Foroutan, Naika (2019), Die postmigrantische Gesellschaft: Ein Versprechen der pluralen Demokratie. Bielefeld: transcript-Verlag. 2. Auflage 2021, 280 Seiten, ISBN: 978-3-8376-5944-3, 20 Euro; pdf-Version 280 Seiten, ISBN: 978-3-8394-5944-7 17,99 Euro
Wenn man ein Buch bespricht, dass vor mehr als fünf Jahren erstmals (in der 1. Auflage) erschienen ist, dann stellt sich die berechtigte Frage: Warum? Die Antwort lautet: Weil der Inhalt des Buches aktueller denn je ist und die Aussagen noch genauso zutreffen wie zum Zeitpunkt der ursprünglichen Drucklegung.
Inzwischen sind zwei weitere Bücher der Autorin[1] erschienen: 2023 „Es wäre einmal deutsch. Über die postmigrantische Gesellschaft“ im Ch. Links Verlag und 2020 (zusammen mit Jana Hensel) „Die Gesellschaft der Anderen“ im Aufbau Verlag. Hier aber soll es um das erste Buch gehen, dass sich auch mit dem damals schon deutlich gewordenen Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen beschäftigt. Dies führe, so die Autorin damals, zu einer Normverschiebung in europäischen Gesellschaften und erzeuge Spannungen, die sich in Polarisierung widerspiegeln.
Es geht dabei, und das ist ihre Hauptthese, weniger um Migration selbst als um die Prozesse, die stattfinden, wenn Migrant*innen und ihre Nachkommen ihre Rechte einfordern – z.B. im Rahmen von Demonstrationen oder auch am Arbeitsplatz oder in der Politik. Die Frage des Umgangs mit Migration werde so zur Chiffre für Anerkennung von Gleichheit in demokratischen Gesellschaften.
Aktueller geht es nicht: Die Äußerungen von Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) in einem Gastbeitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, mit denen er eine härtere Asylpolitik fordert und dies auch mit Erfahrungen seiner Tochter begründete, stießen auf massiven Widerspruch. Er schrieb: „Wenn sie in der Stadt unterwegs ist, kommt es häufiger vor, dass sie oder ihre Freundinnen von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert werden.“
Richtig ist, so die taz: „Sexuelle Belästigung ist für viele Frauen Alltag und nie zu verharmlosen. Doch Özdemir spielt die Erfahrungen seiner Tochter gegen Migranten in Deutschland aus. Seine Formulierung legt fälschlicherweise nahe, dass man einem Menschen den Migrationshintergrund ansehen könnte. Darüber hinaus unterstellt sie, dass das übergriffige Verhalten der Männer mit ihrer „migrantischen“ Herkunft zu tun habe. Es gibt keine Zahlen, die diese Behauptung belegen. Viele Männer haben ein frauenfeindliches Weltbild – das betrifft aber erwiesenermaßen nicht nur migrantisch gelesene Männer. Frauenhass und sexualisierte Gewalt werden nicht nur importiert, sondern sind genauso made in Germany“.
Auch die Autorin des hier besprochenen Buches musste sich wegen Äußerungen zu propalästinensischen Demonstrationen rechtfertigen. Ein Interview mit Naika Foroutan für „Phönix persönlich“ dazu finden sich hier.
Beide Beispiele machen deutlich, dass die Diskussion über Migration in Deutschland noch lange nicht abgeschlossen ist und immer mehr Gefahr läuft, noch weiter in eine rechtslastige Debatte abzudriften – unter Ablenkung von tatsächlich unsere Gesellschaft bedrohenden Problemen wie die Klimakrise, Gesundheits- und Rentenprobleme oder Kriegsgefahr.
Umso wichtiger ist es, mit dem Buch von Foroutan noch einmal zurück zu den Wurzeln dieser Debatte zu gehen und zu der Frage, was es mit dem Versprechen der pluralen Demokratie auf sich hat – und wie wir es damit halten. Wenn Mitte Oktober 2024 allen erstes gefordert wird, Straftätern mit doppelter Staatsangehörigkeit die deutsche Staatsbürgerschaft abzuerkennen (und dies nicht von irgendjemand, sondern von Wolfgang Kubicki), obwohl dies lt. Grundgesetz nicht möglich ist (Art. 16 Abs. 1 GG), und in den Diskussionen darüber dann die Änderung des Grundgesetzes als Option in den Raum gestellt wird, dann wird deutlich, an welchem Punkt wir in Deutschland angelangt sind: Wir stellen grundlegende Errungenschaften des Grundgesetzes (wie bspw. auch das Recht auf Asyl) in Frage, weil ultrarechte Gruppierungen dies fordern. Dann ist der Weg nicht mehr weit zu einer grundlegenden Revidierung unseres Grundgesetzes, wie es von der AfD angestrebt wird.
Naika Foroutan hat bereits 2019 gezeigt, dass die Migrationsfrage zur neuen sozialen Frage geworden ist. An dieser Frage werden Verteilungsgerechtigkeit und kulturelle Selbstbeschreibung ebenso wie die demokratische Verfasstheit verhandelt. »Wie hältst Du es mit der Migration?« steht für die Frage danach, was ausgehandelt werden muss, damit die plurale Demokratie zusammenhält. Die postmigrantische Gesellschaft ist also eine, die sich im Kontext der Debatten um den Stellenwert von Migration neu ordnet.
Bei der Studie von Foroutan handelt es sich übrigens um eine Arbeit mit einer empirischen Grundlage. Diese bildeten zwei Datensätze, die 2014/15 und 2018/19 an der Humboldt-Universität unter ihrer Leitung ausgewertet wurden. Ihrer Einleitung zu dem Buch, die mit „Die große Gereiztheit“ überschrieben ist, stellt Foroutan ein Zitat von Nils Minkmar voran:
Deutschland sei, so die Autorin, polarisiert und habe eine der höchsten Vermögensungleichheiten in der Welt. Warum? Und was hat das mit dem Thema Migration zu tun? Die Antworten darauf gibt Foroutan in ihrem Buch. Die „Omnipräsenz von Migrationsdebatten“ (S. 12) hält seither an. Migration ist ein „Metanarrativ“ (aaO.), das zur Erklärung aller möglichen Probleme unserer Gesellschaft herangezogen wird. Es geht also – so die Autorin – „gar nicht primär um Migration – die große Gereiztheit liegt vielmehr daran, am eigenen Anspruch einer weltoffenen, aufgeklärten Demokratie zu scheitern“ – wobei 2024 die Frage gestellt werden muss, ob die Mehrheitsgesellschaft diesen Anspruch tatsächlich noch hat. Richtig ist: „Wir sind hässlich geworden und wie schieben die Wut auf den Boten, der uns das übermittelt“ (S. 13).
Dabei ist die Abkehr von Migration und die Forderung nach Re-Migration schon längst nicht nur ein Phänomen gesellschaftlicher Ränder, was Andreas Zick und andere gezeigt haben. Es gibt schon seit 2010 ein beständiges Rollback, dessen Ende kaum absehbar erscheint.
Dabei ist schon lange nicht mehr strittig, dass wir ein Einwanderungsland sind, dass die Probleme gerade nicht durch Abschiebung oder gar „Remigration“ gelöst werden können, sondern dass auch Themen wie die sog. „Clankriminalität“ anders diskutiert werden müssen: Wir werden mit diesen Menschen, gleich ob sie staatenlos sind oder nicht, über kurz oder lang leben (müssen), und wenn es uns nicht gelingt, sie und vor allem ihre Nachkommen in unsere Gesellschaft zu integrieren und ihren eine realistische Chance zu geben, Teil dieser Gesellschaft zu werden, dann werden wir ´, dann wird unsere Gesellschaft daran zerbrechen.
Daher hat Foroutan zu Recht den Fokus auf die „postmigrantische“ Gesellschaft gelegt, auf dem, was danach kommt (S. 19). Da spielt dann Bildungsgerechtigkeit (S. 85 ff.) ebenso eine Rolle wie Gleichberechtigung in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen. Unsere „ambivalente und vielstimmige Gesellschaft“ (S. 226) wird immer mehr zu einer polarisierten und polarisierenden. Das zu verhindern war und ist der Anspruch von Naika Foroutans wissenschaftlicher und politischer Arbeit. Dieses Buch von ihr macht deutlich wie wichtig es ist, ihr zuzuhören.
Thomas Feltes, Oktober 2024
[1] Naika Foroutan ist eine deutsche Politik- und Sozialwissenschaftlerin. Sie ist seit 2018 Leiterin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung und seit 2017 Leiterin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung.