Lea de Gregorio. Unter Verrückten sagt man Du. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024, 297 S., ISBN 978-3-518-47430-3. 20.- Euro

„Es war Winter und ich befand mich auf einer psychiatrischen Akutstation mittel in Berlin mit einer Tür, die verschlossen war“ – so beginnt das Buch von de Gregorio. An einer Umbruchstelle im Leben wird die Autorin Lea De Gregorio „verrückt“. Zu viele Gedanken drehen frei in ihrem Kopf, zu viele Fragen rasen ihr durchs Herz, der Schlaf bleibt aus. Es war keine genetisch veranlagte „Sollbruchstelle“, sondern etwas, was jedem von uns passieren kann. Auf den Umbruch folgt, was hierzulande nun mal vorgesehen ist: die Behandlung in der Psychiatrie. Der „Heilung“ geht aber die Entmündigung voraus und begleitet sie. In der Psychiatrie bestimmen, entscheiden, sprechen andere. Man selbst ist Objekt, nicht Subjekt.

Die Fragen, die de Gregorio sich während ihrer Aufenthalte in der Psychiatrie (ja, man ist auch in der Psychiatrie nicht immer „irre“, sondern das „Irresein“ ist auch dort eher die Ausnahme als die Regel) und später stellt, sind grundlegende: Muss ich mich dieser althergebrachten Ordnung tatsächlich fügen, damit alles besser wird? Oder muss ich sie erst recht in Frage stellen? Das Buch beschreibt eine Suche nach grundlegenden Antworten. Diese Suche führt die Autorin auch an tabuisierte Orte der Geschichte, in unsere Sprache, die Philosophie und schließlich „in den Kampf. Gegen Ausgrenzung und Diskriminierung von Verrückten, einer viel zu lange übersehenen Minderheit“.

„Psychiatrisierung ist Entpolitisierung, das medizinische Krankheitsmodell verhindert den Blick auf die soziale Genese psychischer Störungen“ schreibt der Salzburger forensische Psychologe Johannes Klopf in einem Beitrag[1] und er verweist darauf, dass die Treffsicherheit prognostischer Gutachten sehr gering sei, man von einer „wissenschaftlich angestrichenen Form der Hellseherei und von modernem Hokuspokus“ spreche. Zwar geht es hier um die forensische Psychiatrie, also um die Begutachtung und Unterbringung von Straftätern; im Prinzip aber stellen sich die gleichen Probleme auch denjenigen, die in der „normalen“ Psychiatrie dafür zuständig sind, Ursachen von psychischen Störungen zu bestimmen, Behandlungen sowie Entlassungen (oder Zwangsunterbringungen) anzuordnen.

Lea De Gregorio entlarvt in dem Buch nicht nur die oftmals nicht hinterfragten, „standardisierten“ Abläufe in psychiatrischen Einrichtungen, sondern auch die tradierten Ungerechtigkeiten in unserem Denken, Fühlen, Handeln. Das Buch leistet, so der Verlag „dringend notwendige Psychiatrie- und Gesellschaftskritik. In einer Sprache, die so klar und so klug und so zärtlich ist, dass sie den Blick auf unser Zusammenleben substanziell zu verändern vermag“.

Diese Feststellung trifft zu, auch wenn die Darstellungen oftmals schonungslos sowohl der Autorin selbst, als auch den professionellen Protagonisten gegenüber sind. Es ist also kein „leichtes“ Buch, auch weil es immer wieder betroffen macht und man sich die Frage stellt: Muss das alles so sein, was da in der Psychiatrie geschieht? Geht das nicht anders? Kann man mit diesen Menschen, die in einer „ver-rückten“ (sic!) Ausnahme(sic!)situation sind, nicht anders umgehen?

Und: Welche Rolle dabei spielen wir, die vorurteilsbehaftet Menschen als „irre“ bezeichnen, weil sie eine Gewalttat begehen, obwohl Psychosen und Gewalttaten nicht zusammenhängen – und dies so auf alle übertragen, die psychische Probleme haben. Zum Vorfall am Berliner Breitscheidplatz schreibt de Gregorio: „Weder der Migrationshintergrund noch die Tatsache, irgendwann im Leben einmal eine psychische Krise gehabt zu haben, sind hinreichende Erklärungen für eine schreckliche Tat. … Wenn jemand über Menschen als „verrückt“ oder „irre“ spricht, schafft das eine Distanz, sind die anderen die Verrückten, die Irrationalen, die Bösen. Wer andere so nennt, zeichnet von sich selbst das Bild des „Normalen““ (S. 31).

Wir flüchten aber zu gerne in solche Erklärungen, weil sie uns entlasten: Wir verlagern dadurch die Verantwortung für die Integration oder die angemessene und ausreichende Behandlung von Menschen auf diese selbst und können mit Wilhelm Busch und der „frommen (!) Helene“ sagen: „Ei ja! – Da bin ich wirklich froh! Denn, Gott sei Dank! Ich bin nicht so!“. Kriminologisch betrachtet dient dies der durchaus „wohlfeilen Abgrenzung“ der Guten von den Bösen. Durch moralische Empörung und wohlfeile Entrüstung, die auch öffentlich kundgetan wird, bestätigen wir uns immer wieder, dass wir nicht so sind wie „die da“[2]. De Gregorio hingegen macht in ihrem Buch deutlich, dass psychiatrisierte Menschen nicht anders sind als ich und du, und dass Ausgrenzung keine Lösung sein kann.

Die in unserer Gesellschaft zunehmend zu beobachtende Dehumanisierung von gesellschaftlichen Randgruppen stellt eine Form von moralischer Exklusion dar, bei der dehumanisierte Personen von moralischen Regeln und Werten ausgeschlossen werden. Zu den dehumanisierten Gruppen gehören Strafgefangene ebenso wie Menschen, die in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht sind. Dadurch werden ehemals vorhandene moralische Prinzipien aufgeweicht und aufgegeben, was eine Rechtfertigung für Aus- und Abgrenzungen bietet. Empathie und Schuldgefühle gegenüber den dehumanisierten Personen fehlen.

Dabei sind psychische Erkrankungen ubiquitär: Bundesweit erfüllt mehr als jeder vierte Erwachsene im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie). Hinzu kommen 45 Milliarden Euro direkte Gesundheitskosten und die Tatsache, dass 15 Prozent aller Arbeitsunfähigkeitstage pro Jahr auf solche Erkrankungen zurückzuführen sind. Es gibt also genügend Gründe, sich mit einer Verbesserung der Situation in unseren psychiatrischen Einrichtungen und darüber hinaus und mit der Frage, wie wir mit Menschen in solchen Ausnahmesituationen umgehen, zu beschäftigen. Das Buch von de Gregorio bietet dazu Anlass und gleichzeitig Material für eine Auseinandersetzung mit den Mängeln in der psychiatrischen Betreuung und Behandlung.

Dabei ist der Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen nicht nur für Mediziner und Psychologen eine besondere Herausforderung, sondern auch für Polizeibeamte. „Weil man in andere nicht reingucken kann“ – Die Wechselwirkungen in Begegnungen mit der Polizei sind auch von einer Betroffenen beschrieben worden[3], und die Tatsache, dass drei von vier der von der Polizei im Einsatz getöteten Menschen sich in solchen Ausnahmesituationen befunden gaben, habe ich in einem Vortrag ausführlich kommentiert und Lösungsvorschläge in einer Anhörung in Brandenburg gemacht[4].

Zwar berichtet de Gregorio in ihrem Buch über (positive) Begegnungen mit Polizeibeamten im Rahmen einer Schulung zum Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen, aber Aus- und Fortbildung sind eine Seite, der reale Alltag mit seinen Herausforderungen eine andere. Hier wird dann oftmals die schnelle Lösung gesucht (wie im Fall des in Dortmund durch fünf Polizeischüsse getöteten Mouhamed Dramé), statt abzuwarten und ggf. Sondereinsatzkräfte, die besser ausgebildet und geschützt sind, hinzuzurufen.

Menschenrechte werden in der Psychiatrie permanent verletzt. Wie man dagegen angehen kann, stelle ich in einem Beitrag für ein Handbuch dar. Es gibt umfangreiches Schrifttum zu all diesen Aspekten, die Frage ist nur, wie können die Bedingungen, unter denen der oftmals unzureichende Umgang mit Menschen in solchen Ausnahmesituationen erfolgt, verbessert werden. Unter dem Titel „Irren ist Menschlich“ behandeln Klaus Dörner u.a. in ihrem inzwischen in der 25. Auflage erschienenen Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie die verschiedenen Facetten (eine Besprechung der Vorauflage des Werkes findet sich hier) – eine gute Ergänzung für denjenigen, der auch wissenschaftich tiefer in die Problematik einsteigen will.

Es fehlt letztlich nicht an Wissen über psychische Krankheiten, therapeutische Ansätze und Methoden, wissenschaftliche Grundlagen und den gesellschaftlichen Kontext – aber es fehlt nach wie vor an der Umsetzung. Und es fehlt an Selbstberichten aus der Psychiatrie, wie sie hier von de Gregorio vorgelegt werden. Solche Selbstberichte (und damit verbundene Analysen) sind deshalb wichtig, weil sie die Sichtweise der betroffenen Menschen deutlich machen und damit einerseits die „déformation professionelle“[5] der in diesen Einrichtungen tätigen „Profis“ ergänzen und oftmals auch kontrastieren und konterkarieren; sie sind aber auch wichtig, weil sie Außenstehenden den Blick dafür öffnen, was „normal“ oder „unnormal“ ist oder eben nicht. De Gregorio macht auch deutlich, dass die oftmals vorhandene Vorstellung „einmal irre, immer irre“, nicht zutrifft, zumindest nicht auf die ganz große Mehrheit der Menschen, die sich in eine psychiatrische Einrichtung begeben, dorthin gebracht werden oder in entsprechender Behandlung sind.

Und noch etwas macht de Gregorio deutlich: In psychiatrischen Einrichtungen kommen Menschen aus allen Bereichen in ihren Krisen zusammen, „egal ob Malermeister, Arbeitslose oder Intellektuelle, … Man kann dort so vieles über die menschliche Existenz erfahren, auf solch schonungslose und unmittelbare Weise wie sonst vielleicht nirgendwo“.

Das Buch von de Gregorio ist nicht nur der Selbstbericht einer Psychiatriebetroffenen, es ist auch ein guter Überblick über die Entwicklung des Umgangs mit der Institution Psychiatrie und den Menschen, die diese in Anspruch nehmen (müssen). Sie geht dabei auf ethnologische Aspekte (sie hat einen Master in Europäischer Ethnologie) ebenso ein wie auf die Anti-Psychiatrie-Bewegung der 1970er Jahre , behandelt die Arbeiten von Foucault und Szasz und den Umgang mit „ver-rückten“ Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus.

Insgesamt ist es kein „Lehrbuch“ in dem Sinne, dass ein strukturiertes Ziel verfolgt wird. Es ist entlang der Lebensgeschichte der Autorin aufgebaut und nicht nach wissenschaftlichen Aspekten gegliedert. Aber genau dies macht das Buch so lesenswert, weil es dadurch  überkommene Vorstellungen immer wieder aus anderen Perspektiven aufbricht und zu „neuem Denken“ führt.

De Gregorio äußert zum Schluss ihres Buches den Wunsch, mit dem Geschriebenen etwas zu verschieben „im Kopf, in der Psychiatrie oder in unserer Gesellschaft“. Zumindest bei demjenigen, der das Buch liest, dürfte dieser Wunsch in Erfüllung gehen. Wer  Angst davor hat, seine überkommenen Vorstellungen von „Ver-rückten“ und vom Leben in und außerhalb der Psychiatrie in Frage zu stellen, der sollte das Buch meiden. Für alle anderen ist es eine anregende Lektüre – auch wegen der oftmals schwer zu verkraftenden Beschreibungen und Analysen.

Thomas Feltes, Juni 2024

[1] Geisteskrankheit – ein moderner Fluch. In: asozial – dissozial – antisozial. Wider die Politik der Ausgrenzung, hsrg. von D. Fabricius und U. Kobbé, Lengerich 2023, S. 128. Eine Besprechung dieses Bandes folgt.

[2] Vgl. zur Abgrenzung gegenüber Straftätern mein Nachwort zu dem Kriminalroman von Georg Tenner, Jagd auf den Inselmörder. Oldenburg 2007, verfügbar hier.

[3] Psychiat Prax 2023; 50: 333–335

[4] Ausführlicher dazu: Thomas Feltes, Michael Alex: Polizeilicher Umgang mit psychisch gestörten Personen. In: D. Hunold, A. Ruch (Hrsg.), Polizeiarbeit zwischen Praxishandeln und Rechtsordnung. Empirische Polizeiforschungen zur polizeipraktischen Ausgestaltung des Rechts. Wiesbaden 2020, S. 279-299. Verfügbar hier.

[5] Dieser Begriff wird oftmals mit „beruflicher Missbildung“ übersetzt. Gemeint sind damit aber nicht nur die Neigung, eine berufs- oder fachbedingte Methode oder Perspektive unbewusst über ihren Geltungsbereich hinaus anzuwenden („ein Polizist sieht überall Straftaten“), sondern auch über Jahre hinweg eingetretene und eingeschliffene Handlungsweisen, die nicht mehr hinterfragt werden.