Hubert Zimmermann, Militärische Missionen. Rechtfertigungen bewaffneter Auslandseinsätze in Geschichte und Gegenwart. Rezensiert von Thomas Feltes

Hubert Zimmermann, Militärische Missionen. Rechtfertigungen bewaffneter Auslandseinsätze in Geschichte und Gegenwart. Hamburger Edition HIS Verlagsges., Hamburg 2023, 488 Seiten, ISBN 978-3-86854-381-0, Print 40.- Euro, e-book 35,99 Euro

Im Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung ist diese umfassende Bestandsaufnahme militärischer Missionen erschienen. Missionen zielen nicht wie Kriege vornehmlich auf Vergeltung, Eroberung oder Machtgewinn, sondern auf die Herstellung kollektiver und individueller Sicherheit durch die Stabilisierung fremder Territorien – zumindest ist dies die Begründung für solche Einsätze. Was tatsächlich eine Rolle dabei spielt und wie die Diskussionen um solche exterritorialen militärischen Maßnahmen in den Staaten, die sie veranlassen, geführt werden, analysiert dieses Buch.

Hubert Zimmermann zeichnet, basierend auf umfangreichen Fallstudien zu den USA, Deutschland und Frankreich, die Geschichte militärischer Interventionen und ihrer Rechtfertigungen im internationalen Vergleich bis in die Gegenwart nach. Er geht der Frage nach, wie sich im Laufe der Geschichte die Motive und Begründungen wandelten und welche Konflikte und Widersprüche dabei auftauchen. Ganz wesentlich geht es – so der Verlagstext – „bei der Rechtfertigung von Auslandseinsätzen um die eigene Identität im Verhältnis zu anderen Gesellschaften. In diesem Sinne ist dieses Buch auch eine Reflexion über die seit jeher umstrittenen Vorstellungen von Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit im Umgang der Staaten untereinander“.

Es geht letztlich um fundamentale Einstellungen zu globalen Fragen, wie sie sich zuletzt auch in der Diskussion um die Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine widerspiegeln. Im Gegensatz zu diesem Krieg stehen bei den militärischen Missionen andere Aspekte im Vordergrund – zumindest wird dieser Eindruck erweckt. Dabei macht schon der Begriff „Mission“ den Unterschied zum „Krieg“ deutlich: Missionare haben eine Vision, wobei eines der wesentlichen Ergebnisse der umfassenden Analyse von Zimmermann ist, dass es den Dutzenden von militärischen Missionen in den vergangenen Jahrzehnten fast immer an diesen Visionen fehlte, also an der rechtzeitig gestellten und beantworteten Frage, was nach dem militärischen Einsatz kommt oder kommen soll. Deutlich wird diese Grundfrage an den Beispielen Afghanistan, Bosnien und dem Kosovo. Diese Einsätze behandelt der Verfasser besonders intensiv und aus unterschiedlicher nationaler Perspektive, auch weil diese Einsätze für Deutschland von besonderer Bedeutung waren.

Die unterschiedlichen nationalen Perspektiven führen dazu, dass die Auslandsinterventionen der USA, Deutschlands und Frankeichs in unterschiedlichen Kapiteln im zweiten Teil des Buches behandelt werden (ab S. 182 ff.), während sich die grundsätzlichen Darstellungen, die bis zu den Kreuzzügen zurückreichen, im ersten Teil finden – was hier und da zu gewissen Redundanzen führen muss.

Zimmermann behandelt die „Erfindung“ der humanitären Intervention (S. 61 ff.) und zeigt den Weg von der „Friedenssicherung“ zur „Interventionsverpflichtung“ auf (S. 105 ff.). Dabei geht es fast immer um die Grundfrage, ob zum Schutz von Menschenrechten oder zur „Herstellung von Frieden“ militärische Auslandseinsätze notwendig und zulässig sind. Während der Erfolg oder Misserfolg solcher Missionen in anderen Publikationen intensiv behandelt wird, liegt der Schwerpunkt der Studie von Zimmermann auf den innerstaatlichen Diskussionen um die Zulässigkeit und Notwendigkeit dieser Missionen. Interventionen sind, das stellt der Autor klar, kein rein westliches Konzept, aber es sind westliche Staaten (und hier vor allem die USA) gewesen, die in den letzten zwei Jahrhunderten die Mehrzahl der Einsätze zu verantworten hatten (S. 10).

Thema des Buches sind militärische Interventionen, die „unterhalb der Schwellen klassischer Kriege“ (S. 15) stattfinden, wobei dieses „unterhalb“ insofern missverständlich ist, als es bei diesen Einsätzen im Prinzip darum geht, Herrschaftsstrukturen in einem anderen Staat mit Gewalt zu verändern. Wie ein roter Faden zieht sich dabei die Frage durch das Buch, ob mit Gewalt und militärischen Mitteln überhaupt etwas Positives erreicht werden kann und ob letztlich Frieden durch Krieg oder zumindest durch militärische Einsätze zu erreichen ist – eine Frage, die wohl so alt ist wie die Menschheit, und schon, wie Zimmermann zeigt, bei den Kreuzzügen eine Rolle spielte. Bergpredigt vs. gerechte Kriegsführung – diese philosophische Diskussion zieht sich bis heute durch die Debatten um solche Auslandseinsätze, die am Beispiel des Kosovo-Einsatzes auch von Jürgen Habermas, Ralph Giordano, Host Eberhard Richter u.a. geführt wurde. Richter schrieb, dass der Pazifismus damals „vielen als Auslaufmodell und als kläglicher Hort von Gutmenschen-Kitsch“ erschien (S. 344).

Dabei geht es, und dieser Aspekt ist wichtig für und in dem Buch, immer auch um die eigene Identität und das eigene Verständnis der jeweiligen Interventionsmächte. Diese Analyse ist der eigentliche und wichtige Schwerpunkt des Buches. Gründlich recherchiert, umfassend dargestellt und analysiert widmet sich Zimmermann diesen Aspekten anhand der politischen und gesellschaftlichen Diskussionen um diese Einsätze vor allem in den USA und in Deutschland. Dieser Schwerpunkt macht das Buch so wichtig, nicht nur für die Aufarbeitung des Vergangenen, sondern auch für zukünftige Auseinandersetzungen um solche Interventionen und bei der Analyse der aktuellen Diskussion um die Frage, wie intensiv sich Deutschland an solchen Einsätzen, aber auch an der Verteidigung der Ukraine beteiligen sollte.

Der Wandel im grundlegenden Verständnis, ob und wie man sich in Konflikte in anderen Ländern militärisch einmischen sollte, tritt mit dem „neuen Anti-Interventionismus“ ein (S. 170 ff.), der etwa 2005 unter Donald Trump in den USA und Theresa May in Großbritannien begann. Das „Ende des liberalen Interventionismus“ hat dabei sehr egoistische Gründe: „America first“ und die Leugnung für die Verantwortung für das Leid „der anderen“ sind Ideen, die bspw. aktuell auch die Migrationsdebatte prägen, ebenso wie sie die Angst davor schüren, eigene finanzielle Vorteile einzubüßen.

Zimmermann beschreibt den Aufstieg der „Anti-Interventionisten“ Obama, Trump und Biden ausführlich und macht auch deutlich, dass die schlecht oder unzureichend vorbereiteten und vor allem im Hinblick auf die Nach-Interventionskonsequenzen nicht durchdachten Missionen in den Jahrzehnten davor mit entscheidend für diese Linie sind, auch wenn sie nicht wirklich durchgehalten wird. Es geht also nicht nur um den Wegfall „missionarischer Elemente“ in den Diskussionen um diese Einsätze, sondern um den Wandel hin zur Verteidigung nationaler Interessen (am Beispiel des Hindukusch noch heute sprichwörtlich thematisiert) und (zuletzt) die Sicherung nationaler Errungenschaften angesichts weltweiter Spannungen und Probleme. Letztere könnten auf ein Ende der Jahrzehnte des stetig wachsenden Wohnstands hinauslaufen und zu mehr Protektionismus und nationalstaatlichem Egoismus auch und besonders bei Bürgerinnen und Bürgern führen – und im Ergebnis dann auch bei den Parteien, wie man aktuell bei den Diskussionen um den Umgang mit Migration vor der Europawahl 2024 sehen kann.

Der Slogan „nicht unser Konflikt“, von Alexander Gauland für den Ukraine-Krieg geprägt, hat weit über die Ukraine und die AfD hinaus reichende Bedeutung, wie die aktuelle Debatte zeigt. Probleme in (angesichts der Globalisierung gar nicht so) fernen Ländern werden vor dem Hintergrund der eigenen Unsicherheiten zunehmend nicht nur ausgeblendet, sondern als Ursache für eigene Einschränkungen benannt. Die Sicherung des individuellen wie gesellschaftloichen status quo steht an erster Stelle.

Wer sich vor Augen führt, dass Deutschland zwischen 1990 und 2023 in insgesamt rund zwei Dutzend Ländern weltweit an „Friedensmissionen“ beteiligt war (s. die tabellarische Übersicht auf S. 304 f.), der muss ein Interesse daran haben, diese intensiver aufzuarbeiten. Das Buch von Zimmermann handelt zuvorderst davon, wie militärische Auslandsinterventionen legitimiert und delegitimiert werden und welche Widersprüche dabei (notgedrungen, s. Bergpredigt) auftauchen. Es zeigt, welche Paradoxien in unterschiedlichen Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeiten verhandelt werden, wie diese Paradoxien grundlegende gesellschaftliche Konflikte bündeln und dabei „häufig weitreichende Wandlungsprozesse anstoßen“ (S. 454).

Insofern ist es ein extrem wichtiges, wenn auch in Teilen unvollständiges Buch. Unvollständig deshalb, weil zwei wesentliche Aspekte bei der Analyse von „militärischen Missionen“ leider unbeachtet bleiben: Zum einen die Tatsache, dass diese „Friedensmissionen“ immer nicht nur militärische Aktionen beinhalteten, sondern auch polizeiliche und – unter dem Stichwort „rule of law“ – auch (menschen-)rechtliche Maßnahmen, mit denen sie, wie die Beispiele Bosnien und Kosovo gezeigt haben, eng vernetzt sind. Diese (letztlich gescheiterten) polizeilichen und juristischen Unterstützungsmaßnahmen waren, wie man an diesen Beispielen besonders deutlich sehen kann, maßgeblich mit für das mittelfristige Scheitern der militärischen Missionen verantwortlich, auch wenn diese kurzfristig erfolgreich schienen. Wessen Frieden wird gesichert? Dieser Frage muss man nachgehen, ebenso wie der, welche mittel- bis langfristig teilweise verheerenden Folgen in den jeweiligen Ländern ausgelöst wurden. “Peace at any Price” ist keine Lösung, wie King und Mason 2006 in ihrem Buch mit dem Untertitel „How the World Failed in Kosovo” dargestellt haben.

Und es fehlt leider ein weiterer, besonders bei militärischen Missionen ganz wesentlicher Aspekt: Die Funktion und Rolle der Rüstungsindustrie, die in anderen Studien für die Einsätze auf dem Balkan und in Afghanistan und dem Irak intensiv beschrieben und analysiert wurde und die, zusammen mit privaten Söldnertruppen wie Blackwater, die im Kosovo oder im Irak in beiden Bereichen eine wesentliche Rolle auch für die Verlängerung der jeweiligen Auseinandersetzungen spielten –  ungeachtet der öffentlich geführten politischen oder gesellschaftlichen Diskussionen. Die Vertreter und Lobbyisten der Rüstungsindustrie hatten und haben ein gutes Gespür dafür, wie und wo sie intervenieren müssen, um ihren Absatz zu sichern oder zu steigern. Philosophische oder gesellschaftliche Aspekte spielen dabei keine oder wenn, dann nur eine vorgeschobene Rolle. Die Analyse dieses Zusammenspiels zwischen privater und staatlicher Macht fehlt in dem Buch von Zimmermann leider, wobei man nur vermuten kann, dass manche der in dem Buch dargestellten und analysieren Diskussionen über Militärmissionen nicht unwesentlich durch solche Aktivitäten beeinflusst wurden.

Thomas Feltes, Juni 2024