Maximilian Pichl: Law statt Order. Der Kampf um den Rechtsstaat. 260 S. ISBN 978-3-518-12837-4, edition suhrkamp 2837, Berlin 2024, 18.- Euro
Der Rechtsstaat ist in Gefahr. Diese Aussage hören wir zunehmend häufiger und vor allem nach spektakulären Straftaten – aber auch in Verbindung mit bestimmten politischen Aktionen wie Klimaprotesten oder Straßenblockaden – sofern sie nicht von Landwirten ausgehen. Bringen aber Straftäter oder „Asphaltkleber“ tatsächlich den Rechtsstaat in Gefahr oder ist er nicht aus einer anderen Richtung bedroht? Dieser Frage geht Maximilian Pichl in seiner kleinen aber feinen (s. dazu unten im „Nachtrag“) Studie nach.
Tatsächlich hat der Rechtsstaatsbegriff Hochkonjunktur, aber nicht deshalb, weil die Verteidiger des Rechtsstaates sich so vehement dafür einsetzen (eher im Gegenteil), sondern weil der Begriff durch Politiker und Lobbyisten gekapert wurde: Er wird für das Bild eines schwachen Staates, der im Chaos unterzugehen droht, verwendet – dabei sind es ganz andere Probleme, die den Menschen Angst machen und die für Unsicherheit und Verwirrung in unserer Gesellschaft sorgen (vgl. meine Beiträge zur „German Angst“[1] und zur Polizeigewalt, dem starken Staat und den Ängsten der Deutschen[2]).
Es wird von einer Justiz-Apokalypse geredet, der Rechtstaat werde „ausgehöhlt“, oder er wird gar als „am Ende“ gesehen – und das alles, weil die (sic! monolithisch) Strafjustiz angeblich versagt, weil sie zu lasch sei, oder weil Straftäter der Justiz „auf der Nase herum tanzen“.
„Nach Aktionen von Klimaschützern oder Schlägereien in Schwimmbädern werden regelmäßig Forderungen laut, nun müsse »mit der vollen Härte des Rechtsstaats durchgegriffen« werden. Gemeint ist damit: Schluss mit Entschuldigungen und Sozialarbeiter-Romantik, dafür robustes Auftreten der Polizei, Ausschöpfen des Strafrahmens vor Gericht – kurz: »Law and Order«-Politik“ – so die Buchankündigung.
Wer aber nach der „vollen Härte des Rechtsstaats“ ruft, wie regelmäßig Politiker, aber auch Polizeigewerkschaftler oder Polizeilobbyisten, der vergisst (absichtlich?): „Nicht der strafende und ordnende Staat steht im Zentrum rechtsstaatlichen Denkens, sondern die Einhegung staatlicher Macht“ (Umschlag).
Wenn die „Law and Order“ Protagonisten vom „Rechtsstaat“ sprechen, dann meinen sie einen Staat, der die Menschen vor Kriminalität schützt, und zwar durch Härte und „Mehr vom Selben“ (Watzlawick): Mehr Gesetze, mehr und härtere Strafen, mehr Repression. Und dies, obwohl zumindest den akademisch gebildeten Politikern klar sein müsste (und den meisten auch ist), dass dies „Mehr vom Selben“ empirisch nachweisbar keine Probleme löst, sondern nur neue schafft. Dabei wird dann sogar nonchalant „übersehen“ (selbst von hochrangigen Politikern), dass Grundrechte ja eigentlich Abwehrrechte gegen den Staat sind und ein staatliches Strafen nicht eingefordert werden kann: Einen „Strafanspruch“ des Einzelnen gibt es (zumindest in dieser Allgemeinheit) nicht[3].
Auch die Fans von Borussia Dortmund, die den Hoffenheimer Mäzen Dietmar Hopp mit Schmähgesängen bedachten, sollte „mit der vollen Härte des Rechtsstaats vor Gericht und ins Gefängnis gebracht werden“ (S. 13) – was von uns[4] in einem aus verschiedenen Gründen höchst amüsanten Strafverfahren erfolgreich verhindert werden konnte.
Mit dem Aufruf des Rechtsstaats und seiner „Härte“ geht nicht selten das (mehr oder weniger stille) Kommando an die Justiz einher, entgegen den zentralen Prinzipien des Strafrechts zu handeln (S. 14). Dabei ist aber nicht „die angeblich fehlende „Härte“ die Gefahr für den Rechtsstaat, sondern die galoppierende Erosion seines ursprünglichen auf den Schutz des Einzelnen zielenden Gehalts“ (S. 17). Es sei daher – so Pichl – Anliegen des Buches, den Treibern dieser Umdeutung im Sinne eines „Law and Order“ nachzuspüren. Das geschieht im Buch anhand zentraler politischer Diskurse der letzten Jahre und entsprechender „Deutungskämpfe“. Dazu gehört auch, dass die „GRÜNEN“ inzwischen auch auf diese „Law and Order“-Linie (nolens volens?) eingeschwenkt sind: Wer, wie Katharina Schulze, meint, es brauche mehr Polizei, um den Rechtstaat zu schützen (S. 89), der denkt (und handelt?) rechtstaatsvergessen.
Staatlichen Handeln ist an das Gesetz gebunden – so habe ich es noch in meinem allerdings inzwischen auch schon 50 Jahre zurückliegenden Studium vom 2019 verstorbenen ehem. Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde gelernt – und nie vergessen. Er hat den Begriff „Rechtstaatlichkeit“ folgendermaßen interpretiert: Er „zielt stets auf die Begrenzung und Eingrenzung staatlicher Macht und Herrschaft im Interesse der Freiheit der einzelnen, auf den Abbau der Herrschaft von Menschen zugunsten der >Herrschaft der Gesetze<; der Primat des Rechts gegenüber der Politik erscheint als immer wiederkehrendes Postulat rechtsstaatlichen Denkens (S. 15). Schön, wenn es so wäre…
Rechtsstaatsvergessen hingegen erscheinen mir viele (auch juristisch „gebildete“ Politiker, wenn sie aus für sie (!) „gegebenem Anlass“ die Gunst „ihrer“ Stunde nutzen, um sich mit Parolen wie oben dargestellt, profilieren zu können. Ist unser Zeitgeist derart verkommen, dass man sich nicht mehr mit dem Kampf für Rechtsstaatlichkeit, sondern mit dem Kampf gegen rechtsstaatliches Handeln profilieren kann und muss?
Maximilian Pichl analysiert, aus welchen Gründen und mit welchen Strategien politische Akteure die skizzierte Umdeutung betreiben und welche Folgen sie hat. Diesen Bestrebungen setzt Pichl die lange Geschichte juristischer Kämpfe entgegen, in denen sich Anwälte und Aktivisten für eine Begrenzung politischer Willkür eingesetzt haben. Insofern ist Pichls Buch auch ein rechtshistorisches, aber dabei sehr aktuelles: Bis hin zum aktuellen Strafverfahren in Dortmund, wo fünf PolizeibeamtInnen vor Gericht stehen, die an der Tötung eines jugendlichen Flüchtlings aus dem Senegal beteiligt waren (S. 94) , nimmt Pichl aktuelle Fälle und Tendenzen (wie auch den „Kampf“ gegen die sog. „Clankriminalität“) auf, um an diesen Beispielen zu verdeutlichen woher tatsächlich Gefahr für unseren Rechtsstaat droht: Nicht von Straftätern, egal ob und wie sie organisiert sind (vielleicht abgesehen von mit der Politik gut vernetzten Wirtschaftsstraftätern), sondern von denjenigen, die rechtsstaatliche Garantien „auf den Prüfstand“ stellen, also im Zweifel abschaffen wollen.
Pichl spricht von „repressiver Straflust“ und davon, dass der „Bezug auf den Rechtsstaat … nicht länger ein Einsatz für Freiheitsrechte, sondern ein Vehikel für mehr Repression“ ist (S. 100). Wäre es da nicht längst an der Zeit, einem Psychoanalytiker damit zu befassen, sich diese „Straflust“ und ihre Verfechter näher anzusehen? Zu welchem Ergebnis würden sie kommen? Sind es vielleicht die Kinder der ehemalige 68er, denen die Freiheit des Denkens und Handelns, die ihre Eltern mühsam erkämpft hatte, nicht gut bekommen ist? Tatsächlich gibt es einige, die diese These vertreten und damit meinen, dass auf eine (angeblich) „antiautoritäre Erziehung“ quasi naturnotwendig eine autoritäre Phase folge. Die „Generation Golf“ zwischen 1965 und 1975 in Westdeutschland geboren, zeichnet sich durch eine unpolitische Grundeinstellung sowie eine egoistische Lebensführung aus. Passt nicht? Vielleicht doch: Egoismus in jedem Fall, unpolitisch ist die große Mehrheit der Bevölkerung, der Verlust an Vertrauen in Staat und Demokratie offensichtlich (s. FN 1). Diejenigen, die „im Dienst des Volkes“ Politik machen, sind dann egoistische (auf die eigene Wiederwahl bedachte) und partei- also in Wirklichkeit unpolitisch handelnde Politiker.
Nachtrag: Glückwunsch an den Autor, dass seine Gedanken in dieser besonderen Reihe erschienen sind: „Die edition suhrkamp ist eine Buchreihe des Suhrkamp Verlages im Taschenbuchformat. Seit Mai 1963 erscheinen in ihr jährlich 48 Erstausgaben – bis Anfang 2022 insgesamt weit mehr als 2500 Bände – sowohl literarischer als auch essayistischer Natur. Die anfangs von Siegfried Unseld herausgegebene edition suhrkamp bestimmte insbesondere in den 1960er- und 1970er-Jahren den gesellschaftlichen Diskurs mit“ (Wikipedia). Auch wenn die Preisgestaltung sich seit 1963 leicht verändert hat (damals kostete ein Buch 3 DM) lohnt es sich, das Buch von Pichl zu kaufen: Auch, weil es eben ein „Taschen“buch ist, also im Format von einem etwas zu groß geratenen Handy, das in die Hosentasche (oder Jackettasche) passt und zur „Unterwegslektüre“ nicht nur wegen des Formats, sondern auch wegen des gut verständlichen und anschaulichen Schreibstils sowie der politischen Aktualität gut „konsumierbar“ ist – wobei der „Konsum“ hoffentlich entsprechendes kritisches Nachdenken anregt, dass und wie wir den Rechtsstaat beständig schützen müssen – und zwar nicht gegen Straftäter, sondern gegen politische Überzeugungstäter. Über 41 Millionen Exemplare wurden bislang in der edition suhrkamp verkauft – hoffentlich kommen viele von diesem Band 2837 hinzu.
Thomas Feltes, Mai 2024
[1] Die „German Angst“. Woher kommt sie, wohin führt sie? Innere vs. gefühlte Sicherheit. Der Verlust an Vertrauen in Staat und Demokratie. In: Neue Kriminalpolitik 1, 2019, S. 3-12
[2] Polizeigewalt, ein starker Staat und die Ängste der Deutschen. Wo stehen wir im Jahr 2021? In: Streit und Streitvermeidung im Familienunternehmen. Festschrift für Lutz Aderhold, hrsg. von H. Freiherr von Erffa, G. Lehleiter, T. Prigge, Köln 2021, S. 73-87
[3] Dies hatte ich bereits in meiner (unveröffentlichten) Habilitationsschrift 1991 dargestellt.
[4] Ich hatte die Freude und Ehre, gemeinsam mit einigen auf Strafverfahren gegen Fußballfans spezialisierten Strafverteidigern an diesen Verfahren beteiligt zu sein.