Christian Bumke, Andreas Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht. 9. Auflage; 2023. XXX, 713 Seiten. Mohr Siebeck Verlag, Tübingen, ISBN 978-3-16-161557-3, 44,00 €.
Polizeiliches Handeln greift fast immer in Grundrechte ein. Auch wenn diese Tatsache nur selten im Polizeialltag thematisiert wird und polizeiliches Handeln durch Polizei- und Strafprozessrecht geregelt ist, sollte jedem Polizeibeamten und jeder Polizeibeamtin klar sein, wo die verfassungsrechtlichen Grenzen ihres Handelns liegen und warum bestimmte Maßnahmen, die als erforderlich gehalten werden, nicht zulässig sind.
Inhalt und Reichweite unseres Grundgesetzes und der darin enthaltenen Vorgaben zum Schutz der Grundrechte sind wesentlich geprägt durch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Ziel des hier besprochenen „Casebooks Verfassungsrecht“ ist es, dem Leser die Argumentationsweise des Gerichts anhand von ausgewählten und systematisch aufbereiteten Entscheidungen und Originalpassagen aus diesen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts näherzubringen. Gleichzeitig soll auf diese Weise ein Überblick über die Grundzüge des deutschen Verfassungsrechts vermittelt werden.
Der erste Eindruck, dass ein solches Buch nicht unbedingt „praxisrelevant“ für die Polizei ist, wird schnell widerlegt, wenn man es aufschlägt. Nicht nur die Gliederung anhand der Artikel des Grundgesetzes (das Inhaltsverzeichnis ist online verfügbar), sondern vor allem die konzentrierte und klare Sprache machen es zu einem Handbuch, das jeder Polizeibeamte und jede Polizeibeamtin zumindest einmal angelesen haben sollte – um dann festzustellen, dass und warum viele Regelungen des Polizei- und des Strafprozessrechts einerseits so beschaffen sind, und andererseits auch verfassungsgemäß im Alltag angewandt und ausgelegt werden müssen.
Zudem kennt (jede/r?) viele Stichworte der wesentlichen Entscheidungen der vergangenen Jahre, wie z.B. das „Recht auf Vergessenwerden“ (S. 95 ff.), das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ (S. 97 ff.) oder – derzeit besonders aktuell, aber dennoch in den Hintergrund getreten – der sog. „Klimaschutzbeschluss“ des Gerichts aus dem Jahr 2019, in dem festgestellt wurde:
„Der Staat ist durch das Grundrecht auf den Schutz von Leben und Gesundheit … zum Schutz vor den Gefahren des Klimawandels verpflichtet. Er muss dem erheblichen Gefahrenpotential des Klimawandels durch Maßnahmen begegnen, die … dazu beitragen, die menschgemachte Erwärmung der Erde anzuhalten und den daraus resultierenden Klimawandel zu begrenzen“ (S. 114). Und weiter: „Art. 20a GG verpflichtet den Staat zum Klimaschutz. Zentrale Leitgröße für den klimatischen Zustand des Erdsystems insgesamt ist die mittlere Temperatur der Erde“ (S. 400).
Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts spielt zwar hier und da in Strafverfahren gegen „Klimakleber“ eine Rolle, wird in der aktuellen (auch polizeiinternen) Diskussion aber mehr oder weniger ausgeblendet – was die generelle Frage aufwirft, wie wir mit Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts dort umgehen, wo es (noch) nicht zu gerichtlichen Verfahren gekommen ist.
Aber auch Kernbereiche polizeilichen Handelns sind immer wieder von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts betroffen, wie die Online-Durchsuchung (S. 99 ff.) oder generell Durchsuchungen und Überwachungen von Wohnungen, die die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) berühren (S. 283 ff). Weitere Entscheidungen wie die zur „Kfz-Kennzeichenkontrolle“ und entsprechenden Fahndungsmaßnahmen (S. 100 f.), zum „BKA-Gesetz“ (S. 102 ff.) aber bspw. auch zur Gedankenfreiheit und zum „lauten Denken“ bzw. zum „Selbstgespräch im Auto“ (Stichwort Gedankenfreiheit, S. 105) helfen dabei, die grundlegenden Prinzipien des Verfassungsrechts zu verstehen.
Es ist sinnvoll, die wesentlichen Aspekte und Argumente in diesen Entscheidungen einmal nachzulesen, auch um zu verstehen, warum es bestimmte Einschränkungen für die Polizei gibt, Abwägungen von Grundrechten so wichtig sind und wie bedeutsam es ist, dass wichtige polizeiliche Maßnahmen einerseits ausreichend dokumentiert und andererseits auch angemessen rechtlich begründet werden. Auch aus diesem Grund ist das Casebook nicht nur für Polizeibeamte lesenswert, sondern eine fast schon unabdingbare Lektüre für Juristen, die in Polizeibehörden arbeiten und mit dafür verantwortlich sind, dass polizeiliche Maßnahmen sich zuvorderst an Recht und Gesetz orientieren – und damit auch an den Grundlagen des Verfassungsrechts.
Das Casebook beschränkt sich aber nicht auf die Wiedergabe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, sondern ordnet und strukturiert diese und fasst sie anschaulich und prägnant zusammen. So zum Beispiel zum Recht der Datenerhebung und -verwertung vor allem bei heimlichen Erhebungen, etwas, was in den vergangenen Jahren zunehmend eine Rolle spielt. Das „enge verfassungsrechtliche Anforderungsprofil“ an solche Maßnahmen fassen die Autoren zusammen (S. 105) und geben so einen prägnanten Überblick was bei solchen Maßnahmen zu beachten ist, und warum es die (von vielen Polizeibeamten so empfundenen) „Einschränkungen“ dabei gibt.
Zu den Autoren: Christian Bumke ist Inhaber des Commerzbank-Stiftungslehrstuhls Grundlagen des Rechts an der Bucerius Law School in Hamburg, Andreas Voßkuhle Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; von 2008 bis 2020 war er Richter, Vizepräsident und Präsident des Bundesverfassungsgerichts.
Thomas Feltes, Oktober 2023