aus polizeilichen und anderen Zusammenhängen bekannte) Bedeutung organisationsinterner Mechanismen und Regelungen im Umgang mit Fehlverhalten dar. Mit Hilfe eines solchen institutionentheoretischen Ansatzes argumentiert Pohlmann, dass „organisationales Schweigen […] nicht als ‚Organisationsversagen‘ verstanden [werden müsse], sondern als gelungener Vollzug der informellen Institutionenordnung der Organisation und des organisationalen Feldes“ (S. 878).

An die rechtstatsächlichen Forschungsarbeiten des Jubilars knüpfen zahlreiche Beiträge an, die Fragen der Kriminalprognose, des Strafzumessungsrechts und des Umgangs mit inhaftierten Personen aus verschiedenen disziplinären Blickwinkeln betrachten. Schall (S. 427) befasst sich mit dem Zweifelsgrundsatz bei Prognoseentscheidungen und betont damit zugleich die Bedeutung kriminologischer Kenntnisse in der strafgerichtlichen Praxis. Auch Egg (S. 653) befasst sich mit der Kriminalprognose und hebt die Herausforderungen bei der Exploration von Personen hervor, die wegen eines Tötungsdelikts verurteilt worden sind und bei denen nach langer Zeit der Haftverbüßung oftmals Bewältigungsstrategien (z.B. Abschwächung des Tathergangs) zu beobachten seien, welche wiederum die Prognoseentscheidung erschweren. Duttge (S. 181) richtet den Blick auf die Untersuchungshaft, bei der er die Tendenz zu grenzenloser Dauer vermutet. Als interessantes Korrektiv wird die Idee präsentiert, bei späterer Verurteilung zu Strafhaft die auf Grund der erlittenen Untersuchungshaft anrechenbaren Tage zu verdoppeln (S. 191). Auch zum selektiven Umgang der Staatsanwaltschaften mit Kriminalität finden sich Beiträge in der Festschrift. Laue (S. 377) analysiert den Umgang verschiedener Staatsanwaltschaften mit der Strafnorm des § 174c Abs. 2 StGB (sexueller Missbrauch im Rahmen eines psychotherapeutischen Behandlungsverhältnisses) und er attestiert der Justiz in diesem Zusammenhang eine Unkenntnis des Tatbestandes und eine Verharmlosung von Missbrauchstaten. Mangelnde justizielle Verfolgung erwähnt auch Bülte (S. 91), der sich mit der lückenhaften strafrechtlichen Aufarbeitung von Tierquälerei in Schlachtbetrieben befasst. Er schlägt vor, die Bezüge dieses Deliktsfeldes zur Wirtschaftskriminalität zu thematisieren, um damit das Deliktsfeld insgesamt mehr in den Fokus zu rücken.

Etliche Autorinnen und Autoren richten ihren Blick auf kriminalwissenschaftliche Themen mit Bezug zur Justizpraxis und zur Kriminal- und Sicherheitspolitik. Mit kommunaler Kriminalprävention und dem Sicherheitsempfinden innerhalb der Bevölkerung befasst sich Haverkamp (S. 695), die Ergebnisse aus dem Verbundprojekt „Sicherheit im Bahnhofsviertel (SiBa)“ vorstellt. Neben Einflussfaktoren auf das Sicherheitsgefühl stellt sie auch Ergebnisse zu (weit verbreiteten und bedenklich stimmenden) gruppenbezogenen Vorurteilen innerhalb von nachbarschaftlichen Quartieren vor. Heinz (S. 543) nimmt eine Bestandsaufnahme des Jugendarrestvollzugs vor. Der Beitrag zeigt anhand von Daten aus der Justizstatistik die Verurteilungszahlen zum Jugendarrest auf und unterstreicht die Bedeutung der empirischen Sanktionsforschung für eine evidenzbasierte Kriminalpolitik. Mit einem aktuellen Kriminalitätsphänomen befasst sich Meier (S. 847), der digitale Gewalt in den Fokus rückt und anhand einer Studierendenbefragung die Betroffenheit junger Menschen von sexualisierter Gewalt und Beleidigungen im digitalen Raum aufzeigt. Er verdeutlicht die Aufgaben (und sicherlich auch Chancen) für die empirisch arbeitende Kriminologie im Zusammenhang mit Kriminalitätsphänomenen in der digitalen Welt, insbesondere im Hinblick auf die Motive der Täter und die Folgen für die Betroffenen (S. 857).

Die in dieser Rezension vorgestellten Beiträge geben einen Einblick in die mit über 1.000 Seiten beeindruckend umfangreiche Festschrift für Dieter Dölling. Anhand der vorgenommenen Auswahl lässt sich deutlich das Bestreben sowohl der Herausgeber als auch der Autorinnen und Autoren erkennen, die Inhalte des Bandes eng an den Arbeiten und der Forschung des Jubilars auszurichten. Aus Sicht des Rezensenten ist dieses Vorhaben mehr als gelungen. Entstanden ist eine Festschrift, die durch ihren inhaltlichen Zuschnitt die beeindruckende Bandbreite und Arbeitstiefe der kriminalwissenschaftlichen Forschung Dieter Döllings widerspiegelt und diese zugleich um eigene Aspekte und neue Erkenntnisse ergänzt. In jedem Fall stellt die Lektüre einen Gewinn für die eigene wissenschaftliche Arbeit dar und sie liefert wertvolle Denkanstöße für die berufspraktische, wissenschaftliche und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Kriminalität.

Andreas Ruch, Oktober 2023