Christoph Nix, Simon Pschorr (Hrsg.), Jugendgerichtsgesetz (Kommentar). Rezensiert von Thomas Feltes

Christoph Nix, Simon Pschorr (Hrsg.), Jugendgerichtsgesetz. Kohlhammer-Verlag 2023. XIII, 695 Seiten mit 11 Tab., ISBN 978-3-17-038053-0. Print 92.- Euro, e-Book 82,99 Euro

Warum strafen wir? Diese Frage stellen wir uns selten. Wir haben uns einfach daran gewöhnt, dass der Staat straft – und kümmern uns weder um die Voraussetzungen, noch um die Folgen von „Strafen“. Dieses eher pragmatische und unser Gewissen entlastende Verhältnis zur Strafe haben auch die meisten derjenigen entwickelt, die selbst als Richter oder Staatsanwälte strafend arbeiten, die Bestrafung als Polizeibeamte vorbereiten oder als Strafrechtswissenschaftler die Grundlagen für dieses Strafsystem legen. Besonders bei Jugendlichen und Heranwachsenden aber müssten wir uns als Profis dieser individuellen Herausforderung, sowohl das Be-Strafen, als auch die jeweiligen Strafen selbst zu hinterfragen, stellen. Denn bei keiner anderen Personengruppe kann falsches Strafen eine so negative Wirkung haben wie bei Jugendlichen und Heranwachsenden.

Viele halten aber solche Grundfragen für naiv („es ist eben so, wie es ist…“), wie die Herausgeber in ihrer kurzen, aber prägnanten Einleitung (S. 1) schreiben, „oder wir haben resigniert und überlassen den Sinn und die Formen von Strafe dem Gesetzgeber und dem gesellschaftlichen Dialog“. Was davon für jeden von uns zutrifft, müssen wir selbst entscheiden. Aber: So einfach ist es nicht, und „so einfach kommen wir nicht davon“. Verwiesen wird dazu auf Winfried Hassemer, der sich am Ende seines Berufslebens als Bundesverfassungsrichter die Frage nach dem Strafen noch einmal neu gestellt hat. Das folgende, für eine Rezension außergewöhnlich ausführliche Zitat aus der Einleitung zu dem Kommentar von Nix und Pschorr soll deutlich machen, welche „Philosophie“ hinter diesem Werk steht. Unter Verweis auf Hassemer schreiben der Herausgeber Nix:

Das Strafrecht sei ein mächtiges Institut mit scharfen Instrumenten, die Menschen tief verletzen und sie ruinieren können. Es habe die Aufgabe, dort, wo gesellschaftliche soziale Kontrolle nicht mehr funktioniere, fundamentale Interessen der Person und der Gesellschaft zu schützen, dabei aber so wenig Schaden anzurichten wie möglich. Die Formalisierung sozialer Kontrolle, zum Schutz von Täter und Opfer, Zeugen und Angehörigen, Bürgern, in deren Freiheitsrechte der strafende Staat eingreift, braucht einen gelingenden Prozess von Interaktion, der das letzte Mittel, zu dem wir greifen, täglich rechtfertigen muss: die Strafe, die immer auch zu den ungeeignetsten Mitteln der Beeinflussung und Formung der Persönlichkeit zählen wird. Wenn wir anderen Pein zufügen, auch wenn wir meinen, die anderen hätten den Konsens verlassen, dann darf das nicht ohne die letzte Instanz menschlichen Handelns erfolgen, über die wir verfügen: Vernunft und Liebe“. (S. 1)

Bereits 1991 (in einem Aufsatz im Zentralblatt für Jugendrecht) und noch einmal 2011 hat der (inzwischen Mit-) Herausgeber dieses Kommentares seine Kritik am Erziehungsgedanken in einer „Einführung in das Jugendstrafrecht für die Soziale Arbeit“ deutlich gemacht und in Anleitungen für die Praxis umgesetzt. Auch wenn dieses Buch inzwischen in die Jahre gekommen ist, kann es (zumal bei dem günstigen Preis von 7,99 Euro) zur Lektüre empfohlen werden.

An dieser Stelle folgt ein (ebenfalls für eine Rezension ebenso ungewöhnlich langer) Hinweis auf den (jetzt Mit-, ursprünglich Allein-) Herausgeber des Kommentars. Denn seine Biographie verdeutlicht, woher der philosophische Grundansatz für diesen Kommentar kommt und weshalb er sich so wohltuend von anderen purjuristischen Werken unterscheidet: Christoph Nix , geboren 1954, hat an den Universitäten Gießen und Bremen bei Ridder und Kreuzer studiert und war an der Professur für Kriminologie und Strafrecht als wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt. Karl F. Schumann und Johannes Feest sind seine juristischen Doktorväter – und ihren Einfluss spürt man in dem Kommentar immer wieder. Seine ersten Forschungen beschäftigen sich mit den Grundrechten im Strafvollzug, den polizeilichen Vernehmungsmethoden bei Kindern und Jugendlichen und Fragen der Forensischen Psychiatrie. Wilfried Rasch am Institut für Forensische Psychiatrie der FU Berlin war einer seiner akademischen Väter. Christoph Nix hat aber auch eine Lehranalyse am Gießener Institut für Psychoanalyse abgeschlossen und neben dem Jurastudium Politikwissenschaften studiert. Und damit nicht genug: Am Berner Institut für Theaterwissenschaft hat er über die szenische Analyse der Komödie, Auf- und Abgänge in der Theaterszene sowie über Machtstrukturen im Theater geforscht und promoviert. Von 2006 bis 2020 war er Intendant am Theater in Konstanz.

Simon Pschorr, der Mitherausgeber, hat schon altersbedingt (geboren 1992 in Regensburg) keinen solchen „bunten“ Lebenslauf aufzuweisen, aber auch er wechselte zwischen Wissenschaft und Praxis. Er war Richter und Staatsanwalt und ist jetzt als abgeordneter Praktiker an der Ui Konstanz tätig.

Ist Christoph Nix also ein „Universalgelehrter“? Wäre dieser Begriff inzwischen nicht eher negativ konnotiert (nach dem Motto: „Der kann alles, aber nichts richtig“), würde man Nix wohl am besten genau so beschreiben. Wieso aber haben Menschen, die über die engen Grenzen der Juristerei hinausgeschaut und die dogmatischen Scheuklappen abgelegt haben, einen anderen und umfassenderen Blick auf das Strafsystem und auf Rechtsnormen? Und warum ist dieser Blick so wichtig? Diese Sichtweise ist deshalb wichtig, weil sie nicht primär der juristischen Reinheit folgt, auch wenn dies hier und da notwendig und sinnvoll ist[1], sondern den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Während das System Strafrecht den Mensch Straftäter als Objekt behandelt, versucht ein solcher Ansatz die Subjektqualität jedes Einzelnen in den Vordergrund zu stellen.

Sicherlich geht es in jedem Strafverfahren auch um subjektive Aspekte, aber in kaum einem Strafprozess wird beispielsweise tatsächlich über den Aspekt des Vorsatzes gesprochen oder darüber, welche nicht nur vordergründigen Motive jemand bewegt haben, eine Straftat zu begehen. Genau diese Aspekte spielen aber im Jugendstrafverfahren eine besondere Rolle, und deshalb ist es wichtig, dass ein Kommentar zum JGG eine andere, subjektivistische Herangehensweise wählt.

Allerdings, und das wird immer wieder bei der Kommentierung der Vorschriften des JGG deutlich, stößt diese Sichtweise an die Grenzen der Normausgestaltungen. Während das eigentliche Ziel des Jugendstrafverfahrens darin liegen sollte, Nachteile für die Entwicklung und das Wohl des Jugendlichen zu vermeiden, geht es in der Praxis meist darum, im Rahmen der (von den Herausgebern kritisierten) Sanktionsspirale die „richtige“ Reaktion – sprich Strafe – zu finden. Letztlich, und dies machen Nix und Pschorr indirekt und immer wieder auch direkt in ihrer Kommentierung deutlich, gehört das JGG abgeschafft und durch ein echtes, an den Problemen der Jugendzeit orientiertes und vor allem zeitgemäßes Jugendstrafrecht ersetzt. Aber die Umsetzung dieser Wunschvorstellung ist angesichts der gegenwärtigen gesamtgesellschaftlichen Lage (zunehmende punitive Tendenzen) und der wieder einmal losgetretenen Diskussion um die Altersgrenze im Jugendstrafrecht offensichtlich obsolet.

Einer der Eckpunkte, an dem sich im Bereich des Jugendstrafrechts die Notwendigkeit des „über die (auch eigenen) Grenzen Schauens“ verdeutlicht, ist der sog. „Erziehungsbegriff“, der wie ein Damoklesschwert über dem JGG hängt, weil er sich nachteilig für Jugendliche auswirken kann, wenn sie unter Berücksichtigung des Sanktionsrahmes des JGG härter als Erwachsene für die gleiche Tat bestraft werden, weil man glaubt, sie eben noch „erziehen“ zu können oder zu müssen. Für manche ist dieser Begriff sogar eine Wohltat, weil sie so (zumindest in gewissem Rahmen) freie Hand bei der Sanktionswahl haben. Und: So manche Wohltäter meinen es gut, machen es aber nur schlechter, was für das JGG als Ganzes durchaus gelten kann, das beständig im Konflikt zwischen Normen und Erziehung steht[2].

Wenn im Jugendstrafrecht auch noch erzogen werden soll, so Nix in seiner Einleitung – „haben wir uns daran zu erinnern, dass dieser Gedanke Einfallstor einer gefährlichen Ideologie wurde. Die reformerische Idee der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts, statt (nur) zu strafen die Persönlichkeit jugendlicher und Heranwachsender positiv zu formen, wurde von den Nationalsozialisten in ihr Gegenteil verkehrt. Pestalozzi hat Erziehung auf einen einfachen Nenner gebracht, sie sei Bildung und Liebe“.

So etwas liest man selten in einem juristischen Kommentar, und so verstanden ist Erziehung mit dem Strafrecht nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen. Denn obwohl angeblich mit den Sanktionen im Jugendstrafrecht positiv auf eine Person eingewirkt werden soll, „so ist doch Strafen selten ein Ausdruck von Liebe und Zuwendung, sondern degradiert, erniedrigt, unterwirft. Insoweit stellen sich die Praktikerinnen des Jugendgerichtsgesetzes, ob als Richterinnen Staatsanwälte Verteidigerinnen oder Sozialarbeiter einen inneren und äußeren Widerspruch, den sie zugunsten von Freiheit in schwierigen Verhältnissen aufzulösen aufgerufen sind. Jugendstrafrecht ist in seiner täglichen Praxis immer zugleich die Quadratur des Kreises: Jugendliche fördern und doch Schuld zu sühnen. Damit ist Jugendstrafrecht gelebte, tätige Rechtsphilosophie“.

In meiner Besprechung eines anderen JGG-Kommentars hatte ich kritisiert, dass die aktuellen Herausforderungen an das Jugendstrafrecht (Migration, Flucht u.a.m.) dort nicht thematisiert wurden. Leider tauchen auch im vorliegenden Kommentar diese Stichworte ebenso wie andere, in diesem Kontext relevante (wie bspw. „Sprache“ als Kernfaktor eines Jugendstrafverfahrens, vgl. Artkämper 2022) nicht auf – was aber offensichtlich der Tatsache geschuldet ist, dass man sich bei der Erstellung des Stichwortverzeichnisses primär an juristischen Begrifflichkeiten und weniger an Praxisproblemen orientiert hat – wer dies auch immer zu verantworten hatte. Das dürfte auch der Grund sein, warum man „Polizei“ hier vergeblich sucht, obwohl die Polizei als Institution (Ermittlungen) und noch mehr einzelne Polizeibeamte eine große Rolle im Jugendstrafverfahren spielen[3].

Letztlich ist der hier vorgelegte Kommentar aber eine wichtige und wertvolle Ergänzung zu den die „hM“ oftmals kolportierenden und damit verfestigenden anderen JGG-Kommentaren, sieht man von dem 2021 erschienenen Kommentar von Ostendorf ab, den ich hier besprochen hatte. Würde der Kommentar von Nix und Pschorr ein Stichwortverzeichnis aufnehmen, das auch Alltagsprobleme integriert, wäre er leichter zu handhaben und man würde unabhängig von einzelnen Normen (die im JGG oftmals zur gleichen Problematik an verschiedenen Stellen zu finden sind) leichter den Weg zu grundsätzlichen Problemen finden.

Ungeachtet dessen erfüllt der Kommentar aber seinen Zweck hervorragend, bei konkreten Suchen nach der Anwendung und Auslegung einzelner Vorschriften des JGG erziehungs- und systemkritische Alternativen zu finden. Er gehört daher auf den Tisch jedes Jugendrichters und Jugendstaatsanwaltes, und eine Aufnahme der Grundgedanken und der Auslegungsansätze einzelner Vorschriften in die Lehre an juristischen Fakultäten im Rahmen der JGG-Vorlesungen oder Übungen wäre mehr als wünschenswert.

Thomas Feltes, August 2024

[1] Wenn es z.B. um verfassungsrechtlich bedenklich Neuregelungen wie aktuell die geplante Regelung zur Heimlichen Durchsuchung von Wohnungen und der Installation von Staatstrojanern in Wohnungen geht, Rath 2024).

[2] So 1978 der Titel meiner Masterarbeit als Abschluss eines erziehungswissenschaftlichen Studiums.

[3] So hatte eine Längsschnittstudie in den USA gezeigt, dass Jugendliche, die Polizeikontakt hatten, danach häufiger Straftaten begehen als andere. Die Forscher betonen, dass dieser (erste) Kontakt oftmals ein Leben lang Auswirkungen hat. Umgekehrt zeigen positive Interaktionen auch positive Wirkungen.