Matthias Braumandl, Michael Pösl, Sexualstrafrecht. 2024, ISBN 978-3-406-73899-9, 312 Seiten, C. H. Beck Verlag, München, 79.– €
Das von Matthias Braumand und Michael Pösl bearbeitete Praxishandbuch „Sexualstrafrecht“ erschließt die in den letzten Jahren aufgrund europäischer Richtlinien, internationaler Übereinkommen und wegen evidenter dogmatischer Verwerfungen z. T. grundlegend legislativ überarbeitete Materie systematisch in sieben Kapiteln. Gerade in den Normen des Sexualstrafrechts (insbesondere auch des Kinderschutzrechts[5]) und des Strafprozessrechts spiegeln sich gesellschaftspolitische Diskussionen oder Werteänderungen unmittelbar, was sich in den zahlreichen jüngeren und jüngsten Überarbeitungen der insgesamt 30 Tatbestände im 13. Abschnitt des Zweiten Titels des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs (§§ 174 – 184l StGB) widerspiegelt, um nur die wichtigsten (kurz vor und seit der Jahrtausendwende[6]) beispielhaft zu nennen:
- Dreiunddreißigstes Strafrechtsänderungsgesetz (33. StrÄndG) – §§ 177 bis 179 StGB, I S. 1607 (Nr. 45 vom 04.07.1997),
- Sechstes Gesetz zur Reform des Strafrechts (6. StrRG), I S. 164 (Nr. 6 vom 30.01.1998),
- Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (…), 6. StrRG, I S. 3007 (Nr. 67 vom 30.12.2003),
- Neunundvierzigstes Gesetz zur Änderung des StGB – Umsetzung europäischer Vorgaben[7] zum Sexualstrafrecht, I, S. 10 (Nr. 2 vom 26.01.2015),
- Gesetz zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren[8] (3. Opferrechtsreformgesetz), I, S. 2525 (Nr. 55 vom 30.12.2015),
- Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Menschenhandels[9] (…), BGBl. I S. 2226 (Nr. 48 vom 14.10.2016),
- Fünfzigstes Gesetz zur Änderung des StGB (50. StrÄndG) – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung, I S. 2460 (Nr. 52 vom 04.11.2016),
- Sechzigstes Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Modernisierung des Schriftenbegriffs und anderer Begriffe (…), I S. 2600 (Nr. 57 vom 03.12.2020),
- Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder (StGBuaÄndG), I S. 1810 (Nr. 33 vom 16.06.2021),
- Gesetz zur Anpassung der Mindeststrafen des § 184b Absatz 1 Satz 1 und Absatz 3 des Strafgesetzbuches – Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Inhalte (MindStrAnpG), I Nr. 213 vom 27.06.2024.
Die beispielhafte und bei weitem nicht vollständige Aufzählung der grundlegenden Änderungen und Modifikationen des Sexualstrafrechts und der begleitenden verfahrens- und opferschutzrechtlichen Regeln macht deutlich, dass das Sexualstrafrecht im Vergleich zu anderen strafrechtlichen Phänomenen aus guten Gründen zum einen legislativ besonders volatil ist.[10] Zum anderen ist durch die zahlreichen Änderungen, die kriminalstatistisch erst mit entsprechendem Zeitverzug im Hellfeld nachgewiesen werden können, seit geraumer Zeit keine verlässliche Phänomen spezifische kriminalstatistische Datenbasis als Grundlage phänotypischer empirischer Forschung mehr vorhanden. Ohne kriminologisch sachgerechte Einordnung entsteht jedoch seit 2016 der Eindruck eines überproportionalen Anstiegs der Sexualstraftaten, obgleich ein Vergleich der kriminalstatistischen Daten derzeit nur sehr bedingt möglich ist.[11] Das führt nicht zuletzt zu einer mitunter „panisch“ zu nennenden Verengung der Diskussion in Bezug auf Täter und Tatumstände (vgl. Fn. 11) und wirkt sich so u. a. auf das subjektive Sicherheitsempfinden der Bevölkerung aus. Die zahllosen kriminalpolitischen Initiativen zeigen aber auch, dass „Sexualität als ureigenster Intimbereich im sozialen Miteinander“ für Gerichte, Staatsanwaltschaft, Polizei, Nebenklage und Verteidigung ganz besondere Anforderungen an den Umgang mit den am Verfahren beteiligten Menschen erwachsen lässt. „Sexualstraftaten sind auf mehreren Ebenen von einer besonderen Komplexität geprägt, die so in keinem anderen Deliktstypus auftritt“ (S. 1). Man denke nur an die für dieses Phänomen typischen „Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen“[12], da zahlreiche Tatbestände vorwiegend im sozialen Nahraum („Beziehungsdelikte“[13], S. 1) verwirklicht werden[14], und zwar „milieu- und schichtenübergreifend“, was im Einzelfall, bei Betroffenheit von Personen des öffentlichen Lebens, zu dem prozessualen Erschwernis eines massiven „medialen Interesses“ (S. 2) führen kann. Außerdem spielt die materiellrechtliche, rückwirkend in bestimmten Konstellationen auch für Altfälle anwendbare „Ruhensvorschrift“ des seit seiner Einführung 1994 mehrfach geänderten § 78b StGB eine besondere Herausforderung für Staatsanwaltschaft und Tatgerichte dar.[15] Insofern ist es hilfreich und „tröstlich“, dass mit dem nun von Braumandl und Pösl vorgelegten Praxishandbuch ein mit fundiertem juristischem und kriminologischem Know-how auf neuestem Rechtsstand (27.06.2024) bearbeitetes Nachschlagewerk für Rechtsanwender und Forscher zur Verfügung steht.
Den Autoren ist die umfängliche Darstellung materiellen Rechts (Kap. 2, vgl. oben Fn. 4) sehr anschaulich in Form eines (detaillierten) Kurzkommentars, zusätzlich illustriert durch den Einschub zahlreicher praktischer Fälle und unter zusätzlicher Benennung allgemein in der Literatur gebräuchlicher phänotypischer tatbestandlicher Bezeichnungen[16], gelungen. Es bleibt daher materiell-rechtlich kaum eine Frage offen.
Neben den materiell-rechtlichen Grundlagen im ersten Hauptkapitel 2 ist die Darstellung der strafprozessrechtlichen Formalia und strafrechtlichen (Neben-) Strafen / -Folgen bzw. Maßregeln der Besserung und Sicherung im zweiten Hauptkapitel 4 ebenso detail- und erkenntnisreich ausgearbeitet. Gerade hier ist die fundierte praktische Erfahrung der Autoren in ihrer jeweiligen Rolle als Verfahrensbeteiligte, feingliedrig präsentiert, in besonderer Weise greifbar.
Die deutlich kürzeren Kap. 3 (Bundeszentralregister), 5 (Aussagepsychologie), 6 (Sexualstörungen nach ICD 10) und 7 (Strafvollstreckung) runden das trotz seiner Informationsfülle gut les- und praktisch nutzbare Handbuch in geeigneter Weise komplementär ab.
Brevi manu, das Praxishandbuch überzeugt durch seine fundierte und detailreiche materiell- und verfahrensrechtliche Tiefe, ist aufgrund seiner feingliedrigen und daher thematisch sehr übersichtlichen Gliederung, seiner Aktualität unter Hinweis auf die relevante Judikatur gleichermaßen als Kurzkommentar und Nachschlagewerk zur Klärung bedeutsamer dogmatischer und verfahrenspraktischer Fragen sehr gut geeignet. Es gehört neben den bekannten Großkommentaren in jedes gut sortierte fachjuristische Bücherregal und eignet sich außerdem sehr gut als Grundlagenliteratur für die Aus- und Fortbildung aller genannten Verfahrensbeteiligten.
Holger Plank (im Dezember 2024)
[1] Vorsitzender Richter der 20. Großen Strafkammer am Landgericht München I.
[2] Dr. iur., Fachanwalt für Strafrecht, „KPG Anwaltskanzlei“, München.
[3] Siehe Verlags-Website mit Inhaltsverzeichnis.
[4] Kapitel 1 – „Überblick über Entwicklungen und Grundlagen des Sexualstrafrechts“ (S. 1-3); Kapitel 2 – „Materielles Recht“ (S. 4-138); Kapitel 3 – „Verjährung und Eintragung ins BZR“ (S. 139-148); Kapitel 4 – „Der Ablauf des Sexualstrafverfahrens“ (S. 149-268); Kapitel 5 – „Aussagepsychologie und Befragung von Opferzeugen“ (S. 269-281); Kapitel 6 – „Sexualstörungen“ (S. 282-287); Kapitel 7 – „Strafvollstreckungsverfahren“ (S. 288-306).
[5] Zuletzt im Juni 2024 hat (federführend) das BMFSF einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur „Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ auf den Weg gebracht.
[6] Juristisch zeitgeschichtlich instruktiv für die Zeit vor der nachfolgenden Aufzählung insbesondere Müting, 2010, „Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung – Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870“. Vgl. auch Braunmandl / Pösl, 2024, Unterkapitel 2.II, S. 5-8 (materiell-rechtliche „Gesetzeshistorie“).
[7] Insbesondere die „Lanzarote-Konvention“ vom 25.10.2007, die „Istanbul-Konvention“ vom 11.05.2011, die RiLi 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornographie sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates (ABl. L 335 vom 17.12.2011)
[8] In Fortschreibung des ersten „Opferschutzgesetzes“, BGBl. I S. 2496 (Nr. 68 vom 24.12.1986), des „Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs“ (StORMG), BGBl. I, S. 1805 (Nr. 32 vom 29.06.2013), dem „Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren“ (OpferRRG), BGBl. I, S. 1354 (Nr. 31 vom 30.06.2004).
[9] U. a. der Zwangsprostitution, § 232a StGB (neu)
[10] Hierzu trägt auch die höchstrichterliche Rechtsprechung bei, vgl. zuletzt BGH, 13.12.2022 – 3 StR 372/22 zum sogenannten „Stealthing“, strafbar als Vergewaltigung, wenn „gegen den erkennbaren Willen des Sexualpartners der Geschlechtsverkehr heimlich ohne Kondom ausgeführt wird.“
[11] Vgl. z. B. Siggelkow (ARD-Faktenfinder), 01.10.2024; zuletzt aufgerufen: 02.12.2024. Ergänzend zur informativen Kurzdarstellung Siggelkows weisen die Autoren insbesondere auf das „Tatmittel Internet“ als komplementäre Ursache für den Fallzahlenanstieg hin (S. 2).
[12] Hierzu hat aktuell Odebralski ein Praxishandbuch für die Strafverteidigung (2. Auflage 2024) im Springer Verlag vorgelegt („Ders., „Aussage gegen Aussage in Sexualstrafverfahren“).
[13] Instruktiv für den Fälle sexueller Gewalt gegenüber Frauen in Fällen, in welchen zur Tatzeit keine oder eine lediglich flüchtige Vorbeziehung bestand, vgl. bspw. LKA NRW, 2023, „Forschungsprojekt ‚Sexuelle Gewalt gegen Frauen‘ – Polizeiliche Bearbeitung von Sexualdelikten“
[14] Was im Einzelfall bei in praxi regelmäßig verzögerter Anzeigeerstattung aufgrund des Fehlens physischer Spuren für die erforderliche tatrichterliche Beweiswürdigung und Überzeugungsbildung hinsichtlich der „fehlenden Einvernehmlichkeit des sexuellen Kontakts“ (S. 2) problematisch werden kann. In praxi hat die seit dem 01.03.2020 im SGB V verankerte Möglichkeit der „vertraulichen Spurensicherung“ (§§ 27 I S. 5, 132k SGB V) bis dato nicht wirklich zu einer nachhaltigen Veränderung dieses Umstandes beigetragen.
[15] Das Schutzalter Betroffener wurde seit der Einführung der sogenannten „Ruhensvorschrift“ im Jahr 1994 (30. StrÄndG, BGBl. I 1994, S. 1310, Nr. 38 vom 23.06.1994, 18 Jahre) mehrfach von 18 auf 21 (vgl. StORMG, BGBl. I, S. 1805, Nr. 32 vom 29.06.2013) und aktuell auf 30 Jahre (vgl. Aufzählung oben im Text, lit. d) angehoben. Erst ab dieser Altersgrenze beginnt die deliktische Verjährungfrist zu laufen.
[16] Vgl. z. B. S. 27 („Sexting“); S. 29 (Sonderfall „Sextortion”); S. 31 (”Cybergrooming”); S. 42 (”Nein heißt Nein“ als Grundlage des „sexuellen Übergriffs“); S. 80 (Catcalling“); S. 81 („Deadnaming“); S. 95 (sogeannte „Spaßbilder, -videos“); S. 125 („Revenge Porn“); S. 126 („Upskirting“).