Clemens Lorei u.a.: KODIAK Modell zur kommunikativen Deeskalation in alltäglichen Konfliktsituationen. Rezensiert von Thomas Feltes

Clemens Lorei, Kerstin Kocab, Tim Haini, Kristina Menzel, Hermann Groß, Rainer Bachmann & Thomas Greis: KODIAK Modell zur kommunikativen Deeskalation in alltäglichen Konfliktsituationen. Schriften des Instituts für Kriminologie und Präventionsforschung der Hessischen Hochschule für Öffentliches Management und Sicherheit (HÖMS), Verlag für Polizeiwissenschaft, Band 1, 152 S., Frankfurt 2024, 19,80 Euro.

Gewalt zu vermeiden und zu verhindern ist ebenso wichtig wie schwierig – nicht nur, aber auch und besonders für Polizeibeamte. Gewalt zu vermeiden oder nur mit geringer Intensität einzusetzen, muss gelernt werden. Dieses Lernen soll durch das an der Hessischen Hochschule der Polizei entwickeltes Modell kommunikativer Deeskalation in alltäglichen Konfliktsituationen (KODIAK) unterstützt werden. Polizeibeamten sollen Fertigkeiten zu entwickeln, um Konflikte in alltäglichen Einsätzen zu bewältigen und zielgerichtet zu deeskalieren. Der hier besprochene Band führt in das Modell und sein wissenschaftliches Fundament ein, liefert aber auch Hinweise und Beispiele zur Umsetzung.

Das Modell mit dem Namen KODIAK (angelehnt an den Namen eine Stadt im östlichen Teil der gleichnamigen Insel Kodiak im US-Bundesstaat Alaska[1]) soll Orientierung bei der systematischen und zielgerichteten Deeskalation in Alltagseinsätzen geben (Orientierungsfunktion). Dabei soll es die Komplexität solcher Einsätze reduzieren und die Situation strukturieren (Transparenzfunktion).

Es erhebt den Anspruch, sowohl empirisch-evidenzbasiert, als auch theoriefundiert Optionen anzubieten und damit Handlungsfreiheit zu gewährleisten. Letztlich bedeutet dies nichts anderes, als dass dem Einsatzbeamten (und dem Einsatztrainer) empirisch belegte Hinweise dafür gegeben werden, wie er sich in bestimmten Einsatzsituationen verhalten sollte, um sich und sein sog. „Gegenüber“ bestmöglich zu schützen und gleichzeitig seinen Auftrag (Durchsetzung von Ordnung, Recht und Gesetz) auszuführen.

Dabei wird die Eigensicherung (Sicherheitsgarantie) berücksichtigt und der Übergang von Deeskalation zu unmittelbarem Zwang behandelt, d.h. was ist zu tun, wenn die Situationen, in denen deeskalatives Handeln nicht erfolgreich ist, umschwenkt? Es soll kontinuierliches Lernen ermöglicht werden, indem Handlungsanleitung gegeben werden. Buch und Modell sollen aber auch zur Reflektion genutzt werden. Entsprechende Beispiele werden in dem Buch (ab S. 118) und auf der Website (s.u.) geliefert.

Die Autoren und Autorinnen des Buches weisen darauf hin, dass KODIAK speziell für die polizeiliche Deeskalation in alltäglichen Einsatzsituationen entwickelt wurde, aber Erweiterungen des Modells auf weniger alltägliche Konfliktsituationen, spezifische Erfordernisse und besondere Zielgruppen derzeit erarbeitet werden. Man darf darauf gespannt sein.

Auf der Website „kodiak-revier“ findet man eine Kurzfassung des Modells sowie weitere Materialien, darunter auch Informationen zu den Axiomen zur Deeskalation mit KODIAK (im Buch S. 43-47) und zum Stufenmodell (S. 67-84), das durch die einzelnen Schritte eines Einsatzes führt. Ein Kapitel beschäftigt sich auch mit dem Thema „Zwang“ und damit, welche Faktoren bei der Anwendung von unmittelbarem Zwang eine Rolle spielen (können).

Die Materialien auf der Website ergänzen das hier vorgestellte Buch, ersetzen es aber nicht, denn im Buch werden die Axiome sowie das Stufenmodell werden umfassender beschrieben und im ersten und zweiten Kapitel (S. 11-40) die Ziele sowie die theoretischen Grundlagen und die empirische Basis des Modells dargestellt. Besonders diese Kapitel sind für alle Einsatztrainer und Psychologen, die in der polizeilichen Aus- und Fortbildung tätig sind, von besonderer Bedeutung. Denn die Anwendung oder Umsetzung des Stufenmodells oder der in dem Buch beschriebenen Strategien, Taktiken oder Techniken (S. 85 – 103) läuft unter Umständen ins Leere, wenn man sich nicht der theoretischen Begründung bewusst ist und die empirischen Belege dafür kennt, was warum gemacht und gedacht werden soll.

Daher ist auch das Kapitel, das sich mit der Umsetzung des Modells in Aus- und Fortbildung beschäftigt (S. 114-116) wichtig, auch wenn es etwas knapp ausfällt. Hier hätte man sich mehr Informationen zur Problematik gewünscht, wie die bei der Anwendung des Modells unter Praxisbedingungen auftretenden Probleme in der Aus- und Fortbildung vorausschauend behandelt werden können (und müssen) und welche individuellen Merkmale bei den zu trainierenden Einsatzbeamten möglicherweise eine Rolle spielen. Gewaltanwendung durch Polizei ist bekanntlich nicht nur eine Frage des Wissens und des Kennens von Handlungsalternativen, sondern auch von der individuellen Verfasstheit der Beamten zum Einsatzzeitpunkt abhängig. Unter dem Titel „…, dann habe ich ihm auch schon eine geschmiert“ haben wir uns vor einigen Jahren mit dem Thema Autoritätserhalt und Eskalationsangst als Ursachen polizeilicher Gewaltausübung beschäftigt und anhand von Szenarien herausgearbeitet, welche individuellen und strukturellen Faktoren in konkreten Einsatzsituationen eine Rolle spielen können.

Es bleibt abzuwarten, ob und wie das Modell Eingang in die Polizeiausbildung und Polizeipraxis findet, wobei besonders auch die Fortbildung in diesem Bereich nicht vernachlässigt werden darf, da sie am nächsten zur Praxis ist und auch „erfahrene“ Beamte erreicht – oder zumindest erreichen sollte. Daher ist es zu begrüßen, dass eine (unabhängige?) Evaluation des Modells geplant ist (S. 132). Man darf darauf sehr gespannt sein.

Hilfreich für die Rezeption in der Praxis wäre, wenn die Website für mobile Endgeräte optimiert werden würde (derzeit ist sie nur an einem Desktop mit größerem Bildschirm wirklich verwendbar), oder besser noch, wenn eine App entwickelt werden würde, die von Ausbildern in der Praxis angewendet werden kann. Das würde dann vielleicht auch die gedruckte Version überflüssig machen, die leider nicht sehr haltbar ist. Zumindest löste sich mein Rezensionsexemplar bereits nach der ersten Durchsicht auf, und lose Blätter sind für den Einsatz unter Trainingsbedingungen eher weniger geeignet.

Insgesamt aber wird mit dem Buch ein Modell vorgestellt dem im Interesse aller Beamten und der von Polizeimaßnahmen Betroffenen eine weite Verbreitung zu wünschen ist.

 

Thomas Feltes Juli 2024

[1] Ob der Name wirklich mit Bedacht gewählt wurde? „Kodiak“ ist auch ein Pionierpanzer von Rheinmetall. Nicht unbedingt passend zu einem Deeskalationstraining.