Meier/Rössner/Trüg/Wulf/Bannenberg/Bartsch: Jugendgerichtsgesetz. Handkommentar. Nomos-Verlag Baden-Baden, 3. Auflage 2024, 944 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8487-7419-7, 119.- Euro.
Wieder einmal „explodiert die Gewalt unter Jugendlichen und Migranten“, wie die Zeitung mit den großen Buchstaben Mitte März 2024 titelte. Grundlage für den strafrechtlichen Umgang mit den Tatverdächtigen ist das Jugendgerichtsgesetz, das in diesem Jahr 100 Jahre alt wird. Vor dem Hintergrund der aktuell (angeblich) ansteigenden Jugendkriminalität und der damit wieder einmal verbundenen Forderungen nach Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze oder anderer „Verfahren“ gegen unter 14-jährige ist es wichtig, dass ein aktueller Kommentar verfügbar ist.
Dieser Kommentar wird nun vorgelegt. Wissenschaftler und Praktiker beschäftigen sich – so die Verlagsankündigung und das Vorwort – darin nicht nur mit den Regelungen des JGG, sondern auch mit den quantitativen und qualitativen Veränderungen, die es im Bereich der Jugendkriminalität seit 2022 gegeben haben soll. Dabei geht es um überstandene und noch andauernde Krisen, unter anderem die Coronakrise, die Klimakrise und die Kriege in Syrien sowie der Ukraine, „mitsamt der nachfolgenden Ankunft vieler (junger) geflüchteter Menschen in Deutschland„. Alle diese Geschehnisse stellen gerade für junge, noch in der Entwicklung befindliche Menschen eine besondere Belastung dar, worauf die Herausgeber im Vorwort explizit hinweisen. Die Faktoren müssen – so die Herausgeber – bei der Interpretation des derzeitigen Aufkommens und der Entwicklung von Jugendkriminalität stets im Blick behalten werden. Sie sollen aber auch bei der Bewertung einzelner jugendstrafrechtlicher Fälle von Bedeutung sein. Gleiches gelte für die stetig fortscheitende Digitalisierung fast aller Lebensbereiche; eine Entwicklung, die die Lebenswelt von Jugendlichen und Heranwachsenden in den vergangenen Jahren in ganz erheblicher Weise geprägt habe.
„Vor diesem Hintergrund war es den Herausgebern diese Handkommentars ein Anliegen, auch in dieser dritten Auflage das Normative mit dem Empirischen zu verbinden, sprich die eingehende rechtliche Betrachtung der Vorschriften des JGG mit je einschlägigen aktuellen jugendkriminologischen Befunden und Entwicklungen zu verzahnen. Darüber hinaus werden gelegentlich kriminalpolitische Bezüge und Ideen integriert, ohne die für die Praxis wichtige Orientierung der Kommentierung an den relevanten Normvoraussetzungen und Rechtsfolgen zu vernachlässigen.“
Ob dieser richtige und wichtige Anspruch eingehalten wird, ist zu prüfen.
In der neuen Auflage sind Gesetzesänderungen, Rechtsprechung und Literatur (bis Mitte 2023) berücksichtigt. An Gesetzesänderungen waren dies u.a. das Zweite Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffenrechts vom 27.8.2017 und insbesondere das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren vom 17.12.2019, das zu umfangreichen Änderungen im Bereich des formellen Jugendstrafrechts geführt hat.
Der Kommentar hat personelle Änderungen erfahren. Von den bisherigen Herausgebern sind alle bis auf Bernd-Dieter Meier ausgeschieden, werden aber nach wie vor als „Herausgeber“ auf dem Cover und im Kommentar selbst genannt. Tatsächlich wird der Kommentar von Meier, Bannenberg und Bartsch herausgegeben (S. 6). Auch beim Autoren- und Bearbeiterverzeichnis werden nicht nur die aktuellen Autoren genannt, sondern auch die der Vorauflage – und auch auf der Website des Verlages sind die ausgeschiedenen Personen als Verfasser vermerkt, weil sie tatsächlich nach wie vor für Teile der übernommenen Beiträge aus der Vorauflage verantwortlich zeichnen, auch wenn sie an der Aktualisierung nicht beteiligt sind. Für Leser, die nicht mit den Gepflogenheiten der Überarbeitung von Kommentaren vertraut sind, eine etwas irritierende Konstellation.
Der Kommentar stellt auf fast 1.000 Seiten die verschiedenen Verfahrensabläufe vom Ermittlungs- über das Hauptverfahren bis hin zum Jugendstrafvollzug dar und berücksichtigt dabei alle wesentlichen, auch angrenzenden Rechtsgebiete (StPO, GVG, SGB VIII, Jugendstrafvollzugsrecht). Schwerpunkte sind – so die Herausgeber – „Verbindung von Entwicklungskriminologie und Sanktionspraxis, jugendstrafrechtliche Rechtsanwendung auf der Grundlage empirischen Wissens, die Ausrichtung an den Altersgrenzen und am Erziehungsgedanken trotz Diskussionen um Anstiege der Kinder- und Jugendkriminalität“.
Leider wird dies ebenso wie der im Vorwort des Kommentars erhobene Anspruch, die aktuellen Krisen und Entwicklungen im Bereich der Jugendkriminalität bei der Kommentierung zu berücksichtigen, nicht durchgängig umgesetzt. Zum Stichwort „Migration“ findet sich bspw. im Inhaltsverzeichnis lediglich ein Hinweis auf den § 105 JGG, der sich mit Heranwachsenden beschäftigt. Die entsprechende (sehr kurze) Randnummer 13 (S. 913) liest sich dann wie folgt: „Bei Jugendlichen und Heranwachsenden mit Migrationshintergrund können Besonderheiten bei der Reifebeurteilung auftreten, so ist der höhere Familienzusammenhalt und die ausgeprägtere Familienorientierung zu beachten, die such auf Unrechtseinsicht und Autonomiemerkmale auswirken können. Auch kulturspezifische Aspekte können bei der Beurteilung kriminellen Verhaltens eine Rolle spielen“.
Ungeachtet der Tatsache, dass es (auch) hier sinnvoll gewesen wäre, zwischen abweichendem und kriminellem Verhalten zu differenzieren, sind diese zu allgemeinen und dadurch eher nichtssagenden Ausführungen nicht hilfreich bei der Entscheidung, wie man denn mit jungen Menschen mit Migrationshintergrund in der polizeilichen, staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen Praxis umgehen soll und welche Besonderheiten tatsächlich wo und wie zu berücksichtigen sind.
Auch die Anmerkungen, auf die unter dem Stichwort „Ausländer“ verwiesen wird, sind weitestgehend oberflächlich. Wenn bspw. bei dem Stichwort „Pflichtverteidiger“ (§68 JGG) behauptet wird, dass die Ausländereigenschaft (sic) „als solche, ggf. verbunden mit mangelnder Beherrschung der deutschen Sprache“ kein Grund für eine notwendige Verteidigung sein soll, weil dieser „Umstand“ durch einen Dolmetscher ausgeglichen werden könne (S. 678), so fehlt hier eine psychologisch-kriminologische Kritik und Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Lebenswelten und den Fluchtverläufen dieser Menschen, die für eine Beurteilung im Rahmen eines Jugendstrafverfahrens wesentlich sein müssen. Ein Dolmetscher kann niemand einen Strafverteidiger ersetzen, der dem Jugendlichen oder Heranwachsenden die Besonderheiten des deutschen Jugendstrafrechts vermitteln soll und muss, wenn der erzieherische Anspruch des JGG tatsächlich ernstgenommen und umgesetzt werden soll. Auch von der für den verfahrensablauf überaus bedeutsamen Problematik alleinreisender Migranten ist hier leider nicht die Rede, obwohl auch dies vor dem Hintergrund der aktuellen Situation notwendig wäre.
Dieses Manko zieht sich leider durch den Kommentar und ist insbesondere vor dem Hintergrund der (von den Herausgebern ja erkannten) aktuellen Problematik schwer zu akzeptieren. Gerade bei nichtdeutschen Tatverdächtigen, Angeklagten und Verurteilten benötigen die im System des Jugendstrafverfahrens agierenden Personen eine Handreichung, welche Aspekte sie bei der Anwendung der entsprechenden Normen berücksichtigen können oder vor allem müssen. Eine solche Handreichung liefert dieser Kommentar nur teilweise, was ihn vor allem für Strafverteidiger nur bedingt verwendbar macht.
Um noch einmal die Herausgeber zu zitieren (und diese Aussage wurde sicherlich bewusst an den Anfang des Vorwortes gesetzt): „Alle diese Geschehnisse (die Krisen, Kriege etc., TF) stellen gerade für junge, noch in der Entwicklung befindliche Menschen eine besondere Belastung dar. Sie müssen bei der Interpretation … der Entwicklung der Jugendkriminalität stets im Blick behalten werden und können auch bei der Bewertung einzelner jugendstrafrechtlicher Fälle von Bedeutung sein“.
Dabei geht es hier nicht um „Fälle“, sondern um Individuen, bei denen die Vorgaben dieses Gesetzes – so die Grundidee des JGG – an der jeweiligen Persönlichkeit, der Persönlichkeitsentwicklung und der Zukunftsperspektive dieser Menschen ausgerichtet und die Normen entsprechend ausgelegt werden sollen. Dies ist besonders bei jungen Menschen mit Migrationshintergrund bedeutsam – und zwar unabhängig davon, ob die Migrationsgeschichte Monate oder viele Jahre zurückliegt oder gedauert hat. Daher wäre es umso wichtiger, die „einschlägigen aktuellen jugendkriminologischen“ Befunde und Entwicklungen (so im Vorwort) auch, aber nicht nur hier angemessen bei der Kommentierung und damit dann ggf. auch bei der Rechtsanwendung zu berücksichtigen. Hier ist, offen gesagt, noch Luft nach oben in diesem Kommentar.
Thomas Feltes, April 2024