Hermann Groß et al.: Kultur. Struktur. Praxis. Reflexionen über Polizei. Festschrift für Rafael Behr. 2024, ISBN 978-3-86676-873-4, 289 Seiten, Reihe: Schriften zur Empirischen Polizeiforschung, Band 30, Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt a. M., 34.90 €.
Rafael Behr gehört zu den „prominentesten empirischen Polizeiforschern in Deutschland“. Diese Eloge seiner Kollegen und Kolleginnen des Arbeitskreises Empirische Polizeiforschung in der einleitenden Würdigung der Festschrift fußt vor allem darauf, dass er „wie kein anderer laut und aus einer differenzierten wissenschaftlichen Perspektive öffentlich über die Polizei nachdenkt, Erkenntnisse benennt und (ein-) ordnet.“ Er zeigt dabei in unzähligen Beiträgen zu Büchern, Sammelbänden, Fachzeitschriften,
in Interviews[1] sowie Kolumnen in den Perspektiven „in“, „aus“ und „für“ die Polizei, dass „soziologische und kriminologische Arbeit gleichermaßen wissenschaftlich distanziert als auch emotional-engagiert betrieben werden kann.“ [2] Mit seiner von Heinz Steinert[3] betreuten und gemeinsam mit Johannes Feest[4] begutachteten Frankfurter Dissertation verankerte er den Begriff der „Cop Culture“[5] in Abgrenzung zur „Polizeikultur“ fest in der deutschen kritischen Polizeiforschung. Der „Diskurs in der bundesdeutschen Polizeiforschung hat davon profitiert“ (Mensching, S. 3), auch wenn seine Erkenntnisse und kritischen Einordnungen „als qualitativer Pionier der Polizeiforschung“[6] bei einigen, darunter nicht selten Gewerkschaftsfunktionären, (z. T. bis heute) „Schaum vor dem Mund“ erzeug(t)en.[7] Vielleicht weil seine scharfsinnigen Beobachtungen, „seine in erinnerbare Begriffe kondensierten Analysen in ihrer Treffsicherheit nicht zu leugnen sind.“ Er hat „(…) die Polizei wie die Polizeiforschung in den letzten Jahrzehnten ordentlich beschäftigt, d. h. irritiert, konfrontiert und immer wieder auch um neue, durchaus unkonventionelle Perspektiven ergänzt“ (Mensching, S. 8).
Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis der gemeinsam von Hermann Groß[8], Nathalie Hirschmann[9], Daniela Hunold[10], Astrid Jacobsen[11], Anja Mensching[12], Peter Schmidt[13] und Marschel Schöne[14], den Organisatoren des Arbeitskreises Empirische Polizeiforschung[15], herausgegebene und im Verlag für Polizeiwissenschaft veröffentlichte Festschrift[16] für Rafael Behr[17] macht Lust auf die insgesamt 21 Beiträge von 24 Autoren und Autorinnen. Darunter findet sich, neben einer „Graphic Novel“ (Hirschmann, S. 99) und, den Sammelband abschließend, gereimter Lyrik (Hunold, S. 281ff) auch – für das Format einer Festschrift eher ungewöhnlich aber gleichwohl sehr lesenswert – ein ausführliches zweiteiliges Interview (S. 11-30 – polizeilicher Kontext und S. 183-210 – „Entfremdungsprozess“, wissenschaftlicher Kontext), das Udo Behrendes mit Rafael Behr geführt hat. Dabei erfährt man sehr viel über seine Prägung, individuelle Entwicklung und sein Verhältnis zu Macht, Machtausübung, Dominanz und Unterwerfung[18] kurz vor und nach Eintritt in die hessische Bereitschaftspolizei (BePo) im Jahr 1975, in seiner kurzen Zeit als Gruppenführer bei der BePo nach Abschluss der Ausbildung und die Beweggründe für seinen zügigen Wechsel von der BePo in den Streifendienst der Frankfurter Polizei, seine Aufstiegsausbildung, seine zunehmende „Entfremdung“ von der Organisation Polizei und schließlich über seinen partiellen Ausstieg, zunächst als Polizeibeamter in Teilzeit, in Beurlaubung (ab Jan. 1989) und einige Jahre später dann über den endgültigen Wechsel nach der Kündigung bei der Polizei (1992) an die Goethe-Universität-Frankfurt als Student der Soziologie (seit 1987), über die er gewohnt selbstkritisch und reflektiert berichtet.
Über die Bedeutung von Ethik, Moral und Recht im Spannungsfeld polizeilichen Handelns, insbesondere mit Blick auf das staatliche Gewaltmonopol, und die nachhaltige Verankerung dieses Beziehungsgeflechts in polizeilichen Leitbildern in der Aus- und Fortbildung, berichtet Josef Pfaffenlehner[19]. Er findet hierbei viele Anleihen im Schaffen Behrs. Interessant ist hierbei sein Verweis auf das von 2008-2015 laufende österreichische Projekt „Polizei.Macht.Menschen.Rechte“[20] zur Entwicklung und Verankerung eines „menschenrechtlich fundierten Berufsbildes der Polizei“ , an welchem auch Behr mitarbeitete. Es trifft sich gut, dass in unmittelbarem Anschluss an den Beitrag Pfaffenlehners Werner Schiewek[21] unter dem Titel „Was macht die ‚Guten‘ gut? Rafael Behrs Anregungen für die Polizeiethik“ den Begriff der „Polizeiethik“ und Behrs zahlreiche Anregungen hierzu vertieft.
Den Appell von Schöne (S. 93), „Soziale Arbeit und Polizei sollten mehr in ihre Beziehungsarbeit investieren“, kann man nur unterstützen. Wer als Co-Moderator neben einer Diplom-Sozialpädagogin und Sozialarbeiterin gemeinsame projektbezogene[22] mehrtägige Workshops mitgestalten und dabei Trennendes erleben und verarbeiten und damit Grundlage für Verbindendes im täglichen komplementären Miteinander schaffen durfte, weiß, welche Türen sich am Ende eines Vertrauensbildungsprozesses öffnen können, ohne absolute professionelle Grenzen und das jeweilige disziplinäre Selbstverständnis zu verletzen.
Polizei und Wissenschaft pflegen seit jeher ein „ambivalentes Verhältnis“, arbeiten Groß[23] und Häfele[24] in ihrem Beitrag (S. 101ff.) ganz im Sinne Behrs essayistisch heraus. Auch wenn es manchem immer noch nicht gefallen mag, bringen sie die Interdependenzen zwischen den beiden „Polen“ treffend in Anlehnung an ein Zitat von Wilhelm Heitmeyer[25] zum Ausdruck: Die „demokratische Gesellschaft hat ein Anrecht darauf zu wissen, was in der Institution der Polizei abläuft, die sie mit dem Gewaltmonopol ausgestattet (vielleicht noch besser „beliehen“, HP) hat. Deshalb ist diese Institution kontinuierlich einer ‚gesellschaftlichen Durchlüftung‘[26] auszusetzen. Dazu muss mehr geschehen, als Regierende und Vertreter:innen von Polizeiinstitutionen bisher bereit sind. Ansonsten existiert auch an dieser Stelle ein Demokratieproblem und die Polizei bleibt eine uneinsichtige Institution.“ Dabei haben sich die Methodik und die Zugänge von den Anfängen der Feldforschung „über“ die Polizei bis hin zur explorativen Faktorenanalyse „in“ und „für“ die Polizei qualitativ und quantitativ erheblich weiterentwickelt, wie Vera[27] (S. 113ff.) feststellt, und vieles, was vor nicht allzu langer Zeit undenkbar erschien, ist heute selbstverständlich, auch wenn zuletzt der Disput um die Notwendigkeit der Erforschung des Themas Rassismus in der Polizei und rund um die aus dieser Diskussion heraus erwachsene MEGAVO-Studie[28] zeigt, dass es noch Entwicklungspotenzial gibt. Das Verhältnis von „Wissenschaft“ und „polizeilicher Handlungslehre“ spiegelt sich im innerpolizeilichen Kontext wohl im Besonderen am Verhältnis zwischen den kriminalwissenschaftlichen Fachdisziplinen der „Kriminologie“ und „Kriminalistik“ und ihrem Wert für das polizeiliche Alltagshandeln, in Bezug auf die Kriminalistik aber auch, ob sie eine eher wissenschaftliche oder primär handlungsorientierte Prägung (ohne) ohne epistemologische Fundierung hat. Hierzu steuert Gundlach[29] einen längeren Beitrag (S. 155-182) zur Festschrift bei.
Mit einem wahrnehmbaren „Schmunzeln“ weist schließlich Frevel[30] auf eine „markante Leerstelle“ in Behrs Konzept der „Cop-Culture“ hin, nämlich auf die „Kulturarbeit in bzw. von der Polizei“, vulgo: „Das Wirken der vielen Polizeichöre im Land“ und die nachlassende „Bestandslegitimität“ als Berufsstandes-Verein „Polizeichor“ (S. 145ff.).
Feltes[31] / Mallach[32] beschäftigen sich mit dem „Lagebedingten Erstickungstod“ als Risiko dynamischer polizeilicher Einsatz- und Festhalteszenarien und plädieren nachvollziehbar für eine anhaltend nachhaltige Aus- und Fortbildung auf Grundlage klar formulierter Richtlinien.
Beiträge zu den Themen „Racial Profiling“ (Kopke[33] / Laabich[34], S. 221ff.) im Kontext der Frage „Polizeiliches Erfahrungswissen oder vorurteilsgeleitete Ermittlungspraxis? und potenzielle bzw. tatsächliche „Diskriminierungserfahrungen“ (Klimke[35], S. 245) im Verhältnis der LGBTIQ-Bewegung und der Polizei (in und außerhalb der Organisation) sowie zu Beschwerde- und Kontrollstrukturen der Polizei sowohl in Bezug auf die int. Polizeizusammenarbeit als auch hinsichtlich des „Streetlevel-Policing“ (Aden[36], S. 257ff.) runden die Festschrift ab.
Den Herausgebern ist in Anlehnung an das vielfältige Schaffen Behrs eine gute thematische Mischung aus wissenschaftlich lesenswerten, biografisch und essayistisch interessanten, z. T. auch sarkastisch pointierten Beiträgen, erstellt von einem sehr ansehnlichen Autorenteam, die Rafael Behr und sein Schafften z. T. über Jahrzehnte begleitet bzw. inspiriert haben, gelungen.
Holger Plank (im Dezember 2024)
[1] Dabei ging es ihm im Gegensatz zu manch anderem sicher stets um die Vermittlung einer differenzierten, mitunter auch provokativen „Botschaft“ und nie um den Aspekt „Der will doch nur ins Fernsehen“, wie der Sozialanthropologe und Kriminologe Prof. Dr. Nils Zurawski, der an der Akademie der Polizei und der Universität Hamburg lehrt, im Obersatz seines Beitrags (S. 211ff.) mit dem Subtitel „Gedanken zur Figur des engagierten Wissenschaftlers und den Abwehrreflexen einer Organisation“ klar stellt.
[2] Eine kleine Auswahl hiervon ist in einem Publikationsverzeichnis der Akademie der Polizei Hamburg nachgewiesen.
[3] Prof. für Soziologie, bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2007 (+ 2011) am Fachbereich 03, Gesellschaftswissenschaften der J. W. v. Goethe-Universität Frankfurt tätig.
[4] Prof. für Strafverfolgung, Strafvollzug und Strafrecht. (seit 2005 im Ruhestand) an der Universität Bremen.
[5] „Cop Culture – Der Alltag des Gewaltmonopols. Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei“, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 1. Auflage, 2000.
[6] Ohlemacher, KZfSS (52) 2000, S. 590-592.
[7] Astrid Jacobsen inszeniert dieses „Bild“ am Ende der Festschrift unter dem Titel „Lagebild Behr“ (S. 271ff) pikant überspitzt in einer fiktiven behördlichen Szenerie, in welcher die Publikation polizeiwissenschaftlicher Erkenntnisse durch Behr auf mehrfache Bitte einer Polizeigewerkschaft (jedoch erst nach der Ruhestandsversetzung Behrs) auf Einladung durch den Behördenleiter in verschiedenen fiktiven Rollen multiperspektivisch – und ohne greifbares Ergebnis – analysiert wird.
[8] Dipl.-Pol., Dipl.-Psych., Hessische Hochschule für Polizei und Verwaltung (HfPV)
[9] Dr. rer. pol., Kommunikations- und Verhaltenstrainerin, Coachin, Visualisiererin
[10] Prof. Dr., Sozialwissenschaftlerin / Dipl.-Kriminologin / Empirische Polizeiforscherin, HWR Berlin
[11] Dr. rer. soc., Soziologin, Polizeiakademie Niedersachsen
[12] Prof. Dr., Dipl.-Kriminologin, Diplom-Sozialpädagogin, Universität Kiel
[13] Ltd. PD, Hessisches Ministerium des Innern und für Sport
[14] Prof. Dr., Hochschule der Sächsischen Polizei
[15] https://empirische-polizeiforschung.de/wp/organisatoren/ (aufgerufen: 05.12.2024).
[16] Siehe Verlags-Website mit Kapitelübersicht.
[17] Der bis zu seinem Ruhestand am 01.04.2024 als Professor für Organisationskultur, Empirische Polizeiforschung, Devianzforschung und soziale Kontrolle an der Akademie der Polizei Hamburg tätig war. Daneben hat(te) er Lehraufträge an den Universitäten in Hamburg und Bochum. 2021 lehnte er „aus gesundheitlichen Gründen“ einen Ruf der damaligen Regierungsfraktionen im Hessischen Landtags ab, die ihn gerne als hessischen „Bürger- und Polizeibeauftragten“ beauftragen wollten.
[18] „Ich wollte nicht dominiert werden und wollte nicht dominieren“, S. 19.
[19] Wiss. Referent am Institut für Wissenschaft und Forschung der Sicherheitsakademie des österreichischen Bundesministeriums des Inneren.
[20] https://www.bmi.gv.at/408/pmmr/start.aspx (abgerufen: 05.12.2024).
[21] Der als evangelischer Theologe und Seelsorger bis zu seinem Ruhestand im Januar 2024 lange Jahre diesen Begriff an der Deutschen Hochschule der Polizei und der HSPV NRW an angehende Polizeiführungskräfte vermittelt hat. Anl. seiner Verabschiedung erschien auch die kleine, lesenswerte Dankschrift „DenkWege – Ethik und Seelsorge in der Polizei“ im Springer Verlag, 2023.
[22] Vgl. Modellprojekt Kooperation Polizei – Jugendhilfe – Sozialarbeit – Schule (PJS), Abschlussbericht 2003, Evaluation durch DJI, 2003.
[23] Prof.‘in Dr. Eva Groß, Soziologin, Kriminologin, an der Akademie der Polizei Hamburg in der Lehre für die beiden o. g. Fächer.
[24] Prof. Dr. Joachim Häfele, Psychologe, Soziologe, Rechtswissenschaftler, empirischer Polizei-, Extremismus- und Sicherheitsforscher an der Niedersächsischen Polizeiakademie.
[25] Heitmeyer, „Polizei als uneinsichtige Institution“, in: Hunold / Singelnstein (Hrsg.), „Rassismus in der Polizei“, Wiesbaden, 2022, S. 561-578.
[26] Backes et al., „Risikokonstellationen im Polizeialltag“, 1997, S. 192f.
[27] Prof. Dr. Antonio Vera lehrt Organisation und Personalmanagement an der Deutschen Hochschule der Polizei (DHPol)
[28] https://www.polizeistudie.de/ (abgerufen: 05.12.2024).
[29] Prof. Dr. Thomas Gundlach lehrt Kriminalistik an der Akademie der Polizei Hamburg.
[30] Prof. Dr. Bernhard Frevel lehrt Soziologie, sozialwissenschaftliche Methoden, Statistik und Polizeiwissenschaft an der HSPV NRW am Studienort Münster.
[31] Prof. Dr. Thomas Feltes, bis 2019 Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Der Beitrag ist auch im Volltext unter der Rubrik „Veröffentlichungen“ auf der Website www.thomasfeltes.de nachzulesen.
[32] Wolfgang E. Mallach, Polizeibeamter a. D. und Polizeiwissenschaftler, vgl. Kurz-Vita, abgerufen: 05.12.2024.
[33] Prof. Dr. Christoph Kopke lehrt Politikwissenschaft und Soziologie im FB 5, „Polizei und Sicherheitsmanagement an der HWR Berlin.
[34] Oussama Laabich, Polizeibeamter im geh. Dienst und MA-Student « Sicherheitsmanagement » an der HWR Berlin.
[35] Prof. Dr. Daniela Klimke lehrt Kriminologie und Kriminalsoziologie an der Polizeiakademie Niedersachsen.
[36] Prof. Dr. Hartmut Aden lehrt Öffentliches Recht und Europarecht an der HWR Berlin.