Badora: Vom Stürzen und Wiederaufstehen. Geständnisse aus dem Frauengefängnis. Rezensiert von Thomas Feltes

Anna Badora, Vom Stürzen und Wiederaufstehen. Geständnisse aus dem Frauengefängnis. Ueberreuter-Verlag Wien 2024, € 25,00, 220 S., ISBN: 978-3-8000-7859-2.

Über das Leben im Gefängnis und den Kampf um das Recht auf einen Neubeginn.“ Gemäß der berühmten Chaos-Theorie kann ein einziges Ereignis den Lauf der Geschichte völlig verändern – im Großen, aber eben auch im kleinen, persönlichen Bereich. Anna Badora hat Frauen interviewt, die davon erzählen. Alle sitzen seit mehreren Jahren als verurteilte Straftäterinnen im Gefängnis. „Doch ihre Geschichten sind nicht nur die ihrer Verbrechen. Es sind Geschichten von Frauen, die sich falsch entschieden haben – mit dramatischen Konsequenzen für sie selbst, die Opfer und ihre Familien“.

Es geht in dem Buch um „Frauen in Gefängnissen, die falsche Entscheidungen getroffen haben, manche mehrere, falsch abgebogen sind, den falschen Mann geheiratet und plötzlich ihr bisheriges Leben ohne Vorwarnung in Trümmern vorgefunden haben. Sie kommen oft aus der Mitte der Gesellschaft, aus Familien, die Kriminalität sonst nur aus dem Tatort oder Netflix-Serienkennen. Einige von ihnen lebten vor ihrer Tat in privilegierten Verhältnissen, in Eigenheimen, angesagten Stadtvierteln. Mit Ehemännern in gehobenen Positionen, die ihren Familien vieles boten – Geld, Reisen, Privatschulen, gepflegte Vorgärten -, außer Zeit und Aufmerksamkeit. Manche dieser Frauen jagten den eigenen Anspruch nach Selbstoptimierung hinterher, wollten perfekt im Beruf, als Mutter und Ehefrau sein. Warnsignale ihres Körpers ignorierten sie, schluckten Schmerz-, Schlaf- oder Aufputschmittel in rauen Mengen, um immer weiter funktionieren zu können. Andere wurden kaufsüchtig, weil sie mit ihren Freundinnen Schritt halten wollten. Oder versuchten, wenn sie aus fremden Kulturkreisen kamen, ihre kulturelle Prägung mit den westlichen Werten ihrer neuen Heimat in Einklang zu bringen. Wie unter einem Vergrößerungsglas sieht man in der Herleitung ihrer Straftaten dunkle Aspekte unserer Gesellschaft“ (S. 7).

Entstanden ist ein eindrucksvolles Buch, dem man anmerkt, dass seine Autorin in anderen Bereichen tätig war, bevor sie dieses Buch geschrieben hat: Badora absolvierte eine Schauspielausbildung, war Assistentin von Peter Zadek und Jürgen Flimm und danach Generalintendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses. 2015 übernahm sie als künstlerische Direktorin die Leitung des Volkstheaters in Wien. Sie hat mehrere Preise für ich künstlerisches Engagement erhalten und ist Ambassadorin des Österreichischen Roten Kreuz[1]. Ihr Buch „Dreizehn Leben – Frauenportraits, inspirierend und wegweisend“ erschien Ende Februar 2022 im Ueberreuter-Verlag, und enthält Interviews mit Frauen aus völlig unterschiedlichen Metiers und Milieus, die aber alle ihren Träumen und Berufungen gefolgt und dafür neue Wege abseits der ausgetretenen Pfade gegangen sind[2] – wenn man so will, das genaue Gegenstück zu dem jetzt von ihr vorgelegten Buch. Aber „Gegenstück“ nur bezüglich des gesellschaftlichen Ansehens der Protagonistinnen, nicht aber bezüglich der Aussagekraft ihrer Interviews. Ebenso wie die damals interviewten Frauen „außergewöhnliche Inspirationsquellen“ sind, wie der Verlag schreibt[3], sind die jetzt von ihr interviewten Frauen im Gefängnis Inspirationsquellen ganz besonderer Art: Sie veranlassen uns, überkommend Vorstellungen zu hinterfragen, uns deutlich zu machen, wie zufällig ein Leben verlaufen kann und wie wenig wir dies letztlich oftmals beeinflussen können, wie vorsichtig wir daher mit Zuschreibungen und Zuordnungen sein sollten – und auch zu fragen, ob Strafvollzug in dieser Form noch zu unserer heutigen Gesellschaft passt[4].

Dass ihr dennoch der Zugang zu Strafvollzugsanstalten in Österreich, wo sie neben Deutschland Interviews mit inhaftierten Frauen führen wollte, verwehrt wurde, sagt viel über das System Strafvollzug und dessen politische Bedeutung aus. Die Gespräche würden „den Zwecken des Strafvollzuges widersprechen“ und die Inhaftierten in „ihren schädlichen Neigungen“ bestärken (S. 216) – so die Begründungen der Ministerien.

Neben den eindrucksvollen Interviews mit insgesamt neun inhaftierten Frauen enthält das Buch am Ende „Hintergrundkommentare“ von Vollzugsfachleuten[5]. Auch hier zeigt sich, dass es der Autorin Badora gelingt, Barrieren zu brechen und die „Fachleute“ auch zu Aussagen zu bewegen, die man ansonsten in der Öffentlichkeit vielleicht so nicht hören würde.

Die Interviews, mit Kapitelüberschriften wie „Der Mann auf der Motorhaube“, „Kämpfen wie Bruce Lee“ oder „Lustkiller Säure“ versehen, sind nicht nur thematisch spannend, sondern auch dramaturgisch gut aufgebaut und vermitteln ein Verständnis für die Konfliktsituationen, die Frauen dazu bringen, Straftaten zu begehen. Man merkt, dass die Autorin an den richtigen Stellen die richtigen Fragen stellt und stellen kann.

Es ist ein eindrucksvolles Buch, weil es der Autorin gelingt, denen eine Sprache zu geben, die ansonsten nicht gehört werden. Es ist lesenswert nicht nur für diejenigen, die im Bereich Strafvollzug oder Strafverfolgung arbeiten, sondern für alle, die sich für die Erlebniswelten von Frauen interessieren, deren Leben aus den Fugen geraten ist. Badora schreibt dazu: „Keine meiner verurteilten Gesprächspartnerinnen behauptet, sie sei unschuldig. Aber viele verstehen bis heute nicht, wie sie das Verbrechen begehen konnten. ›Das bin doch nicht ich‹ habe ich immer wieder gehört.“

Die unterschiedlichsten Wege haben diese Frauen aus einem »ganz normalen« bürgerlichen Leben in die Haftanstalt geführt. Der Blick hinter die Gitter der Haftanstalt offenbart eine neue Sichtweise auf das Tabuthema Gefängnis und zeigt auch, welche Hürden verurteilte Straftäterinnen nach der Haft überwinden müssen, um wieder Teil der Gesellschaft sein zu dürfen.

»Nachdem ich meine Strafe hier abgebüßt habe, will ich diese Anstalt mit gehobenem Haupt verlassen, mit einem Lächeln. Alles Schlechte bleibt hier. Ich möchte mich auf das, was kommt, noch freuen dürfen …« (Kati, Gefängnisinsassin)

Damit das Leben nach der Haft gelingen kann„, schreibt Beate Peters, die Leitende Regierungsdirektorin aus Nordrhein-Westfalen, in ihrem Beitrag, „sind faire Chancen unerlässlich, wie auch eine Perspektive, die wegführt vom abstrakten Bild der ,Verbrecherin‘, hin zu ein der konkreten Person in ihrem sozialen Kontext. Und vielleicht ermutigt die Lektüre dieses Buches, Vorurteile nicht nur zu hinterfragen, sondern sogar aufzugeben.“

Dem ist nichts hinzuzufügen.

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Anna_Badora

[2] Von der Verfassungsrichterin Brigitte Bierlein bis zur Weltraumarchitektin Barbara Imhof, von der Ultratriathlon-Weltmeisterin Alexandra Meixner bis zu Rapperin Esra Özmen, Schauspielerin Adele Neuhauser und Mobilitäts- und Urbanitätsforscherin Katja Schechtner.

[3] https://www.ueberreuter.at/shop/dreizehn-leben-frauenportraets-inspirierend-und-wegweisend/

[4] In den „Arnoldhainer Thesen zur Abschaffung der Freiheitsstrafe“ hatten wir bereits 1990 diese Frage aufgeworfen, Sie ist heute aber weder beantwortet, noch obsolet geworden. Vgl. https://www.thomasfeltes.de/pdf/veroeffentlichungen/1990_Arnoldshainer_Thesen.pdf

[5] Darunter Astrid Wagner, Wiener Anwältin, Sabine Matejka, Vize-Präsidentin der Internationalen Richtervereinigung, Ines Sturm, Gefängnispsychologin in der JVA-Willich 2 (NRW), Beate Peters, Direktorin des Gefängnisses Moers-Kapellen (NRW).

Thomas Feltes, März 2024