Martin Feißt, Lebensqualität(en). Zum Kohärenzgefühl in der forensischen Psychiatrie. Rezensiert von Thomas Feltes

Martin Feißt, Lebensqualität(en). Zum Kohärenzgefühl in der forensischen Psychiatrie. Transcript-Verlag Bielefeld 2024, 318 Seiten, ISBN: 978-3-8376-7254-1 (print), ISBN: 978-3-8394-7254-5 (pdf), jeweils 50.- Euro.

„Bedeutet mehr Geld, mehr Sex und mehr Freund*innen gleich mehr »Lebensqualität«? Stellt man diese Frage psychisch kranken Straftätern, die über zehn, zwanzig oder dreißig Jahre in einer geschlossenen Einrichtung verbringen, geraten gängige »Mehr-ist-besser«-Vorstellungen schnell an ihre Grenzen. Als fruchtbare Alternative entwickelt Martin Feißt einen systemtheoretischen Ansatz, der die (in)stabilen Selbst- und Weltverhältnisse in den Blick nimmt. Lebensqualität ist nun vielmehr eine Frage des Kohärenzgefühls – eine Position, die Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen und Interessierte gleichermaßen »fürs Leben« lernen lässt“ (Klappentext).

Mit dem Untertitel „Was sich von psychisch kranken Straftätern, die zwanzig oder dreißig Jahre in einer geschlossenen Einrichtung leben, über Lebensqualität lernen lässt“ wirbt der Verlag auf seiner Website für das Buch. Zu Recht? Können wir etwas lernen und wenn ja, was? Wenn die Annahme von Feißt zutrifft, dann müssten wir unsere Vorstellung von den Menschen, die in der Psychiatrie untergebracht sind, zumindest in Teilen revidieren – allerdings ohne in Euphorie zu verfallen und zu glauben, Psychiatrien seien wünschens- und lobenswerte Einrichtungen. Dass das nicht so ist, habe ich zuletzt in der Besprechung des Buches von Lea de Gregorio, „Unter Verrückten sagt man Du“ und schon 2017 in der Besprechung des Sammelwerkes „Irren ist menschlich“ verdeutlicht.

Der Autor stellt seinem Buch ein Zitat von Bateson voran: „Die Wissenschaft sondiert; sie beweist nicht“ (S. 11). Es ist richtig und wichtig, sich dieser Aussage immer wieder zu vergewissern, vor allem in Zeiten wie diesen, wo Nicht-Wissenschaftler (wie zuletzt wieder einmal Thilo Sarrazin[1]) behaupten zu wissen, was richtig ist.

Im Zentrum der Arbeit von Feißt steht die Frage, wie es sich in einer Einrichtung des Maßregelvollzugs lebt. Mit Blick auf die derzeitige durchschnittliche Unterbringungsdauer von rund 6 bis 12 Jahren (S. 13) muss man diese Frage tatsächlich stellen. Wie schaffen es die Untergebrachten, hier unter den Bedingungen eines geschlossenen Systems zu überleben[2], oder, wie der Autor es formuliert, sich unter diesen Bedingungen „zu verorten zu sich selbst, zur Organisation und zur Gesellschaft“?

Nach einer kurzen Einleitung beschreibt er in Kapitel 2, wie das Maßregelvollzugssystem aufgebaut ist, wie man dort hinein- und ggf. wieder herauskommt. Danach beschäftigt sich der Autor in Kapitel 3 kritisch mit dem aktuellen Stand der Lebensqualitätsforschung (denn darum geht es: Lebensqualität) im Bereich der forensischen Psychiatrie. Hier ist sein übergreifender Kritikpunkt, dass es gerade keine einheitliche Definition von Lebensqualität gibt. Dieses Kapitel ist mit umfangreichen Quellenbelegen ausgestattet und gibt einen guten Überblick über die Diskussion, was man als „Lebensqualität“ in einer geschlossenen Einrichtung verstehen kann – und was nicht.

Im 4. Kapitel beschäftigt sich der Autor daher intensiv mit der Theorie der Lebensqualität und stellt einen „Gegenvorschlag“ zu bisherigen Definitionsansätzen vor. Im 5. Kapitel (überschrieben mit „Lebende Systeme in totalen Institutionen“) versucht er die bisherigen theoretischen Ergebnisse empirisch umzusetzen, wobei er zunächst eine „Kontexturanalyse[3] zur Rekonstruktion von selbst und Wertweltverhältnissen“ verwendet und auf das Sampling der empirischen Datenlage eingeht. Im Zentrum dieses Kapitels stehen drei Fälle beziehungsweise Menschen, deren Selbst- und Weltverhältnisse rekonstruiert werden. An diesen drei Fällen macht der Autor Dynamiken sichtbar, die weit über den Einzelfall und nicht selten auch weit über den Maßregelvollzug hinaus gehen.

Danach führt er die bisherigen Ergebnisse zusammen, bevor er im Kapitel 7 abschließend darauf hinweist, „warum die Wissenschaft ein Problem mit Magie hat, Organisationen hingegen auf Magie angewiesen sind“.

Damit meint er (wieder unter Bezugnahme auf Bateson), dass jedes Leben etwas Magisches hat, wobei nichts Esoterisches gemeint ist, sondern auf einen Bereich verwiesen wird, der unter bestimmten Bedingungen nicht kommuniziert werden sollte (S. 299).

Es geht hier um „agile Methoden“ und die Einsicht, dass man meist da, was man anzielt nicht erreicht – aber oftmals etwas anderes. Und dies gilt eben auch für das Ziel „Lebensqualität“ in der Psychiatrie herzustellen. Und auch für viele therapeutische Prozesse scheint, so Feißt, Vergleichbares zu gelten. Eine Therapie sei oftmals gerade dann erfolgreich, wenn kein bestimmtes therapeutisches Ziel anvisiert werde. Die »Verwaltung der vagen Dinge« lasse sich nur schwer mit Zielvereinbarungen, Fallzahlenerreichung, Benchmarking, und allen anderen Kontrollregimen dieser Art vereinbaren – die selbst wiederum Resultate durchaus legitimer Bedürfnisse von Organisationen seien.

„Das Grundproblem ist, best practice Beispiele erfolgssicher zu operationalisieren, da wir nicht in einer Welt einfacher Kausalitäten leben. Organisierbarkeit hat hier ihre Grenzen. Und doch muss operationalisiert werden. Organisationale Praxis löst dieses Problem mit Magie im oben genannten Sinne. Magie ist die Lösung des Problems der Unkontrollierbarkeit. Ohne Magie könnte keine Organisation überleben. Informale Prozesse sind eine conditio sine qua non funktionierender organisationaler Praxis (vgl. Luhmann 1999), aber es wäre ein Sakrileg, dies zu thematisieren (vgl. bspw. Bensman und Gerver 1963). Heuchelei hält wissentlich die Prozesse am Laufen, aber nur unter dem Glauben, das nicht geheuchelt wird (Brunsson 2003). Die Magie liegt darin, dass das tatsächlich funktioniert“ (S. 300).

Gerade Maßregelvollzugskliniken mit ihrer totalen Kontrolle aller Lebensbereiche und ihren laborartigen Lebensbedingungen lassen, so Feißt, sichtbar werden, was nicht unter Kontrolle gebracht werden kann, mit dem Ergebnis, dass das >gute Leben< nicht >machbar< ist. Umso mehr Kontrolle, umso weniger Magie. Damit müsse nicht jeder Versuch aufgegeben werden, prekäre Lebenssituationen zu verbessern. Das wäre eine zynische Ausflucht. Die Frage sei, wo man ansetzt.

„Diese Studie über die Selbst- und Weltverhältnisse von langzeituntergebrachten Personen im Maßregelvollzug lässt deutlich werden, dass es eines anderen Blicks auf die Rahmenbedingungen bedarf. Rahmenbedingungen, die Magie ermöglichen. Und so gesehen sind die aktuellen Forderungen nach einer massiven Transformation des Maßregelvollzugssystems nur konsequent“.

Insgesamt hat Feißt hier eine überaus spannende und lesenswerte Studie vorgelegt (als seine Dissertation), auch wenn die Lektüre nicht immer leicht fällt. Aber gerade im Vergleich zu anderen Beschreibungen des Lebens in und mit der Psychiatrie bietet dieses Werk neue Ein- und damit auch Aussichten.

Leider hat man bei der Lektüre des Buches den Eindruck, dass kein wirkliches Lektorat durchgeführt wurde – sowohl hinsichtlich der Formatierung (s. S. 11 Mitte, wo ein Textteil im Stil einer Fußnote gesetzt ist), als auch in Bezug auf die Sprache und Grammatik der Arbeit (s. z.B. S. 13, 2. Abschnitt). Dies schmälert den wissenschaftlichen (sic!) Wert der Arbeit nicht, ist aber angesichts des Verkaufspreises schwer nachvollziehbar.

Thomas Feltes, September 2024

[1] In seinem neuen Buch „Deutschland auf der schiefen Bahn“, s. dazu das entlarvende Interview mit dem RND sowie den Bericht im „Tagesspiegel“. Als „Kriminologie aus dem Hobbykeller“ hatte ich meine Rezension des Buches von ihm „Deutschland schafft sich ab“ (verkaufte Auflage 1,5 Mio.) in der FAZ überschrieben.

[2] „Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung und auch zur Gruppe der somatischen Patienten haben psychisch Kranke eine wesentlich stärkere Präferenz zur Selbstverletzung und Suizidalität. Psychische Störungen zählen zu den Hauptursachen für Suizidalität. … Die Suizidrate unter Psychiatriepatienten liegt bei 61,65 Suiziden/ 100.000 Patienten und ist damit 5,4-mal so hoch wie die der Allgemeinbevölkerung. Die ermittelte Suizidrate für geschlossen untergebrachte Patienten liegt mit 79 Suiziden/ 100.000 Patienten über der Rate der im offenen Setting behandelten Patienten (55 Suizide/ 100.000 Patienten). Insgesamt werden jedoch 77 % aller Kliniksuizide von Patienten auf offenen Stationen vollzogen“. Quelle

[3] Kontexturanalyse ist eine Methodologie zur Rekonstruktion polykontexturaler Zusammenhänge; s. hier; die Polykontexturalitätstheorie erweitert die klassische mathematische Logik, so dass Kontextabhängigkeit/ Subjektivität und Paradoxien formal beschrieben werden können (Wikipedia).