Laura Beck, Jürgen Neitz: Ein steiniger Weg. Rezensiert von Thomas Feltes.

Laura Beck, Jürgen Neitz: Ein steiniger Weg. Netzwerk-Kurier-Verlag Neddemin, 2024, ISBN 978-3-00-080647-6, 298 S., 19,95 Euro

Im Januar 2025 starben innerhalb von wenigen Tagen vier obdachlose Menschen in Dortmund und Lünen. Besonders die Haltung des Dortmunder Sozialamtes sorgte für Kritik. Dieses hatte erklärt, dass Obdachlosigkeit bei den aktuellen Temperaturen eine freiwillige Entscheidung sei. „Diese Aussage verkennt die Realität“, betont Bastian Pütter, Mitglied der Leitung von bodo e.V., einer Dortmunder Initiative für Obdachlose, die selbst Anlaufstellen für Obdachlose betreibt. „Damit wird suggeriert, es gäbe eigentlich kein Problem. Das ist angesichts von 500 bis 600 obdachlosen Menschen in Dortmund schlicht falsch.“ Pütter kritisierte, dass mit dieser Argumentation die Verantwortung von der Kommune auf die Betroffenen verschoben werde.

Dem Statistischen Bundesamt zufolge waren Anfang 2024 rund 439.500 Menschen in der sog. Wohnungsnotfallhilfe untergebracht. Weitere rund 60.400 kamen bei Angehörigen, Freunden oder Bekannten unter und rund 47.300 lebten auf der Straße oder in Behelfsunterkünften. Damit gibt es in Deutschland rund eine halbe Million wohnungslose Menschen. Von einem der fast 50.000 Menschen, die auf der Straße leben, handelt dieses Buch. Wobei: Die Obdachlosigkeit ist eher der Aufhänger für das Buch, und über die Obdachlosigkeit und das Leben auf der Straße des Ko-Autors Jürgen Neitz ist das Buch auch entstanden. Inhaltlich ist es aber eher die Biographie eines Menschen, der in einem Heim in der DDR aufwuchs, verschiedene Berufe erlernte, auch einmal mit sechs Mitarbeitenden selbständig war – am (vorläufigen) Ende aber scheiterte und in München auf der Straße landete.

Mit 66 Jahren hat Jürgen Neitz durch die Arbeit an dem Buch und den in diesem Zusammenhang wieder zustande gekommenen Kontakten zu ehemaligen Freunden und Kollegen in Mecklenburg-Vorpommern die Chance auf einen Neuanfang bekommen. Sein Leben schildert er zusammen mit einer Koautorin in diesem Buch.

Es ist ein Glücksfall und eine absolute Ausnahme, dass Jürgen Neitz überlebt hat. Die wenigsten schaffen es von der Straße, erst recht in diesem Alter. „Die meisten saufen sich zur Besinnungslosigkeit und erfrieren eines Winters, oder sie sterben an Organversagen im Krankenhaus. Die Bestattung bezahlt dann die Allgemeinheit, Einäscherung, Urne, Holzkreuz, nur manchmal kommen Leute von der Obdachlosenhilfe und sagen zwei Sätze, die sich weniger mit dem Gestorbenen selbst, als vielmehr mit der Tatsache von so bitterer Armut in einem so reichen Industrieland beschäftigen. Der Tote ist ein Symbol für das Versagen eines sozialen Staates, und sein Tod so einsam und kalt, wie das Leben auf der Straße es gewesen ist“ (S. 21).

Diese Passage aus dem Buch macht deutlich, dass es mehr als der Bericht eines Obdachlosen, mehr als eine Ost-West-Biographie ist. Das Buch führt dem Leser vor Augen, wo die Probleme unseres Sozialstaats liegen – so wie es Bastian Pütter thematisiert hat.

2015 ist sein sechstes Jahr auf der Straße, als die Flüchtlinge kommen. „Ich beobachte still, wie die Menschen am Münchener Hauptbahnhof applaudieren während Massen an Leuten aus den ankommen… Ich interessiere mich nicht sonderlich für Politik und bin auch kein Ausländerhasser. Aber die Flüchtlingswelle teilt Deutschland in vielerlei Hinsicht. Die einen klatschen, die anderen demonstrieren. Ich bin einerseits erstaunt, wie spendenbereit die Bevölkerung ist, und andererseits entsetzt, wie mit den Spenden umgegangen wird. Dann wieder denk ich, dass sich die BRD „Sozialstaat“ nennt, ohne besonders sozial zu sein. Wenn man wie ich mit offenen Augen und Ohren durch die Straßen geht, sieht man täglich, wie dieser „Sozialstaat“ funktioniert – nämlich überhaupt nicht. Viele der Flüchtlinge landen aus dem Zug direkt auf der Straße“ (S. 88).

Selbst wenn man versucht, jemanden unterzubringen, viele der Menschen, die auf der Straße leben, können das gar nicht mehr: „Untergebracht“ zu werden. Dies deutet darauf hin, dass die Fehler nicht erst dann gemacht werden, wenn Menschen bei Minustemperaturen auf der Straße übernachten (und sterben), sondern viel früher. Wenn sie erst einmal längere Zeit auf der Straße gelebt haben, dann können sie nicht mehr „Wohnen. Sie haben schlicht verlernt, wie das geht und wie sich das anfühlt, die Stille in einem Raum. Sie haben sich an den Geräuschpegel und den Rhythmus der Straße gewöhnt, an das draußen sein“ (S. 21).

„Es werden immer mehr. Nur ich bin der eine weniger. Ich habe es aus der Obdachlosigkeit zurück ins Leben geschafft, habe mich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen. Mit tatkräftiger Hilfe von Freunden. Ich wohne wieder in meinem Heimatort, arbeite auf Moses Schiffen und achte darauf, regelmäßig viel zu essen, damit ich kräftiger werde. Beim Imbiss der Familie Rauf schmeckt das Essen noch wie zu DDR-Zeiten und ist außerdem erschwinglich, was mir hilft, weil allein kochen immer teurer wird. Ich habe das Gefühl vermisst, dass einem auf dem Schiff der Wind um die Ohren weht und nach vielen Jahren war ich endlich wieder in der Müritz baden, ein irres Gefühl“ (S. 285).

1967 wurde in der Sendung PRISMA des DDR-Fernsehens über das Heim berichtet, in dem Jürgen untergebracht war. Der Sprecher erzählte: „Das ist Jürgen, er ist heute 12 Jahre alt. Seit seiner Geburt ist Jürgen im Heim. Seine Mutter lebt, sie wohnt gar nicht weit von ihm. Aber Jürgen hat seine Mutter noch nie gesehen. Seine Bitte, sie mal besuchen zu dürfen, wurde von ihr immer brüsk abgelehnt. In Jürgens Akten spiegelt sich der jahrelange Kampf, der um sein weiteres Schicksal geführt werden musste. Die Gesellschaft und das Heim taten alles, damit die Mutter sich ihrer Verantwortung für das Kind bewusstwird. Aber sie lehnt ab“. Ein Dokument wurde eingeblendet, im Briefkopf „Der Rat des Kreises Demmin, Bezirk Neubrandenburg“, Überschrift: „Erziehungsprogress für Jürgen“, sein Nachname war geschwärzt. Ein Zitat wurde vorgelesen: „Sie empfand unsere Aufforderung zur Heimkostenerstattung nur als Belästigung.“ Der Sprecher führte fort: Alle Sorge um den Jungen überlässt sie unserem Staat. Aber als ein Jugendfürsorger ihr mitteilte, dass es ihm gelungen sei, für Jürgen ein Elternhaus zu finden, sagt sie kurz und bündig: „Ich gebe nicht die Einwilligung, mein Junge kann noch einmal mein Ernährer sein.“ So zerschlug sich für den Jungen die Chance, in einem guten Elternhaus ein Vorbild zu finden“ (S. 43).

Die Ko-Autorin Laura Beck ist 1987 in Schleswig-Holstein geboren und aufgewachsen bei München. Sie arbeitet als Autorin und Filmemacherin beim Bayerischen Rundfunk. Für ihren Film zu Markus Ostermairs Roman „Der Sandler“ (2020)[1] erhielt sie 2022 den Münchner Fernsehpreis. Bei den Dreharbeiten zu diesem Film, der sich mit Obdachlosigkeit auseinandersetzt, traf sie vor der Bahnhofsmission Jürgen Neitz. „Aus der kurzen Begegnung wurde eine Freundschaft, im Zuge dessen sie Jürgen Neitz auf seinem Weg nach 12 Jahren als Obdachloser auf der Straße zurück in seine Heimatstadt Waren an der Müritz begleitete. Aus seinen Aufzeichnungen und vielen, stundenlangen Gesprächen entstand 2024 dieses Buch“ (Klappentext). So entsteht nicht nur ein Fernsehbericht (ein weiterer wird Anfang Januar 2025 beim NDR ausgestrahlt), sondern beide schreiben gemeinsam dieses Buch.

Ende 2016 ändert sich das Leben von Jürgen Neitz schlagartig, als er in einer Obdachloseneinrichtung, in der er regelmäßig die Teestube besucht, gefragt wird, ob er eine „Juliane“ kenne. Ja, sagt er, „aber das ist ein ganzes Leben her. Das war auf einem anderen Planeten, zu einer anderen Zeitrechnung, in einem anderen Universum“ (S. 116). Neitz hatte über 20 Jahre nichts mehr von Juliane und ihrem Bruder gehört. Er schämt sich, weil er „ein Nichts, ein Niemand. Ein Obdachloser, ein Mann aus der Gosse“ ist (S. 133). Juliane und ihren Bruder hatte Jürgen Neitz zu DDR-Zeiten betreut, sie waren wie Kinder für ihn. Jetzt sind sie Ärztin und Flugkapitän. Jürgen Neitz ist froh und stolz auf „seine“ Kinder: „das beste Gefühl, das ich seit langer, langer Zeit habe“ (S. 136).

Jürgen Neitz ist im Heim aufgewachsen in der DDR, obwohl seine Mutter lebte. Er hat Binnenfischer in seiner Heimatstadt Waren an der Müritz gelernt, war Polizist, Zweiradmechaniker und hat nach dem Mauerfall als LKW-Fahrer und Möbeltransporteur gearbeitet, sogar eine eigene Firma gehabt – bis er „von einem Tag auf den anderen“ aufgehört hat zu arbeiten. Sein Leben „sei in einem schwarzen Loch verschwunden“. „Geht schnell heute“, sagte er, „dass einer alles verliert, was er sich aufgebaut hat“ (S. 9 f.). Dabei hatte er viel investiert, auch in Beziehungen, immer wieder versucht, seinen Traum vom Familienleben zu erfüllen. Warum das nicht gelingt, beschreibt er in dem Buch eindrucksvoll – zwar aus seiner Sicht, aber immer nachvollziehbar.

Zuvor hatte sich Jürgen Neitz immer wieder verschiedene „Leben“ neu aufgebaut. Dieses Leben, das gleichermaßen bunt wie tragisch ist, wird in dem Buch dargestellt. Immer authentisch, immer spannend, und immer fragt man sich, wieso so viel einem einzelnen Menschen passieren kann – der diese Schicksalsschläge am Ende sogar überlebt, auch wenn es zwischendrin nicht danach aussah. Dabei springt die Darstellung im Buch immer wieder einmal zeitlich hin und zurück, was wohl dramaturgisch gedacht ist, aber eigentlich nicht wirklich notwendig gewesen wäre. Denn auch ohne diesen „Kunstgriff“ lässt einen das Buch nicht ruhig, man legt es nicht aus der Hand, bis man die Geschichte von Jürgen – die, und so viel darf verraten werden – am Ende gut ausgeht, zu ende gelesen hat. Im Dezember 2020 schläft er zum ersten Mal seit 12 Jahren in einem Bett. „Ich habe ein Dach über dem Kopf, aber es ist einsam“ (S. 253).

Zwischendurch war Neitz auch sieben Jahre bei der Polizei. Er habe „in dieser Zeit circa fünfzig Tote von der Straße holen müssen. Viele von ihnen waren Nachtunfälle, viele hatten getrunken. Ich verband Alkohol nie mit etwas Positivem. Da ich auch unter den Kollegen der Einzige war, der nicht trank, war ich nachts meist einer der Ersten, der geholt wurde. Ich hatte immer das Glück, niemanden von den Toten gut zu kennen und versuchte deshalb, die Ereignisse nicht zu sehr an mich heranzulassen. Ich habe aber zum Beispiel nie verstanden, dass die Polizei dafür zuständig war, die Todesnachricht zu überbringe. Ich fand, diese Aufgabe wäre bei einer psychologisch geschulten Person besser aufgehoben“ (S. 101). Die Polizei hat er verlassen, weil er mit seiner moralischen Grundeinstellung immer wieder in der Institution aneckte.

Seine Grundeinstellung beschreibt er wie folgt: „Ich wurde geboren und keiner wollte mich, aber die Tanten (die beiden Erzieherinnen im Kinderheim, TF) haben mich gut erzogen. Ich habe mir Ziele gesetzt und erreicht (Rennrad, Lehre). Ich konnte gut von böse unterscheiden und setzte mich gegen Unrecht ein. Ich lehnte Gewalt ab und hatte gelernt, meine Probleme mit dem Mund zu lösen. Ich konnte Menschen einschätzen, lernte mich durchzusetzen und für mich zu kämpfen und wurde dabei stärker“. Er habe einen guten Charakter, und alle Jobs habe er gern gemacht. Reichtum sei ihm nie wichtig gewesen, aber ein nettes Arbeitsumfeld. Ich habe stets das Gute in den Menschen gesucht.

Es gibt Leute, die mich mögen und meine Aufrichtigkeit schätzen und solche, die Kritik nicht ertragen und somit auch nicht mich. Ich habe Freunde und Feinde, was soll’s. Mir sind die Menschen am liebsten, die ehrlich sind und mir nicht nach dem Mund reden. Ich merke aber, dass der größte Teil der Obdachlosen eine andere Zielrichtung hat als ich und kapsele mich ab. Ich bin ein Einzelgänger. Ich weiß, was ich tun muss, um auf der Straße zu überleben, obwohl ich manchmal nicht weiß, warum ich das noch mache – überleben“. S. 93

Die positive Bewertung und Einstellung zu seiner Heimunterbringung, die im Wesentlichen durch die Erfahrung mit den beiden Erzieherinnen geprägt ist, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Dabei wird deutlich, welche besondere, positive Bedeutung diese Erfahrung für ihn gehabt hat. Dass dies in starkem Gegensatz zu der seit geraumer Zeit geführten Debatte um DDR-Heime steht (bei der es meist um die sog. „Jugendwerkhöfe“ geht), ist offensichtlich. Aber es ist wichtig, dass es auch solche Berichte gibt, die positive Aspekte in den Vordergrund stellen und deutlich machen, dass es auch anders ging und es oftmals auf die handelnden Personen ankam. Dabei soll und darf nicht verschwiegen werden, dass das System der „Jugendhilfe“ in der DDR insgesamt höchst problematisch war und mit „entwürdigenden Methoden“ arbeitete. Von 1949 bis 1990 durchliefen 495.000 Minderjährige das Heimsystem der DDR.

Die zehnte Klasse hatte Jürgen Neitz gerade so bestanden. Mit seinem Schulabschluss endete seine Zeit im Kinderheim. Die folgende Passage aus dem Buch macht deutlich, warum er den beiden Erzieherinnen in dem Heim dankbar. Er nennt sie seine Tanten, seine Familie. „Ich hatte in den letzten Jahren die Eltern einiger meiner Schulkameraden kennengelernt – manche fand ich nett, manche gefielen mir überhaupt nicht. Wir waren ungefähr 13, als eine Mutter ins Heim kam, um ihre Tochter zu besuchen. Sie war zu besoffen, um die drei Stufen zur Eingangstür hochzukommen, auf allen Vieren krabbelte sie herauf, dann blieb sie liegen und pisste sich ein. Wir riefen den Krankenwagen. Zwar haben wir uns totgelacht, aber gleichzeitig war das das einschneidende Erlebnis, wegen dem ich beschloss, niemals Alkohol zu trinken. Ich schlussfolgerte daraus auch, dass es mit Eltern ist wie mit dem Heim: man kann Glück haben, oder Pech. Ich hatte Glück. Die Tanten haben uns liebevoll erzogen; alles, was ich bisher erreicht und gelernt hatte, verdankte ich ihnen – und dass, obwohl ich nicht ihr eigenes Kind war. Sie haben uns ihr ganzes Leben gewidmet. Uns Kindern, die sonst niemand wollte. Sie waren ja nicht nur tagsüber für uns da, sondern auch nachts, ein 24-Stunden-Job. Wenn ich sehe, wie viel Mühe manche Familien mit ein oder zwei Kindern haben, kann man ihre Arbeit nicht hoch genug anerkennen. Und auch jetzt bemühten sie sich, mich trotz meines mittelmäßigen Abschlusses bei der Fischerei unterzubringen. So schickten sie mich hinaus ins Leben: den Ausbildungsvertrag für meinen lange ersehnten Berufswunsch in der der Tasche verlies ich das Haus meiner Kindheit“ (S. 61)

Die „Tanten“ sollten ein wichtiger Bestandteil in seinem Leben bleiben, bis zu seiner Obdachlosigkeit in München. Als eine der beiden stirbt, zieht es ihm den „Boden unter den Füßen“ weg (S.232) Diese Obdachlosigkeit begann nicht schleichend, sondern schlagartig. Für den Tag im Jahr 2009, als er seine Wohnung verloren hatte, notiert er: „An einer Tankstelle hole ich mir schwarzen Kaffee, setze mich auf eine Bank und zünde mir einen Zigarillo an. Ich muss nachdenken, nachdenken! Niemand wird mich suchen. Niemand braucht mich, niemand will mich. Das war schon immer so. Nichts, was ich in der Wohnung gelassen hab, hat einen wirklichen Wert für mich. Bei der Räumung dabei sein wollt ich trotzdem nicht. Ich hätte den mitleidigen Blick des Gerichtsvollziehers nicht ertragen, man muss seinen Absturz nun wirklich nicht vor Publikum vollziehen. … Der Tag ist lang und zäh, und es sind zu viele Menschen um mich herum. Sie sind zum Glück alle viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu bemerken, dass der Mann, an dem sie vorbei gehen, gerade fällt. Woran sollen sie es auch erkennen? Ich sehe ordentlich aus, ich stinke nicht. Mein innerer Niedergang ist äußerlich nicht sichtbar. … Mein Zeitgefühl ist breiig. Meine Gedanken halten sich mit der Vergangenheit auf, mein Handeln befasst sich nur mit dem Gegenwärtigen – Flaschen sammeln, essen, Kaffee, rauchen -, eine Zukunft gibt es nicht. Der einzige Ort, an dem ich sein will, ist ein Meter unter der Erde“ (S. 29).

Eine der ersten Begegnungen zwischen der Mitautorin Laura Beck und Jürgen Neitz wird in dem Buch so beschrieben: „Seit zwölf Jahren lebe er nun auf der Straße. Nie gebettelt habe er, darauf legte er wert, er finanziere sich selbst, durch’s Flaschensammeln. „Nur Plastik, kein Glas. Da machst du dir für 8 Cent den Rücken kaputt“ (S. 10). Er holte dann aus seinem Brustbeutel ausgedruckte E-Mails und Briefe von Menschen aus seiner Vergangenheit hervor, alles Leute, die in den letzten zehn Jahren mal nach ihm gesucht hatten, nachdem sie in Fernseh- oder Medienberichten von ihm erfahren hatten und Mails an die Einrichtung geschickt hatten, die Neitz regelmäßig besuchte, um sich dort tagsüber aufzuhalten (übernachtet in Obdachlosenunterkünften hat er nie). Er hatte sie, so die Co-Autorin, schon so oft auseinander- und wieder zusammengefaltet, dass sie entlang der Knicke gerissen sind. Jürgen fing an zu weinen. „Er breitete die Briefe vor uns auf der Parkbank aus, wie als Beweis „Irgendwas muss ich doch richtig gemacht habe, im Leben, dass Leute mich suchen“.

Auch Jürgen hätten die Sozialarbeiter schon ewig versucht, von der Straße zu kriegen, aber er hatte sich immer geweigert. „Massenunterkünfte“ für Obdachlose wollte er nicht, die Leute schnarchen rülpsen, pfurzen, sie stinken nach Alkohol und stehlen. Es gäbe Prügeleien und Geschrei bis spät in die Nacht. Obdachlosigkeit ist ein psychischer Ausnahmezustand, und genauso sieht das auch aus. Nicht aber bei Jürgen.

Über seine Obdachlosigkeit berichtet Neitz u.a., dass er in einer der ersten Nächte, als auch eine Pappe unter dem Schlafsack nicht mehr verhindert, dass die Feuchtigkeit ihm in alle Knochen fährt, in eine dieser blauen Papiermülltonnen krabbelt. „Sie steht in einem ruhigen Innenhof und ihr Deckel lässt sich komplett anheben. Zwischen den Pappen ist es warm und sogar einigermaßen gemütlich. Die Beine kann ich nicht ganz ausstrecken, aber fast. Ich muss nur höllisch aufpassen, dass ich nicht morgens davon geweckt werde, wie sie mich in den Müllwagen kippen. So liege ich da. Ich bin wirklich gesegnet, ich kann überall schlafen, das war schon immer so. Niemand wird mich hier in der Tonne vermuten. Es sucht ja auch niemand nach mir. Niemand braucht mich, niemand will mich. Ich komme aus dem Nichts, und im Nichts bin ich gelandet“ (S.32).

Mit Jürgen Neitz gibt es einen Obdachlosen weniger in Deutschland. Er hat es aus der Obdachlosigkeit zurück ins Leben geschafft, hat sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen, wie er selbst schreibt. „Mit tatkräftiger Hilfe von Freunden. Ich wohne wieder in meinem Heimatort, arbeite auf Moses Schiffen und achte darauf, regelmäßig viel zu essen, damit ich kräftiger werde. Beim Imbiss der Familie Rauf schmeckt das Essen noch wie zu DDR-Zeiten und ist außerdem erschwinglich, was mir hilft, weil allein kochen immer teurer wird. Ich habe das Gefühl vermisst, dass einem auf dem Schiff der Wind um die Ohren weht und nach vielen Jahren war ich endlich wieder in der Müritz baden, ein irres Gefühl. Auf der Weihnachtsfeier der Blau-Weißen-Flotte hat Moses eine Rede gehalten. Mitarbeiter waren da, auch ich. Er sagte, in diesem Jahr sei ein kleines Wunder passiert: er habe seinen besten Freund zurück. Ich habe, natürlich, geweint“.

Das „richtige“ Leben holt ihn dann ein, als er wieder gemeldet ist. Ein Gerichtsvollzieher erscheint und will 125.000 Euro eintreiben, weil er 12 Jahre keine Krankenkassenbeiträge gezahlt habe (S. 270). Da funktioniert „der Sozialstaat“ plötzlich.

Thomas Feltes, Januar 2025

[1] Osburg Verlag, Hamburg 2020, ISBN 9783955102296. Klappentext: „In Der Sandler wird eine Geschichte erzählt, die eigentlich gar nicht erzählt werden darf. Denn sie handelt von der Scham des sozialen Abstiegs – und diese Scham macht die Betroffenen schweigen. Der Sandler ist deshalb eine fiktive Geschichte, die Obdachlose ins Zentrum stellt und trotz aller Fiktion ein realistisches und vielschichtiges Bild ihres Alltags auf den Münchner Straßen vermittelt. Einer von ihnen ist Karl Maurer. Er mäandert durch die Stadt, besucht Suppenküchen und Kleiderkammern und manchmal wird er von den Bildern seines früheren Lebens eingeholt – von seiner Frau und seiner kleinen Tochter, der Zeit als Mathematiklehrer und dem Kind, das ihm vors Auto lief. Gleichzeitig durchstreift auch sein Freund Lenz die Stadt auf der Suche nach ihm. Lenz, ein Zettelschreiber und Utopist, merkt, dass es mit ihm zu Ende geht.