Eva Groß, Stefanie Kemme (Hrsg.), Basislehrbuch Kriminologie. Rezensiert von André Schulz

Eva Groß, Stefanie Kemme (Hrsg.), Basislehrbuch Kriminologie. Verlag Deutsche Polizeiliteratur, Hilden 223, 488 S., ISBN 978-3-8011-0924-0, 35.- Euro

Der Markt der Kriminologie-Publikationen ist um ein Werk reicher. Nachdem das Buch „Kriminologie: Für Studium und Praxis“ von Clages und Zeitner vom gleichen Verlag  im Jahre 2019 aus dem Programm genommen wurde, fehlte im Sortiment des VDP ein entsprechendes Standardwerk zur kriminalwissenschaftlichen Disziplin der Kriminologie. Diese Lücke ist nun mit dem „Basislehrbuch Kriminologie“ geschlossen.

Die beiden Herausgeberinnen, Professorin Dr. jur. Dipl. Psych. Stefanie Kemme und Professorin Dr. Eva Groß, besitzen zu dieser Thematik eine anerkannte Expertise. Stefanie Kemme war u. a. Juniorprofessorin für Strafrecht an der Fakultät für Rechtswissenschaft, Institut für Kriminalwissenschaften, an der Universität Hamburg. Von Juni 2015 bis März 2023 war sie als Professorin für Strafrecht und Kriminologie an der Hochschule der Akademie der Polizei Hamburg tätig. Seit April 2023 lehrt und forscht sie als Professorin für Kriminologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Eva Groß ist seit Dezember 2018 an der Hochschule der Akademie der Polizei Hamburg tätig, davor wirkte sie seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität und seit 2015 an der kriminologischen Forschungsstelle des LKA Niedersachsen.

Das „Basislehrbuch Kriminologie“ möchte in 14 Kapiteln einen Überblick über den kriminologischen Forschungsstand unter besonderer Berücksichtigung des Blickwinkels der Polizei geben. Das ist durchaus bemerkenswert und ein Alleinstellungsmerkmal, weil andere kriminologische Publikationen auf dem Markt diese explizite Sichtweise nicht bieten. Die meisten kriminologischen Grundlagenwerke richten sich an Leserinnen und Leser mit einem rechtswissenschaftlichen oder soziologischen Background. Ebenso bemerkenswert an diesem Buch ist, dass die Beiträge von – insgesamt fünf – Autorinnen stammen, (männliche) Autoren sucht man vergeblich. Abgesehen davon, dass auch die übrigen Autorinnen über eine unzweifelhafte Expertise verfügen, verwundert dieser Aspekt nicht, denn Frauen sind in der Lehre und Forschung im Bereich der Kriminologie stark vertreten, aber als Autorinnen für kriminologische Standardwerke bisher deutlich unterrepräsentiert. Man fragt sich an dieser Stelle, warum das bisher so war?

Obwohl das Buch einen Umfang von insgesamt 486 Seiten hat, fühlt es sich beim Lesen nicht wie ein „dicker Wälzer“ an. Ein Fakt, den insbesondere die Studierenden und Auszubildenden schätzen dürften. Die einzelnen Kapitel sind relativ kompakt geschrieben, beinhalten aber grundsätzlich die spezifischen und wesentlichen Aspekte. Im ersten Teil des Buches werden – wie in anderen kriminologischen Basiswerken auch – die klassischen kriminologischen Themen, wie beispielsweise die Geschichte der Kriminologie, Kriminalitätstheorien, Viktimologie und Kriminalitätswahrnehmung, behandelt. Im zweiten Teil werden besondere Kriminalitätsfelder, wie Gewaltkriminalität, Sexualdelikte, Hasskriminalität und Kriminalität im Kontext von Migration, betrachtet. Zahlreiche Tabellen und Abbildungen dienen der Darstellung und dem besseren Verständnis. Am Anfang eines Kapitels finden sich jeweils die Lernziele in Form von Fragestellungen, am Schluss eines Kapitels erfolgt eine Zusammenfassung der wesentlichen Punkte als „Merkposten“. Die Autorinnen bemühen sich dabei, die Thematiken auf die Anforderungen des Polizeidienstes auszurichten und führen jeweils spezifische Fallbeispiele an, um den Praxisbezug zu verdeutlichen. Wer schon einmal das Vergnügen hatte, in einer polizeilichen Bildungseinrichtung Kriminologie zu unterrichten, dem ist bewusst, dass es nicht immer ganz einfach ist, den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten und nachhaltig deutlich zu machen, wie wichtig die Kriminologie für Schutz- und Kriminalpolizisten und -polizistinnen ist. Gerade auch unter dem Gesichtspunkt der Berufszufriedenheit, was Berufseinsteigenden meist nicht bewusst ist. Wer mehr zur Entstehung und den Erscheinungsformen von Kriminalität weiß und sich (und anderen) erklären kann, ist insgesamt zufriedener im Job und auch – ein gesamtgesellschaftlich betrachtet nicht ganz unwesentlicher Nebeneffekt – weniger anfällig für gefährliche rechte Tendenzen.

In der Gesamtbewertung muss man konstatieren, dass man genau das bekommt, was das Buch verspricht: ein Basislehrbuch der Kriminologie. Den Autorinnen ist es gelungen, ein modernes, leicht lesbares und verständliches Werk geschaffen zu haben. Ein Wermutstropfen, der den Gesamteindruck leider etwas trübt, ist der Umstand, dass das Buch trotz seines Umfangs im Teil 2 bei der Betrachtung besonderer Kriminalitätsfelder teilweise recht oberflächlich bleibt. Das ist für ein Basiswerk zwar nicht ungewöhnlich, denn ein Basislehrbuch will einen ersten Überblick verschaffen und diejenigen, die sich einer wissenschaftlichen Materie erstmalig nähern, dabei nicht gleich überfordern. Wenn man sich aber mit einzelnen Kriminalitätsphänomenen intensiver beschäftigen möchte, kommt man trotz der Verweise auf Links zu Online-Quellen am Ende jedes Kapitels nicht umhin, sich mit weitergehender Literatur – auch aus dem Bereich der Kriminalistik – auseinanderzusetzen. Besonders deutlich wird dieser Umstand im Kapitel 14 „Organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität“, welches auf knapp 16 Seiten abgehandelt wird. Dem Kriminalitätsphänomen „Wirtschaftskriminalität“ werden dabei ganze zwei Seiten gewidmet. Hier gäbe es aus kriminologischer Sicht deutlich mehr darzustellen, gerade auch zum Thema Tätertypologien. Inhalt und Umfang mögen für die Ausbildung der Schutzpolizei des „mittleren Dienstes“ gerade noch ausreichend sein, für das Studium von Kommissaranwärtern und -anwärterinnen der Kriminalpolizei ist es aber deutlich zu wenig. Auch wenn man fairerweise anmerken muss, dass diese beiden Themenbereiche in den meisten Standardwerken recht stiefmütterlich behandelt werden, sollte das Kapitel für die nächste Auflage nochmals überarbeitet und ergänzt werden.

Fazit: Man darf die Herausgeberinnen und Autorinnen zu ihrem Werk beglückwünschen. Das Basislehrbuch Kriminologie wird mit einiger Sicherheit das kriminologische Standardwerk für die Ausbildung und das Studium der Polizei werden. Auch wenn das Lehrbuch trotz der „Polizeiperspektive“ grundsätzlich für alle Einsteigenden geeignet ist, sich einen ersten Überblick über die wissenschaftliche Kriminologie zu verschaffen, ist für Interessierte außerhalb der Polizei andere Literatur, wie die empfehlenswerten Standardwerke „Kriminologie – Eine Grundlegung“ von Singelnstein/Kunz, „Kriminologie – Ein Grundriss“ von Dölling/Hermann/Laue und auch immer noch „Kriminologie und Kriminalpolitik“ von Schwind/Schwind, aber sicher passender.

André Schulz November 2023