Thomas Trenczek, Annemarie Schmoll: Jugendkriminalität, Jugendhilfe und Strafverfahren. Sozialwissenschaftlich-kriminologische Grundlagen und rechtliche Regelungen (SGB VIII und JGG). 2. Auflage, Richard Boorberg Verlag, Stuttgart u.a. 2024. 729 S., ISBN 978-3-415-07598-6, 98.- Euro.
Der Boorberg-Verlag schreibt auf seiner Website zu diesem Buch, es wäre besonders empfehlenswert für „Fachkräfte von öffentlichen und freien Trägern der Jugendhilfe im Strafverfahren, Juristinnen und Juristen der Staatsanwaltschaften und Jugendgerichte [und] weitere Berufsgruppen, die an Jugendstrafverfahren mitwirken oder sich wissenschaftlich mit Fragen der Jugenddelinquenz befassen oder in unterschiedlichen Zusammenhängen mit jungen Menschen arbeiten“.
Ich darf für den Polizei-Newsletter vorwegschicken: Es ist auch der Polizei dringend ans Herz zu legen, insbesondere den Dozierenden, die Polizist*innen aus- und fortbilden. Gerade in seiner Fülle ist es ein Maßstab für Selbstverständnis und Aufgaben der Jugendhilfe im Strafverfahren (JuhiS), in Anlehnung an das Jugendgerichtsgesetz (fälschlicherweise) oft „Jugendgerichtshilfe“ genannt. Strafverfolgungsbehörden und darunter der Polizei ist es ein Nachschlagewerk, wo Gemeinsamkeiten aber auch wo Trennendes im Umgang mit Jugenddelinquenz liegen – wichtige Aspekte in Zeiten, in den sog. „Häuser des Jugendrechts“ und andere Kooperationsformen en vogue scheinen.
Übersicht:
Dem Vorwort ist eine Seite mit fünf Zitaten vorweggestellt, aus denen bereits abzulesen ist, dass Trenczek und Schmoll nicht zu denen gehören, die eine zunehmende Punitivität im Jugendkriminalrecht für gut heißen. Es wird deutlich, dass „für eine professionelle Arbeit und Haltung [es] unabdingbar [ist], sich der unterschiedlichen sozial- und strafrechtlichen normierten Aufträge zu vergewissern, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu rezipieren und die rechtlichen Rahmenbedingungen einzuhalten“ (Seite 8). Genau diese Informationen befinden sich umfänglich in diesem Buch. Dies wird auch an sechs Seiten Inhaltsverzeichnis deutlich, welches durch einen hohen Detailierungsgrad auffällt. Danach folgt ein Verzeichnis der Übersichten und ein Abkürzungsverzeichnis.
Nach einer Einführung (S. 31f.) folgt das ausführliche Kapitel sozialwissenschaftlich-kriminologischer Grundlagen, welches Statistiken, Lebenslagen und Risiken wie Hoffnungen von Jugend im gesellschaftlichen Wandel darstellt. In diesen Teil fallen auch Fakten und Hintergründe zur Jugendkriminalität, ob im Hell- oder Dunkelfeld, oder was spezielle Zielgruppen der Devianzpädagogik betrifft. Dort werden auch kriminologische Bedingungen und Ursachen thematisiert, dargestellt, „what works and what doesn’t“ und die Mitwirkung der Jugendhilfe im Strafverfahren verdeutlicht.
Der Teil II umfasst rechtswissenschaftliche Grundlagen und stellt die rechtlichen Voraussetzungen der Mitwirkung der Jugendhilfe im Strafverfahren heraus. Hier heben die Autorin und der Autor auf die für die Jugendhilfe maßgelblich Rechtsgrundlage des Achten Sozialgesetzbuches (SGB VIII) ab; einschließlich der allgemeinen Grundsätze, dem Sozialverwaltungsverfahren und dem Sozialdatenschutz. Einen breiten Raum nehmen die leistungsorientierten Aufgaben nach § 52 Abs. 1 SGB VIII ein. Dem folgen die jugendstrafrechtlichen Grundlagen der Mitwirkung des Jugendamts einschließlich Anwendungsbereich, Zielen und Grundsätzen, dem formellen Teil, sowie die jugendstrafrechtlichen Rechtsfolgen.
Die Konsequenzen der Zweispurigkeit der jugendrechtlichen Sozialkontrolle für die Kooperation von Jugendhilfe und Strafjustiz diskutieren die bisherigen Erkenntnisse und ziehen ein erstes Fazit ab Seite 570. Unter Strafe, Erziehung oder Hilfe wird resümiert und ein Ausblick gegeben. Dem Text folgen Anhang, Literaturverzeichnis, Informationen zu Autor und Autorin, sowie ein Stichwortverzeichnis.
Nun ins Detail:
Im Vorwort wird deutlich, was der Zweck dieses Buches ist: Es geht darum, „Recht und Praxis der Jugendhilfe sowie des Strafverfahrens im Hinblick auf das strafrechtlich relevante Verhalten junger Menschen darzustellen und zu kommentieren“ (S. 7). Dabei wird die sozial- und jugendhilferechtliche Perspektive verstärkt in den Blick genommen (Vgl. S. 8). Grundlegend hierfür ist nicht ein oft zitiertes Verhältnis aus Widersprüchen und Gegensätzen von Jugendhilferecht und Jugendstrafrecht, sondern die „unterschiedlichen Logiken und Grundsätzen“ von SGB VIII und JGG (Vgl. S. 32).
Das Buch widmet sich auch kritisch der Diskussion um die Prognose des Fehlverhaltens junger Menschen, sieht Risiko- und Schutzfaktoren als hilfreich an, weißt aber darauf hin, dass es keine verlässlichen Vorhersagen gibt (Vgl. S. 46). Dies wird verständlich und nachvollziehbar dargestellt, löst aber das Dilemma der Polizei nicht auf, den Staatsanwaltschaften Inhalte und Einschätzungen für eine angemessene Reaktion liefern zu müssen. Der fachlichen Einordnung dieser Hinweise und deren Bedeutung ist diese Klarstellung im Buch gleichwohl sehr nützlich.
Sehr klar und die Probleme verständlich transportierend ist der Bereich 2.1, Jugend und gesellschaftlicher Wandel. Dort wird deutlich, in welch schwierigen Situationen sich junge Menschen heute befinden; beispielhaft sei der Übergang Schule-Beruf genannt (S. 55). Die beiden Autoren äußern sich fundiert zum Begriff der „Kinderkriminalität“ (S. 88), zu Einflussfaktoren auf die Polizeiliche Kriminalstatistik (z.B. S. 97), zu Gewalt, zu Migration, etc. Es ist insoweit ein komplettes Buch und ein Quell aller Themen, die mit Jugendkriminalität, Jugendhilfe und Strafverfahren auch nur im Entferntesten zu tun haben könnten. Dazu gehören auch die historischen Entwicklungen unter 2.4.1 ab Seite 179, die u.a. dem Verständnis von (irreführenden) Begrifflichkeiten („Jugendgerichtshilfe“) dienen und insgesamt einordnen.
Ab Seite 195 werden die rechtlichen Grundlagen der Mitwirkung der Jugendhilfe im strafrechtlichen Verfahren erarbeitet. Gerade dieser Bereich gefällt, macht er doch Lesenden klar, dass das Rechtsstaatsprinzip auch hier selbstverständlich gilt und dass alle Maßnahmen dem Verhältnismäßigkeitsgebot unterfallen und „rechtliche Entscheidungen […] nicht losgelöst von empirisch nachweisbaren Zusammenhängen der Lebenswelt getroffen werden [dürfen]“ (S. 197). Und immer wieder wird dabei die Selbstständigkeit der JuhiS herausgestellt (z.B. S. 202) und somit Grundlagen für Mitarbeitende dieser gelegt, diese auch selbstbewusst einzufordern. Hierfür findet sich auf S. 209 ein weiteres Beispiel, wo deutlich wird, dass § 52 SGB VIII keine isolierte Spezialaufgabe, sondern in die Systematik des SGB VIII eingebettet ist. Hier mahnen die Autoren aber auch das Jugendamt, Mitteilungen der Polizei nicht einfach „abzuheften“, sondern einen „kriminologisch geschulten Blick“ darauf zu werfen (S. 220). Es wird klar, wie bedeutend und wichtig gerade für junge Menschen eine Betreuung während des Verfahrens bis hin zum Strafvollzug ist (Vgl. S. 336).
Besonders gefällt, was die Autoren zur Reifebeurteilung von Heranwachsenden ab Seite 417 begründet vermitteln: Reifeprozesse halten sich nicht an gesetzlichen Altersgrenzen und die Empirie weiß schon lange, dass ein „Heranwachsen“ nicht mit 21 Jahren beendet ist. Dies scheint hier besonders wichtig zu erwähnen, sieht das Wahlprogramm 2025 der CDU/CSU das Erwachsenenstrafrecht entgegen aller empirischen Erkenntnisse für für Heranwachsende vor[1]
Insgesamt ist das Buch trotz der vielen Informationen übersichtlich und – wo zur Veranschaulichung sinnvoll – mit Abbildungen komplettiert. Auch Tipps für die praktische Umsetzung sind Teil des Buches. So findet sich ab Seit 354 eine Arbeits- und Orientierungshilfe für die Erhebung der relevanten Daten sowie die Stellungnahme des Jugendamtes im Rahmen der Mitwirkung nach § 52 SGB VIII. Aber auch Defizite werden benannt, wie z.B. beim Thema Erziehungsgedanke und Diversionsrichtlinien der Länder (Vgl. S. 433). Auch sog. Fallkonferenzen sind ein Phänomen, dem sich das Buch widmet. Auf die notwendige Partizipation der oder des Betroffenen wird hingewiesen, wobei erkannt wird, dass solche Einzelfallkonferenzen häufig ohne Beteiligung des jungen Menschen sowie dessen Sorgeberechtigten stattfinden (Vgl. S. 598). Nach diesem Kooperationsthema liegt es auf der Hand, sich auch der sog. „Häuser des Jugendrechts“ anzunehmen. Die Bedenken der Autoren können oder müssen durchweg geteilt werden, sind sie doch empirisch begründet.
Abschließend:
Uns liegt ein komplettes Nachschlagewerk vor, welches mit Kritik und Mahnung nicht spart, aber dies stets sehr gut begründet. Der umfassende Aufbau und die vielschichtige Darstellung ist hochinformativ. Um inhaltliche Bezüge zu verdeutlichen, sind Rückblicke wie auf Seite 429 eine gelungene Methode, stets das Ganze im Blick zu behalten und das Handbuch auch in der Tiefe Lesenden verdaulich zu gestalten.
Straftaten durch junge Menschen sind in den Medien überrepräsentiert. „Messerdelikte“ und „Krawallnächte“ stigmatisieren Jugend in der Gesamtheit. Die Politik findet häufig schnelle Lösungen, die lediglich als Arbeitsnachweis innerhalb einer Legislatur dienen. Dabei ist jugendliches Fehlverhalten normal; schon immer. Es ist beeinflusst von gesellschaftlichen Entwicklungen und bedarf individueller Lösungen. Jugenddelinquenz ist u.U. Ausdruck eines Jugendhilfebedarfs. Und dies sollte im Vordergrund, zumindest gleichwertig neben einer Strafverfolgung stehen. Dies wiederum bedarf einer selbstbewussten Jugendhilfe. Deren Maßnahmen und deren Rolle, die in einem Strafverfahren eingeflochten sein mögen, hebt dieses Buch hervor und es ist somit insbesondere ein Handbuch für die JuhiS. Gleichzeitig ist es ein Nachschlagewerk für Polizei und Staatsanwaltschaft, denn häufig scheint den Strafverfolgungsbehörden die Aufgaben und rechtlichen Voraussetzungen der JuhiS nicht bewusst oder überhaupt bekannt.. Kooperationen gelingen allerdings erst, wenn jeder „Schuster seine Leisten“ kennt.
In Zeiten boomender „Häuser des Jugendrechts“ oder anderer Formen „heilsbringender“ Kooperationen zwischen Strafverfolger und Jugendhilfe ist dieses Werk grundlegend und wurde mit Begeisterung rezensiert. Es finden sich alle Problemfelder und, vor allem, es zeigt den wichtigen und unverzichtbaren Teil der Jugendhilfe in einem Strafverfahren auf. Es beinhaltet somit auch notwendiges Wissen für alle in der Jugendhilfe (im Strafverfahren) Tätigen, um selbstbewusst in Kooperationen aufzutreten, denn es zeigt mit der juristischen Betrachtung der Jugendhilfeseite auf, dass strafjustizielles Vorgehen nicht übermächtig sein darf, auch wenn Juristen und Polizisten die Kooperationen oft dominieren.
Rüdiger Schilling, Februar 2025
[1] https://www.cdu.de/app/uploads/2025/01/km_btw_2025_wahlprogramm_langfassung_ansicht.pdf ; S. 37