Hauffe: Die Leere im Zentrum der Tat. Eine Soziologie unvermittelter Gewalt. Rezensiert von Thomas Feltes

Tobias Hauffe, Die Leere im Zentrum der Tat. Eine Soziologie unvermittelter Gewalt. Hamburger Edition 2024, 208 S., gebunden, ISBN 978-3-86854-380-3, 35.- Euro (digital 31,99 Euro)

Immer wieder sorgen Straftaten für Aufmerksamkeit, die „man“ sich nicht erklären kann: Die Tat „passt“ nicht zum Täter, der Täter kann selbst nicht erklären, was mit ihm geschah oder was er tat, er war zuvor noch nie strafrechtlich auffällig geworden. Vier Fälle versuchten Totschlags, die keine gewaltsame Vorgeschichte haben, in denen die Konfrontationen im Kontext alltäglicher Konfliktsituationen stattfinden und die sich nicht zufriedenstellend erklären lassen. Sie sind der Ausgangspunkt der Studie.

Hauffe leitet seine Studie mit folgenden Sätzen ein: „Tritt ein Mensch einem am Boden liegenden Menschen gegen und auf Kopf und Körper, liegt der Gedanke nicht fern, dass die Brutalität der Tat auf eine »Außergewöhnlichkeit« des Täters und/ oder auf die besondere Situation zurückzuführen ist. Die Tat, so die Annahme, verweist auf eine hohe Gewaltfähigkeit und -bereitschaft des Täters oder, etwa wenn jugendliche Gangmitglieder oder verfeindete Hooligangruppen aufeinander losgehen, auf Konfliktsituationen, die zumindest nicht alltäglich sind. Dass Konfliktsituationen, in deren Verlauf es zu potenziell tödlichen Gewalthandlungen kommt, aus nichtigen Anlässen entstehen, mögen wir uns noch vorstellen können. Dass die brutalen Gewalthandlungen von Menschen ausgeübt werden, die zuvor noch nie oder nur minderschwer gewaltkriminell in Erscheinung getreten sind, wie es in der polizeilichen Terminologie heißt, ist dagegen weniger leicht zu begreifen. Die Gewaltsituationen, die im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen, fordern uns heraus. Die Gewalthandlungen, die strafrechtlich als Fälle versuchten Totschlag verfolgt wurden, wurde n von Menschen ausgeübt, die vergleichbare Taten, soweit dies polizeilich erfasst werden konnte, noch nie zuvor ausgeführt hatten.

Hauffe untersucht Gewalttaten, bei denen kein eindeutiges Motiv wie etwa eine rassistische Ideologie oder ein über einen längeren Zeitraum bestehender Konflikt festgestellt werden konnte. Auch im engeren Sinn persönlichkeitsbezogene Merkmale, wie sie so oft in psychologisch-psychiatrischen Gutachten von „Gewalttätern“ eine Rolle spielen (oder besser: sie werden dazu von den Gutachtern gemacht), finden sich hier nicht. Die Gewalt erfolgt in diesen Situationen unvermittelt. Die Frage, warum die Gewalt, noch dazu in einer brutalen Form, ausgeübt wurde, beschäftigt Polizeibeamten ebenso wie Verteidiger, Staatsanwälte, Richter und letztlich auch den Leser der entsprechenden Berichte in Medien.

In Interviews, die der Autor geführt hat, schildern Polizeibeamten den Ablauf der Situationen und berichten, wie es aus Ermittlungssicht zur Gewalthandlung gekommen ist. „Auf den Moment des Gewaltausbruchs kommen sie dabei immer wieder zurück. Auch wenn der individuelle Tatnachweis unstrittig ist, hadern die Polizeibeamt:innen mit den Erklärungsversuchen für den Moment des Sprungs in die Gewalt. Die Tat, sagte ein Polizeibeamter über den von ihm ermittelten Fall in einem Gespräch mit mir, passe irgendwie nicht zum Täter“.

Dabei ist die „Leere im Zentrum der Tat“ eben keine, die man nicht erklären oder besser gesagt gesellschaftlich verorten könnte. Denn, so schreibt Hauffe, erst wenn wir von konkreten Phänomenen der Gewalt ausgehen, „kann es möglich sein, auch etwas über das Gesellschaftliche zu sagen, das in ihnen zum Ausdruck kommt“.

Das vorliegende Buch ist ein Versuch, einem spezifischen Gewaltphänomen nahezukommen. Die Fragen, die sich der Autor stellt, beschäftigen uns alle immer wieder bei entsprechenden Taten: „Wie ist es möglich, dass alltägliche Konfliktsituationen, an denen Menschen beteiligt sind, die über keine oder nur eine minderschwere gewaltkriminelle Vorgeschichte verfügen, derart brutal eskalieren?

Dabei verweist Hauffe darauf, dass diese Formulierung unpräzise ist: Die Gewaltsituationen, die der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegen, würden nicht im eigentlichen Sinne eskalieren. „In ihnen wird Gewalt von Personen (relativ) plötzlich ausgeübt. Die Gewalthandlungen sind Teil der Situationsverläufe und wirken zugleich wie ein Bruch in den Geschehen“. Ziel der vorliegenden Untersuchung sei es daher, „den spezifischen Situationsmoment, in dem plötzlich schwere Gewalthandlungen in Form von Fuß- und Stampftritten gegen den Kopf und Körper einer am Boden liegenden Person ausgeübt werden, analytisch dicht zu beschreiben“.

In der Untersuchung rekonstruiert Hauffe den Situationsmoment, indem er ihn mit dem Handlungsmodus, in dem sich die Gewaltausübenden, kurz vor und im Moment der schweren Gewalthandlung, befinden, in Bezug setzt. Er versucht, das „Momenthafte“ der Situation zu erhalten, er versucht zu verstehen, was diesen Moment ausmacht.

Die Gewaltausübenden üben brutale Gewalt aus, aber nicht so, als wäre ihnen das Gegenüber egal. „Denn im Wort »egal« steckt bereits ein Zuviel an Handlungsorientierung an anderen. Es wirkt vielmehr, als würde das Gegenüber aus dem Selbst- und Weltbezug der Gewaltausübenden verschwinden. Als wäre der Sprung in die Gewalt ein Moment a-sozialer Gegenwart. Da ist niemand (mehr). In diesem Sinne ist das Zentrum der Tat leer. Und es ist diese Beobachtung, die ich im vorliegenden Buch zu erkunden versuche.

Im ersten Teil des Buches werden Methodik und Materialgrundlage dargelegt. Im Kapitel „Vier Fälle unvermittelter Gewalt“ rekonstruiert der Autor dann Fälle versuchten Totschlags. Die dokumentarischen Rekonstruktionen sind eine erste Verdichtung des Materials und bilden den Ausgangspunkt für die Analyse.

Neben den Interviews mit Ermittlern hat Hauffe auch Akteneinsicht erhalten und konnte so auch die ermittlungstechnische und juristische Aufarbeitung der Fälle untersuchen. Dass dieser Aspekt bei der Analyse etwas zu kurz kommt (so fehlt es bspw. an einer substantiierten Kritik der Ermittlungsarbeit der Polizei) ist nachvollziehbar und dem Konzept der Studie geschuldet, aber dennoch schade.

Dabei argumentiert der Autor, dass der Handlungsmodus einen radikal augenblicklichen Aspekt hat. Das Gegenüber sei „situativ verschattet, der Selbst- und Weltbezug der Gewaltausübenden ist auf den Gewalthandlungsvollzug geschrumpft“.

Ausgehend von Selbst- und Fremdbeschreibungen der Gewaltausübenden wird in der Studie die Frage aufgeworfen, was uns die konkrete Form der Gewalt über den Moment der Gewalt und die Bedeutung des Gegenübers zu sagen vermag.

Hauffe argumentiert, dass das Gegenüber nicht bekämpft oder vernichtet werden soll, sondern dass die Gewalthandlung am ehesten als ein »Zerstören« zu beschreiben sei.

Was der Autor mit seinem Text beabsichtigt, beschreibt er so: „Ich möchte einen sozialen Moment, den Sprung in die Gewalt, handwerklich gewissenhaft freilegen, um an Aspekte heranzukommen, die nicht augenscheinlich sind, die uns aber zu verstehen helfen, was hier vor sich geht“.

Und, ach ja, die Studie von Hauffe ist, und das ist der einzige Punkt an dem ich ihm widersprechen möchte, eine kriminologische Studie, auch wenn er dies (auf S. 13) verneint. Er begründet dies damit, dass er nicht auf geschichtliche oder strafrechtliche Aspekte eingeht, oder auf Prävention zielende Ursachenforschung betreibt. Sein Erkenntnisinteresse sei „das Momenthafte der Gewalt“ – aber genau damit liefert Hauffe einen wesentlichen kriminologischen Baustein zum Verständnis von offensichtlich nicht verstehbaren Akten von Gewalt.

Thomas Feltes, April 2024