Mohammed Ali Chahrour u.a. (Hg.), Generalverdacht. Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird. Rezensiert von Thomas Feltes

Mohammed Ali Chahrour / Levi Sauer / Lina Schmid / Jorinde Schulz / Michèle Winkler (Hg.), Generalverdacht. Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird. Nautilus-Verlag Hamburg 2023, 320 Seiten, ISBN  978-3-96054-328-2, 22,00 €

Als eine „Dekonstruktion des rassistischen Narrativs der »Clankriminalität«, das von Polizei, Medien und Politik betrieben wird“ beschreibt der Verlag das Buch, und im Klappentext heißt es: „Eine kritische Intervention in die rassistische Debatte um „Clankriminalität“. Selten ist ein Buch zu einem besseren Zeitpunkt erschienen: Seit geraumer Zeit verdichtet sich die Diskussion um die sog. „Clankriminalität“, die zuerst nur in Berlin und – wegen der überschießenden und schlagzeilensüchtigen Politik eines Innenministers – dann auch in NRW geführt wurde. Inzwischen hat die Diskussion auch andere Bundesländer und auch die Bundespolitik erreicht, und daher ist HerausgeberInnen, AutorInnen und Verlag zu danken, dass dieses Band gerade jetzt erscheinen konnte.

Laila Abdul-Rahman beschreibt in ihrem Beitrag (ab S. 114) die „Quadratur des Kreises“, dass es keine »Clankriminalität« ohne Rassismus gibt. Verwandtschaftsverhältnisse können zwar die Basis bestimmter Organisationsstrukturen sein, dies betrifft aber auch andere Kriminalitätsbereiche und vor allem ist es nicht das prägende Merkmal der Straftaten, die der sog. „Clankriminalität zugerechnet werden. Die Notwendigkeit einer eigenen Definition, Registrierung und Verfolgung im Bereich der Allgemeinkriminalität und Ordnungswidrigkeiten ist, wie Abdul-Rahman schreibt, „mehr als erklärungsbedürftig. Die Frage ist dabei nicht, ob es in arabischen, kurdischen, palästinensischen, türkischen Familien Kriminalität gibt, die Frage ist eher, warum sie anders behandelt wird als weiß-deutsche Kriminalität. Denn wenn das maßgebliche Unterscheidungskriterium die Abstammung ist, dann liegt nichts anderes als Rassismus vor“.

Wir sind die Kraft, die stets das Gute will und oft das Böse schafft“. Mit dieser Überschrift wollt mich eigentlich selbst mit dem Problem der polizeilichen Interventionen in diesem Bereich beschäftigen. Dem K(r)ampf gegen die sog. „Clankriminalität“ hatte ich mich schon vor längerem zusammen mit Felix Rauls gewidmet[1], und in einem Thesenpapier hatte ich anlässlich eines Vortrages am polizeilichen Bildungszentrum IBZ Gimborn am 08.03.2023 meine Analyse noch einmal pointiert – was im Ergebnis dazu führte, dass ich von anwesenden Polizeibeamten (sic!) beleidigt wurde und die Diskussion vorzeitig abbrechen musste.

Das obige Zitat, frei nach Goethe abgewandelt[2], ist eigentlich noch zu freundlich für das, was seitens der Innenminister und Polizeien in einigen Bundesländern und Städten seit geraumer Zeit praktiziert und vorgeführt wird. Die Aussagen von PolitikerInnen, die sich mit dem „Kampf gegen die Clankriminalität“ seit geraumer Zeit fürwahr profilieren wollen, sind teilweise menschenverachtend und erfüllen ansatzweise den Straftatbestand des § 130 StGB, der – nochmal zur Erinnerung – wie folgt lautet (gekürzt):

„Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, gegen eine … durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, … wegen dessen Zugehörigkeit … zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, … beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft“.

Dabei dürfte allen bekannt sein, dass „Kämpfe“ gegen bestimmte Formen von Kriminalität (ungeachtet der Frage, ob es sich bei der sog. „Clankriminalität“ um eine solche Form handelt) schon immer zum Scheitern verurteilt waren. Der „war on drugs“ als wohl der bekannteste dieser Kriege wurde 1971 ausgerufen und hat vor allem dafür gesorgt, dass die Gefängnisse in den USA überfüllt und zu Brutstätten der Kriminalität wurden. Bereits 2011 wurde das Scheitern dieses Krieges wissenschaftlich basiert festgestellt[3]. Kritiker des „War on Drugs“ haben festgestellt, dass er nicht dazu beigetragen hat, die Zahl der durch Drogenkonsum verursachten Todesfälle zu verringern. So haben die Todesfälle durch Drogenmissbrauch in den USA im Jahr 2021 mit 108.000 einen neuen Höchststand erreicht, und das, obwohl die Regierungen Obama, Trump und Biden sowie frühere Regierungen eine strenge Zeitplanung für den Drogenkonsum und obligatorische Mindeststrafen für Drogenkonsumenten beibehalten haben, die nach Ansicht von Kritikern nur sehr geringe Auswirkungen auf die Reduzierung des Drogenkonsums und der Todesfälle haben[4]. Als ineffektiv, Vergeudung von Finanzen und ungerecht wurde dieser Krieg bezeichnet. Und obwohl renommierte Kriminologen wie Inciardi[5] bereits 1986 dieses Scheitern voraussahen und (zumindest in den USA) aus dem Kampf gegen die Armut ein Kamp gegen Kriminalität wurde, der allerdings in Masseninhaftierungen endete[6].

Ähnliches darf und muss man für den Bereich der „Clankriminalität“ befürchten: Wer dauerhaft diffamiert und ausgegrenzt wird, wird irgendwann sich selbst so sehen und entsprechende Konsequenzen ziehen. Will man die jüngeren Mitglieder von Großfamilien für unsere Gesellschaft gewinnen (was unabdingbar notwendig ist, denn sie gehören zu unserer Gesellschaft[7]), dann geht dies nur über Integration und nicht über Diffamierung, Marginalisierung und Separierung.

Das Spezielle an den »Clankriminellen« soll vor allem die Abschottung und Ablehnung des Rechtsstaats sein. Um dazu noch einmal Laila Abdul-Rahman zu zitieren: „Denn wer kennt sie nicht, die »biodeutschen Kriminellen«, die dem Rechtsstaat tagtäglich die Ehre erweisen, gerne mit der Polizei zusammenarbeiten, sich dankbar einem Gerichtsverfahren stellen und Streitigkeiten untereinander niemals außerhalb des offiziellen Rechtssystems klären. Eigentlich braucht man keine Forschung, um zu merken, dass Menschen, die Straftaten begehen, nicht so gut mit dem Rechtsstaat harmonieren. Forschung braucht man aber dann doch, wenn man behaupten will, dass die gesamte Familie, egal wie entfernt, im strafrechtlichen Sinne mitverantwortlich ist für diese Kriminalität, und in jedem Parkverstoß eines Familienmitglieds den Ausdruck der Ablehnung des Rechtsstaats zu erkennen meint“.

Razzien, rassistische Kontrollen und Kriminalisierung in migrantischen Stadtteilen, die als Problembezirke gebrandmarkt werden, sind inzwischen an der Tagesordnung. Wer, wie Alexander Keßel[8], in den Medien von einem „Epizentrum“ der „Clankriminalität“ in NRW spricht, der sollte seine journalistische Tätigkeit besser einstellen.

Wenn, wie nur wenige Tage vor dem Erscheinen dieses Buches, die „Behörden“ mehrere Shisha-Bars und Cafés, unter anderem in der Essener Innenstadt kontrollieren und dabei (nach acht Stunden Arbeit) in einer Shisha-Bar Verstöße gegen das Rauchverbot feststellen und in einer anderen ein Polizist (angeblich) beleidigt wird, gleichzeitig bei einer Fahrzeugkontrolle 50 Autos „ohne größere Auffälligkeiten“ kontrolliert werden, und das Fazit lautet: „Unterm Strich stehen acht Stunden Kontrolle ohne dass größere Straftaten aufgedeckt werden“, dann grenzt dies an Schikane, zumindest wird offensichtlich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt. Aber das stört in der gegenwärtigen Diskussion offensichtlich (fast) niemand, und umso wichtiger ist das jetzt erschienene Buch.

Der falsche Familienname genügt, um auf polizeilichen Verdachtslisten zu landen und Politiker profilieren sich mit Null-Toleranz-Strategien gegen »kriminelle arabische Großfamilien« – „und tragen damit eine Mitverantwortung für rassistische Morde wie in Hanau. Während »Clankriminellen« vorgeworfen wird, keinen Respekt vor dem Rechtsstaat zu haben, werden im Zuge ihrer Bekämpfung gleich mehrere Grundprinzipien von Rechtsstaatlichkeit über Bord geworfen“.

Dieses Buch unternimmt erstmals eine kritische Bestandsaufnahme der Clan-Debatte aus kriminologischen, rechtswissenschaftlichen, soziologischen und feministischen Perspektiven: Wer ist gemeint, wenn von Clans gesprochen wird? In welcher Tradition stehen Kriminalisierungsstrategien im Umgang mit Migration in Deutschland? Welche orientalistischen Stereotype sind in der Clan-Debatte am Werk, und welche Folgen hat die Stigmatisierung für die betroffenen Menschen?

Die fast 30 Beiträge in dem Buch sind teilweise akademisch-wissenschaftlich ausgerichtet und analysieren das Problem des Umgangs mit dem Begriff „Clankriminalität“ und die Folgen aus verschiedenen Perspektiven. Zudem sind sog. „Dokumentationen“ enthalten, wie bspw. der Brief eines Kindes nach einer Hausdurchsuchung bei einer Familie in Neukölln (S. 76).

Gegliedert ist das Buch in vier Kapitel: Kap.1 „Zur Geschichte und Kontinuität der „Clan“-Kriminalisierung“ (S. 31 ff.), Kap. 2 „Clankriminalität als politischer Kampfbegriff“ (S. 79 ff.), Kap. 3 „Clankriminalität“ in Justiz und Strafverfolgung“ (S. 145 ff.) und Kap. 4 „Wirkmächtige Fantasien: „Clans“ als Mythos und Projektionsfläche“ (S. 177 ff.).

Es ist die Mischung aus wissenschaftlich gut fundierten Analysen und dem Bezug zu konkreten Geschehnissen im Alltag von sog. „Clanmitgliedern“, die dieses Buch auszeichnet. Es sollte Pflichtlektüre für alle PolitikerInnen, JournalistInnen, PolizistInnen und StaatsanwältInnen sein, die sich berufen fühlen (oder dazu berufen werden), in diesem Bereich zu agieren. Vielleicht führt das dazu, dass man einige davon zumindest manchmal erst nachdenken, bevor sie etwas tun oder sagen.

Übrigens findet am Donnerstag, 19. Oktober, 19 Uhr die Buchpremiere iVm einer Podiumsdiskussion mit den AutorInnen Çağan Varol, Laila Abdul-Rahman, Fariha El-Zein & Mohammed Ali Chahrour statt. Veranstaltungsort: Grüner Salon, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Linienstraße 227, Berlin.

Thomas Feltes, Oktober 2023

 

[1] Clankriminalität. Aktuelle rechtspolitische, kriminologische und rechtliche Probleme. In: Neue Kriminalpolitik 2021, S. 94 – 110); „Clankriminalität“ und die „German Angst“. Rechtspolitische und kriminologische Anmerkungen zur Beschäftigung mit sogenannter „Clankriminalität“. In: Sozial Extra 2020, 44, S. 372–377.

[2] Im Originaltext des „Faust“: „Nun gut, wer bist du denn?“ / Mephistopheles. „Ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Quelle: Johann Wolfgang von Goethe: Faust 1 – Hamburger Ausgabe Band 3, dtv, München 1982, S. 47, Studierzimmer, 1334-1336.

[3] In June 2011, the Global Commission on Drug Policy released a critical report on the war on drugs, declaring: „The global war on drugs has failed, with devastating consequences for individuals and societies around the world. Fifty years after the initiation of the UN Single Convention on Narcotic Drugs, and years after President Nixon launched the US government’s war on drugs, fundamental reforms in national and global drug control policies are urgently needed.“ War on Drugs. The Global Commission on Drug Policy. 2011. p. 24.

[4] https://reason.com/2022/05/13/a-record-number-of-drug-related-deaths-shows-the-drug-war-is-remarkably-effective-at-killing-people/

[5] James Inciardi, The war on drugs, Paolo Alto 1966; s.a. derselbe, The war on drugs / 3 The continuing saga of the mysteries and miseries of intoxication, addiction, crime and public policy. Paolo Alto 2002.

[6] Hinton, Elizabeth, From the war on poverty to the war on crime: the making of mass incarceration in America. Cambridge, London 2016.

[7] Die auch in diesem Kontext immer wieder erhobene Forderung nach Abschiebung ist wohlfeil, weil diejenigen, die dies fordern, genau wissen, dass eine Abschiebung aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen in den allermeisten Fällen nicht möglich ist.

[8] Selbstbeschreibung: “Alexander ist in der Stadt der tausend Feuer geboren und hat sein Herz dem Ruhrgebiet verschrieben. Folgerichtig zog es ihn nach diversen Stationen (Sambia, Bremen, Berlin) für die journalistische Ausbildung wieder zurück in die Heimat. Ob Fußball, Currywurst oder Steiger-Romantik – als Redakteur für die lokalen News in NRW bleibt der Pott der Dreh- und Angelpunkt seines Lebens“. https://www.derwesten.de/autoren/alexander-kessel