Monica Prasad, Im Land des Überflusses. Reichtum und das Paradox der Armut in den USA. Rezensiert von Thomas Feltes

Monica Prasad, Im Land des Überflusses. Reichtum und das Paradox der Armut in den USA. Originalausgabe: The land of too much. American Abundance and the Paradox of Poverty, Harvard University Press. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff / Michael Bischoff. 408 Seiten, Hamburg 2024, Hamburger Edition, ISBN 978-3-86854-391-9, 35.- Euro (gebunden), 31,99 (e-pub).

Warum gibt es in den Vereinigten Staaten mehr Armut als in jedem anderen entwickelten Land? Wie ist es um das paradoxe Verhältnis von uferlosem Reichtum und verheerender Armut bestellt? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Studie, deren Autorin mit dem Siegfried-Landshut-Preis 2023 des Hamburger Instituts für Sozialforschung ausgezeichnet wurde. Die amerikanische Konsumenten-Ökonomie hat ihren Ursprung nicht in Shoppingmalls oder in den Städten, so Monica Prasad, sondern in der Macht der Agrarlobbys im ausgehenden 19. Jahrhundert.

Farmer hatten einen bemerkenswerten Einfluss: Sie setzten das Ende des Goldstandards durch und damit die »Demokratisierung« des Kredits, also eine Politik des leicht verfügbaren Geldes sowie der progressiven Besteuerung. Zunächst führte das für lange Zeit zu einem explosionsartigen Wirtschaftswachstum mit permanenter Überproduktion.

Das ist überraschend und dürfte dem deutschen Leser kaum bekannt sein – obwohl wir spätestens seit der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 (der größte Konkursfall der US-Geschichte) um die Problematik wissen müssten: Kredite können Probleme schaffen, auch wenn sie in bestimmten Bereichen (Stichwort Mikrokredite) helfen können, Probleme zu lösen. In den USA und weltweit war die Pleite der Investmentbank der Höhepunkt einer Finanzkrise, die sich über viele Jahre angebahnt hatte. Diese Krise löste in vielen Industriestaaten eine tiefe Rezession aus[1].

Das vielleicht für ein deutsches Publikum überraschendste Merkmal dieses Buches sei, so Wolfgang Knöbl, der Direktor des Hamburger Instituts in der Laudation zur Verleihung des Siegfried-Landshut-Preises (die ebenfalls in dem Buch enthalten ist), dass Prasad zur Erklärung der Tatsache, dass ausgerechnet die USA lange Zeit, nämlich bis in die 1970er Jahre hinein, im Unterschied zu vielen europäischen Ländern ein höchst progressiv wirkendes direktes Steuersystem hatten, die Geschichte der Landwirtschaft heranziehe. „In der deutschen Soziologie, die kaum je die Agrargeschichte wahrgenommen hat, wäre man vermutlich auf eine solche Idee nicht gekommen! Aber Prasad geht nun genau diesen Schritt und zeigt, wie die US-amerikanische Agrarökonomie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zur produktivsten der Welt wurde mit daraus folgenden enormen Exportchancen, die sie auch zu nutzen versuchte. Die Farmer begannen, den Weltmarkt zu dominieren, was vor allem in Europa schnell dazu führte, dass man schon Anfang des 20. Jahrhunderts mittels Zollerhöhungen protektionistische Maßnahmen ergriff, um die heimische Landwirtschaft vor der Konkurrenz zu schützen“ (S. 400).

Seit dem New Deal[2] würden Menschen ermutigt, Kredite aufzunehmen. Die dramatischen Konsequenzen sehen wir heute: „Die progressive Besteuerung führte zu immensen Abschreibungsmöglichkeiten für Wohlhabende, während die leicht verfügbaren Kredite, auch als Kompensation für mangelnde sozialstaatliche Absicherung, Geringverdienende in die Schuldenfalle trieben. Das begünstigte die Finanzkrise von 2008 und die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich. Prasad zeigt in ihrem Buch, wie verheerend bestimmte Formen von Krediten für einen Wohlfahrtsstaat sind, und verweist in ihrer vergleichenden Studie auf die unterschiedlichen Entwicklungen in Europa und den USA“ (aaO.).

In ihrem Buch vertritt die Autorin die These, dass die Unterschiede zwischen dem US-amerikanischen und dem europäischen Modell nur wenig mit der Kultur, den Präferenzen der Arbeitgeber oder der Macht der Gewerkschaften zu tun haben, sehr viel dagegen mit der außergewöhnlichen Produktivität des amerikanischen Kapitalismus und den Krisen, die er in der Zwischenkriegszeit und der Weltwirtschaftskrise verursachte.

Die öffentliche Mobilisierung oder die Unterstützung sozialpolitischer Ziele spielten in keinem der Länder mit einem entwickelten Sozialstaat eine wesentliche Rolle bei dessen Entstehung. Auch wenn für die betreffenden Zeiträume keine durchgängigen systematischen Umfragedaten vorliegen, erlauben historische Studien doch die Vermutung, dass die größere Unterstützung, die wir heute beobachten, erst nach der Einführung dieser Sozialpolitik einsetzte. Die Arbeitgeber leisteten meist zunächst Widerstand, wenn sozialpolitische Maßnahmen erstmals vorgeschlagen wurden, fanden sich später jedoch damit ab. Und das Muster der wechselnden Stärke und Mobilisierung der Arbeiterschaft passt nicht zum ungewöhnlichen Entwicklungspfad des nordamerikanischen Sozialstaats“ (S. 339).

Die von der Autorin vorgeschlagene Erklärung baut auf dem Grundsatz auf, dass der Kapitalismus sich analysieren lässt, indem man die Nachfrageseite der Wirtschaft untersucht und insbesondere der Frage nachgeht, ob ein Staat den Konsum fordert oder einschränkt.

Prasad gibt aber auch den Sozialwissenschaften und deren Protagonisten einen Ratschlag (oder besser: einen Hinweis darauf, wie diese Wissenschaft überleben kann): Eine Disziplin, auch die Soziologie, brauche Orientierung, müsse also folgende Fragen beantworten können: „Wozu Soziologie und was ist für dieses Fach wesentlich und was nicht?“

Ihre Antwort: Die Soziologie ist und sollte vor allem eine problemlösende Disziplin sein. Um noch einmal aus der Laudatio von Wolfgang Knöbl zu zitieren„Was für deutsche Ohren zunächst etwas ungewohnt klingen mag, … Soziologie ist nicht in erster Linie Beschreibung, auch nicht Kritik; Hauptaufgabe der Soziologie ist vielmehr die Identifizierung sozialer Probleme und – unter Wahrung des Objektivitätsideals (es geht also nicht um politischen Aktivismus) – das Auffinden kausaler Prozesse, um die Möglichkeit zu eröffnen, Probleme, seien diese nun Ungleichheit, Armut oder Rassismus etc., zu lösen“ (S. 398).

Konkret bedeutet das, dass, wer Probleme lösen will, etwas über „villains“ (Schurken) wissen müsse. Das würde bedeuten, dass die Kriminologie, versteht man sie richtigerweise als Sozialwissenschaft, eigentlich auf dem richtigen Weg ist, wenn sie sich mit Straftätern beschäftigt. Allerdings gilt dort besonders die Mahnung, nicht in erster Linie zu beschreiben (wie das im Bereich der Migranten- und Ausländerkriminalität aktuell gerne getan wird), sondern es muss um die Identifizierung sozialer Probleme gehen, um das Auffinden kausaler Prozesse gehen, um die Möglichkeit zu eröffnen, Probleme zu lösen.

Das gilt übrigens umso mehr für die Polizeiwissenschaft: Wenn sie ihre Daseinsberechtigung unter Beweis stellen will, dann muss sie sich – in Anlehnung an Knöbl – sich mit den Schattenseiten polizeilichen Handelns beschäftigen, weil sie nur so die Probleme der Institution identifizieren und die Möglichkeit aufzeigen kann, Probleme zu lösen. Und dies gilt besonders dann, wenn die Institution der Auffassung ist, dass sie keine Probleme hat. Denn dies spricht für eine tief verankerte Negation der Tatsache, dass es keine Institution ohne Probleme gibt, keine Organisation, die keine Fehler macht. Die Beschäftigung mit einer (ggf. nicht vorhandenen) Fehlerkultur ist originäre Aufgabe einer Polizeiwissenschaft, die der Institution und der Gesellschaft weiterhelfen will.

Thomas Feltes, Oktober 2024

[1] https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-09/lehman-finanzkrise-henry-paulson-usa

[2] Der New Deal war eine Serie von Wirtschafts- und Sozialreformen, die in den Jahren 1933 bis 1938 unter US-Präsident Franklin Delano Roosevelt als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise durchgesetzt wurden, vgl. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/green-new-deals-2022/345725/improvisierend-durch-die-krise-der-new-deal/