Valentin zur Nieden, Falsche Geständnisse in der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung. Eine interdisziplinäre Untersuchung zu Verbreitung und Hintergründen von falschen Geständnissen in Deutschland. Duncker & Humblot Berlin 2025, Kriminologische und sanktionenrechtliche Forschungen (KSF), Band 28, 400 S., Buch und E-Book jeweils 109,90 €
Das Phänomen falscher Geständnisse, insbesondere in polizeilichen Beschuldigtenvernehmungen, ist in Polizeiwissenschaft und Kriminologie als Problem erkannt. Dennoch gibt es bisher in Deutschland nur wenige wissenschaftliche Erkenntnisse über Häufigkeit und Ursachen. Der Autor hat eine deutschlandweite Befragung von Polizeibeamten und Inhaftierten durchgeführt, die sich mit diesem Problem beschäftigen.
In seiner Studie gaben über 20 % der Inhaftierten an, mindestens einmal ein falsches Geständnis abgelegt zu haben. 16 % der Polizeibeamten berichteten, ein solches entgegengenommen zu haben. Auf Basis der weiteren Angaben der Probanden konnten zudem diverse prozentuale Häufigkeiten von falschen Geständnissen errechnet werden. Die Studie ergab außerdem, dass polizeilicher Druck in unterschiedlichen Formen eine maßgebliche Rolle bei der Abgabe falscher Geständnisse spielen kann. Besonders vulnerable Gruppen, etwa junge oder gesundheitlich beeinträchtigte Beschuldigte, neigen häufiger dazu, sowohl wahre als auch falsche Geständnisse abzulegen.
Das Buch ist in folgende Kapitel gegliedert: Im Teil A erfolgt eine Einführung in die Thematik. Hier verweist der Autor darauf, dass es regelmäßig zu falschen Geständnissen kommt und dies schwerwiegende Konsequenzen haben kann. Neben der Frage, wie es zur Abgabe solcher Geständnisse kommt, sei es von Bedeutung, wie häufig und unter welchen Bedingungen dies der Fall ist. Nur so könne das Ausmaß der Problematik bestimmt werden, um die notwendigen Konsequenzen hieraus zu ziehen.
Damit macht er deutlich, dass er einen primär kriminologisch-empirischen Ansatz verfolgt, um sich der Problematik zu nähern. Dies ist deshalb zu begrüßen, weil es sich bei dem Thema „falsche Geständnisse“ um eines handelt, das oftmals – auch und besonders in der Polizei – unterschätzt wird, und zwar sowohl quantitativ bezüglich des Umfangs, als auch qualitativ in Bezug auf die Folgewirkungen. Hierzu zählen primär natürlich mögliche falsche Verurteilungen und Menschen, die deshalb unschuldig in Haft sitzen. Die Tatsache, dass in den USA fast wöchentlich Menschen aus der sog. „death row“ entlassen werden, weil oftmals nach Jahrzehnten ihre Unschuld festgestellt wird (sog. exonerations), macht dies deutlich. Insgesamt gab es dort 3.659 exonerations seit 1989. Dabei waren nicht alle Verurteilungen aufgrund eines falschen Geständnisses erfolgt, aber viele.
Der Autor will in seiner Studie klären, wie relevant diese Thematik für Deutschland ist. Fakt ist, dass falsche Geständnisse auch in Deutschland vorkommen. „Hinsichtlich der Häufigkeit dieses Phänomens finden sich jedoch in Deutschland nur wenig Daten. Die Gründe und Risikofaktoren falscher Geständnisse wurden in der angloamerikanischen Literatur mittels verschiedener Methoden, wie Experimenten, Einzelfallanalysen, Aktenauswertungen und Befragungen, untersucht. In Deutschland wuchs das Interesse an dieser Thematik in den vergangenen Jahren zwar stetig, dennoch stützen sich die Veröffentlichungen hier überwiegend auf Ergebnisse der ausländischen Literatur und Forschung“ (S. 22).
Das Ziel seiner Arbeit sei es daher, die polizeiliche Vernehmungspraxis bei Beschuldigtenvernehmungen „im Hinblick auf falsche Geständnisse aus empirisch rechtspsychologischer sowie normativer strafverfahrens- und polizeirechtlicher Perspektive zu untersuchen“. Die vorhandene Forschungslücke soll die Arbeit durch zwei empirische Untersuchungen schmälern: Eine Befragung von Polizeibeamten und Inhaftierten in mehreren Bundesländern.
„Die Ergebnisse dieser Erhebungen sollen mit der Zielsetzung analysiert werden, Einblicke in das polizeiliche Vorgehen bei Vernehmungen zu erhalten, Faktoren für die Entstehung oder Begünstigung von falschen Geständnissen zu identifizieren und Erkenntnisse zum Vorkommen falscher Geständnisse und zum Umgang mit diesen im Strafvollzug zu liefern. Die so neu gewonnenen Erkenntnisse sollen zudem mit den zuvor dargestellten Ergebnissen der (internationalen) Forschung verglichen werden. Dadurch sollen positive sowie verbesserungswürdige Aspekte der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung in Deutschland in Hinblick auf das Risiko falscher Geständnisse ermittelt werden“ (S. 23).
Der Teil B der Arbeit beschäftigt sich mit der polizeiliche Beschuldigtenvernehmung und geht auf Zweck, Ziel und Ablauf der Beschuldigtenvernehmung ein. Hier werden auch die Rechte des Beschuldigten behandelt und der Autor geht auf die Aufgaben und Fähigkeiten des Vernehmungsbeamten sowie auf die Vernehmungsmethoden ein.
Im Teil C geht es um das falsche Geständnis. Hier gibt der Autor erst einmal einen geschichtlichen Rückblick (bis hin zur Folter) und behandelt dann die rechtlichen Grundlagen und die Klassifikation falscher Geständnisse. Danach wird es dann erstmals empirisch: Er geht auf die bisherigen Studien zur Häufigkeit falscher Geständnisse und die Gründe dafür ebenso ein wie auf die Erkennbarkeit und die Prävention und Aufdeckung von falschen Geständnissen.
Teil D behandelt dann falsche Geständnisse im Justizvollzug. Hier geht es darum, welche Auswirkungen falsche Geständnisse auf einen eventuellen Strafvollzug haben (Stichwort: Einsicht in die Tat), bevor dann im Teil E die eigene empirische Untersuchung folgt.
Mit diesem Kapitel soll sich hier intensiver beschäftigt werden, weil es der eigentlich spannende Teil des Buches ist.
Als erstes ist hier (leider wieder einmal) festzustellen, dass die Bereitschaft der Innenministerien, externe empirische Forschungen durchführen zu lassen, sehr gering ist. Obwohl der Autor alle Länder und das BKA angeschrieben hat, haben sich nur Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen und das BKA beteiligt, und diese auch jeweils nur mit ausgewählten Behörden oder Abteilungen. Insgesamt nahmen 243 Personen aus dem Polizeibereich an der Befragung teil, von denen 119 die Befragung auch beendeten.
Bei der Befragung der Inhaftierten haben sich Hamburg, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Bayern beteiligt. Die Befragung wurde dort durch Aushang bekannt gegeben. Von 9.200 potentiellen Probanden nahmen 351 an der Studie teil.
Konzentriert auf die Polizeibefragung zeigten sich u.a. folgende Ergebnisse (S. 285 ff.): 51 % der Befragten waren in Beschuldigtenvernehmung geschult worden, für gut 55% der Befragten ist es wichtig oder sehr wichtig, in Beschuldigtenvernehmungen ein Geständnis zu erzielen, fast 75% sind sich (sehr) sicher beim Erkennen von Wahrheit und Lüge.
Die Häufigkeit falscher Geständnisse schätzen die Beamten wie folgt ein: „selten“ 76,5%, niemals oder oft jeweils 1,7 %. Immerhin 20,2% gaben „nicht bekannt“ an. 52% gaben an, dass es Personengruppen mit besonderem Risiko für falsche Geständnisse gibt, und 48% waren der Auffassung, dass es Vernehmungsmethoden mit erhöhtem Risiko für falsche Geständnisse gibt. Die weiteren, teilweise sehr detaillierten Fragen und Auswertungen sind, nicht zuletzt aufgrund der geringen Zahl der Befragten, die zudem oftmals bestimmte Fragen nicht beantworteten, nach Auffassung des Rezensenten nicht oder nur mit großem Vorbehalt zu interpretieren. Das wird vom Autor leider selbst nicht thematisiert, obwohl er andere Einschränkungen einräumt (S. 360 f.).
Bezüglich der Häufigkeit von falschen Geständnissen kommt der Verfasser zu folgenden Ergebnissen: Die von ihm befragten Polizeibeamten führten – so die Berechnungen des Autors – fast 21.000 Beschuldigtenvernehmungen durch und wurden mit knapp 1.900 Geständnissen konfrontiert, von denen 24 falsch waren. Dies bedeutet, dass nur in 0,12% aller Vernehmungen nach Auffassung der Beamten ein falsches Geständnis abgeben wurde.
Bei der Befragung der Inhaftierten gaben diese an, 2.800-mal vernommen worden zu sein, hierbei 610 Geständnisse abgelegt zu haben, von denen 140 falsch waren, also knapp 5% aller Vernehmungen. Mit der Frage, wie dieser doch erhebliche Unterschied zustande kommen kann, beschäftigt sich der Autor leider nur am Rande und führt u.a. an, dass Polizeibeamte nicht alle falschen Geständnisse erkennen können (S. 329). Er berechnet dann aber, dass schätzungsweise 1,27% aller gegenüber den Polizeibeamten abgelegten Geständnisse falsch waren, hingegen 22,95% der von den Inhaftierten abgelegten Geständnisse (S. 330). Auch dieser Unterschied wird nicht weiter thematisiert.
Zusammenfassend ist die Arbeit von zur Nieden zu begrüßen, auch wenn sie nicht repräsentativ und methodisch in vielen Bereichen problematisch ist und der Autor leider wesentliche Widersprüche in seinen Ergebnissen (s.o.) nicht thematisiert. Immerhin gelingt es dem Autor, dieses Thema wieder einmal wissenschaftlich zu behandeln, auch wenn die mangelnde Tiefe der Analyse verwundert, wurde die Arbeit doch kriminologisch an der Universität Hamburg betreut.
Die Arbeit von zur Nieden wählt einen anderen methodischen Ansatz als die Studie von Ottmar Kroll, der sich 2012 mit wahren und falschen Geständnissen beschäftigt hatte (Boorberg-Verlag). Er hatte knapp 800 Polizeiakten ausgewertet und kam zu dem Ergebnis, dass – mit Ausnahme einzelner Drogendelikte – sich in seinen Akten keine Hinweise auf falsche Geständnisse ergeben hatten und damit nichts über deren Häufigkeit aussagen lasse. Es sei hauptsächlich von der Richtigkeit der jeweiligen Geständnisse auszugehen (Kroll 2014 im SIAK-Journal).
Letztlich bleibt der Rezensent ähnlich wie die Öffentlichkeit mit der Unsicherheit zurück, ob falsche Geständnisse auch in Deutschland eine über spektakuläre Einzelfälle hinausgehende Rolle spielen. Vor dem Hintergrund der eigenen forensischen Erfahrung des Rezensenten im Polizei- und Justizbereich muss davon ausgegangen werden. Es wäre zu wünschen, wenn man sich hier einmal intensiver mit dieser Thematik beschäftigen würde, und dabei einen umfassenderen und übergreifenderen methodischen Ansatz wählen würde.
Thomas Feltes, April 2025