Dieter Seifert[1], Forensische Psychiatrie. Psychische Störungen – Sachverständigengutachten – Maßregelvollzug – Legalprognose[2] 1. Auflage 2024, ISBN 978-3-406-79762-0, 377 Seiten, C. H. Beck Verlag, München, 69.– €
Das hoch interessante und für alle Berufsgruppen, die sich mit der Aufklärung von Straftaten und der Beurteilung der individuellen Schuld- sowie der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit von potentiellen Verdächtigen beschäftigen, lehrreiche und daher sehr lesenswerte Buch bietet eine facettenreiche Einführung in verschiedene psychiatrische Störungsbilder.
Der erfahrene Sachverständige, Gutachter und Autor verbindet mit seinem theoretisch fundierten und durch zahllose praktische Beispiele angereicherten Werk, das er im Geleitwort explizit auch Studierenden der Rechtswissenschaft zum Studium ans Herz legt, den angesichts der dargebotenen Beispiele aus der forensischen / juristischen Praxis nachvollziehbaren Wunsch: „Es wäre schon viel erreicht, wenn ein wenig mehr Offenheit, vielleicht sogar Einfühlungsvermögen für psychisch kranke Menschen, deren Erleben, Denken und Fühlen vermittelt werden könnte. Dies ist hilfreich im Umgang mit ihnen, speziell bei Vernehmungen bzw. Befragungen im Gerichtssaal.“[3]
Hierfür präsentiert Seifert unzählige – auch für psychiatrische Laien sehr anschaulich und in Form vieler biografischer Einschübe / Fallvignetten sowie durch insgesamt 29 Schaubilder zusätzlich illustrierte – hilfreiche Anknüpfungspunkte, die Fehleinschätzungen auf allen Ebenen vermeiden helfen können. Insofern darf man das Werk auch als wohlgemeinten „Appell für einen regelmäßigen interdisziplinären Austausch“ (S. IX) verstehen.
Das Buch gliedert sich sachlogisch in sechs Kapitel (vgl. Fn. 2): Nach einer kurzen Einleitung (§ 1, S. 1-3), führt Seifert in die „Psychiatrische Krankheitslehre“ ein (§ 2, S. 5-21). Hierbei erläutert er u. a. „Zusammenhänge zwischen psychischer Störung und Delinquenz“ und räumt hierbei gleich zu Beginn mit dem Vorurteil auf, eine psychische Störung sei unausweichlich mit dem Stigma „gefährlich“ (S. 15) gleichzusetzen. Vielmehr sei „Kriminalität ein multikausales Phänomen“. „Wenngleich (z. B.) Gen-Umwelt-Interaktionen (…) allgemein sicher einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Ursachen von Gewalt und Kriminalität liefern können, dürfen biografische und soziale Aspekte keinesfalls in Vergessenheit geraten, zumal man hieran durch therapeutische Maßnahmen etwas zum Positiven verändern kann“ (S. 16f.). Für Kriminologen korreliert diese Erkenntnis mit den vielfältigen Eindrücken der interdisziplinären Kriminalätiologie, die man treffend mit einer Sentenz des britischen Schriftstellers und Philosophen Aldous Huxley beschreiben kann: „Was du bist hängt von drei Faktoren ab. Was du geerbt hast, was deine Umgebung aus dir machte und was du in freier Wahl aus deiner Umgebung und deinem Erbe gemacht hast.“ Seifert erläutert zudem ausgangs des zweiten Kapitels die für das Sujet grundlegenden juristischen Begrifflichkeiten der „Schuld“ sowie der „Einsichts- und Steuerungsfähigkeit“ im Sinne der §§ 20, 21 StGB aus Sicht eines Psychiaters und forensischen Sachverständigen. Im dritten Kapitel (§ 3, S. 23-215) ordnet Seifert relevante „Krankheitsbilder – geordnet nach den 4 Eingangsmerkmalen des § 20 StGB“[4] ein. Das gelingt nicht nur wegen der zahlreichen unterstützenden Schaubilder und der illustrativen begleitenden Fallvignetten aus der gutachterlichen Praxis sondern auch sprachlich / semantisch ausgezeichnet. Das vierte Kapitel (§ 4, S. 217-256), „Psychiatrisches Sachverständigengutachten“, ist sowohl für psychiatrische Anwender als auch für die anderen Beteiligten bei der juristischen / forensischen Aufarbeitung des Geschehens im Ermittlungs- und Hauptverfahren instruktiv. Das fünfte Kapitel (§ 5, S. 257-325), „Die Maßregeln der Besserung und Sicherung“, beschäftigt sich mit der Abgrenzung des Vollzugs der in absoluten Zahlen dominanten justiziellen Unterbringung[5] und den im Kausalzusammenhang des Buches im Kontext der „Zweispurigkeit des Strafrechts“ spezielleren Vorschriften des „Maßregelvollzugs“.[6] Im abschließenden sechsten Kapitel (§ 6, S. 327-356), „Die Beurteilung der Legalprognose“, widmet sich Seifert den zeitlich unterschiedlichen „Prognosebereichen“, wesentlichen „methodischen Grundproblemen“ und schließlich den verschiedenen „Prognoseverfahren“. Aufgrund der z. T. disziplinär unterschiedlichen Fachtermini ist das zusätzliche (psychiatrische) Glossar (S. 361-369) durchaus hilfreich und trägt zum Gesamtverständnis bei.
Das Buch bietet einen fachlich anspruchsvollen, Disziplin übergreifenden, ansprechend formulierten und daher durchgängig interessanten und lesenswerten Gesamtüberblick. Es gewährt dabei wertvolle praxisorientierte interdisziplinäre Einsichten, räumt bspw. durch die Darstellung der Inzidenzen/Prävalenzen und prognostisch fundierten Aussagen zur „Gefährlichkeit“ bestimmter psychischer Symptomatiken mit selbst in der Fachwelt weit verbreiteten Vorurteilen auf und ist daher ein fachlich bedeutsamer Beitrag, überkommene Stigmata künftig zu vermeiden. Aufgrund der beeindruckenden professionellen Erfahrung und fachlichen Expertise des Autors ist es eine wichtige Orientierungshilfe und eine stabile Brücke / Translation zwischen der Psychologie, der Psychiatrie und den (nicht-) juristischen Kriminalwissenschaften und sollte daher in keiner gut sortierten Fachbibliothek fehlen.
Holger Plank (im Oktober 2024)
[1] Prof. Dr. med. Dieter Seifert, Ärztlicher Direktor der Alexianer-Klinik Münster, Chefarzt für Psychiatrie und Neurologie; vorher, von 1993-2010 Oberarzt am Institut für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen mit Lehrauftrag an der LVR-Universitätsklinik Essen, Institut für Forensische Psychiatrie und Sexualforschung; Lehrbeauftragter an der Universität Münster.
[2] Siehe Verlags-Website mit Inhaltsverzeichnis.
[3] Alexianer GmbH, 01.08.2024, zuletzt aufgerufen am 09.10.2024.
[4] Dies sind a. die „krankhafte seelische Störung“, b. die „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“, c. die „Intelligenzminderung“ sowie d. die „schwere andere seelische Störung“.
[5] Während in den etwa 180 Justizvollzugsanstalten (JVA) in Deutschland in den letzten Jahren durchschnittlich zwischen 42.000 und in der Spitze 60.000 Gefangene einsaßen, ist die Anzahl der in den 78 forensischen Kliniken in Deutschland derzeit untergebrachten rund 14.000 Patienten deutliche geringer, wenngleich die „Anzahl der Unterbringungsplätze im Maßregelvollzug seit Mitte der 1990er Jahre erheblich gestiegen ist“ (S. 257).
[6] Vergleiche hierzu „einstweilige Unterbringung“ (§ 126a StPO), „Maßregeln der Besserung und Sicherung“ (§§ 61-72 StGB).