Leor Zmigrod, Das ideologische Gehirn Wie politische Überzeugungen wirklich entstehen. 302 Seiten, ISBN 978-3-518-47485-3, suhrkamp taschenbuch 5485, suhrkamp nova, Suhrkamp-Verlag Berlin, 24.- Euro, ebook 19.99 Euro.
Wenn ein Buch von einem renommierten Neurowissenschaftler als „absolute Pflichtlektüre“ (Buchrücken) bezeichnet wird, dann wird man natürlich hellhörig, vor allem wenn der Zusammenhang zwischen Denken und Handeln schon berufsmäßig immer von Interesse war. Ist das Buch „Pflichtlektüre“? Nein. Das Buch ist leider in der vorliegenden Form überflüssig.
Als nichts geringeres als die „Begründerin eines neuen Wissenschaftsfelds“ bezeichnet der Verlag die Autorin Leor Zmigrod. Sie soll die „politische Neurobiologie“ begründet haben und darin erforsche sie den „Zusammenhang zwischen politischen Einstellungen und der Biologie unseres Gehirns“. Sie zeige, dass unsere Überzeugungen nicht als flüchtige Gedanken losgelöst von unseren Körpern existieren. Vielmehr verändern Ideologien unser Gehirn, und eine bestimmte neurobiologische Veranlagung mache empfänglich für gewisse Glaubenssätze.
So weit, so gut – und eigentlich auch nicht wirklich neu. Dass Überzeugungen „losgelöst“ von unseren Körpern (quasi als Gespenst?) existieren, hat meines Wissens zumindest in den vergangenen beiden Jahrhunderten niemand behauptet, und dass Denken und Handeln (und damit auch das, was (von Verlag und Autorin, s.u.) erst einmal undefiniert als „Ideologie“ bezeichnet wird unser Gehirn verändern, ist ebenfalls weder neu, noch umstritten. Auch (die Gründe für) selektive Wahrnehmung und kognitive Dissonanz sind lange bekannt. Was also ist neu? Die „neurobiologische Veranlagung“, die (angeblich) empfänglich für gewisse Glaubenssätze (gleich Ideologie?) mach? Aber auch hier: Der Anlage–Umwelt-Streit ist nicht neu und auch weitestgehend ausgetragen. Studien zur Persönlichkeitsentwicklung haben sich intensiv damit beschäftigt.
Was also ist oder soll „neu“ an diesem Buch sein?
Ausgangspunkt der Arbeiten der Autorin war das Jahr 2015, als – so schreibt sie[1] – junge Frauen nach Syrien aufbrachen, um den IS zu unterstützen. Die damals wie heute als Ursachen genannten Faktoren (Internet, Naivität der Jugend, illiberale Erziehung, Mangel an Bildung, finanziell prekären Umstände) erschienen ihr allesamt ungenügend. Sie begründet dies richtigerweise damit, dass viele Menschen mit schwierigen sozioökonomischen Bedingungen und neuartigen technologischen Risiken umgehen müssen und sich dennoch nicht radikalisieren. Dieses Grundproblem kennt auch die Kriminologie: Ursachen sind nie kausal für eine einzelne Person, und es gibt, folgt man einer bestimmten Ursachentheorie, immer mehr Personen, die theoretisch Voraussetzungen erfüllen, kriminell zu werden, es aber doch nicht werden.
Vielleicht ergaben, so die Autorin „Demografie und Küchenpsychologie kein vollständiges Bild, vielleicht war da noch etwas anderes, das diese jungen Menschen verführbar machte, etwas an ihrem Gehirn?“
Nun mag es an der (schlechten) Übersetzung liegen, die wiederum der Tatsache geschuldet sein dürfte, dass das Buch mehr oder weniger zeitgleich auf Englisch und auf Deutsch erschienen ist: Die Formulierung „an ihrem Gehirn“ ist im günstigsten Fall schlechtes Deutsch, im ungünstigen Fall drückt sie eine auch biologisch und neurowissenschaftlich falsche Herangehensweise aus. Leider wiederholen sich solche sprachlichen Schlampigkeiten – so muss man es leider nennen, auch wenn das Buch insgesamt einem eher alltagswissenschaftlichen Duktus folgt – immer wieder im Text, so dass man eigentlich die englische Originalausgabe gegenlesen müsste, um dem Werk der 29-jährigen Autorin gerecht zu werden.
Auch etwas anderes irritiert: Die Autorin (oder die LektorInnen des Buches?) beschränken sich darauf, zu ausgewählten direkten oder indirekten Zitaten im Buch erst am Ende eine Übersicht bereitzustellen, die so aufgebaut ist, dass man, nach Buchseiten sortiert, in kursiver Schrift Satzstücke von der entsprechenden Seite findet, die man dann erst suchen muss, um passende (?) Quellenangaben zu finden. Warum hat man diese Nachweise nicht auf die übliche Art und Weise mit Fuß- oder Endnoten oder Angaben in Klammern gemacht? Das würde der Seriosität des Buches dienen, weil man dann erkennen könnte, ob und welche Belege es für bestimmte Behauptungen und Aussagen im Buch gibt. Das Buch musste schnell vermarktet werden, und das merkt man eben auch an der Übersetzung bzw. am Lektorat (sofern es ein solches gab).
Zurück zum Jahr 2015: Leor Zmigrod fragte sich damals im Alter von 19 Jahren, ob sie „kognitive und neurowissenschaftliche Methoden so miteinander verbinden (könnte), dass sie auf Politik anwendbar waren, auf das Thema Ideologie“. Auch hier findet sich wieder diese schlampige, oberflächliche Sprache, die für ein Buch, das einen wissenschaftlichen Anspruch erhebt, untragbar ist: Was ist „die Politik“, was „das Thema Ideologie“. Sicher, man kann mutmaßen, was gemeint ist (politische Entscheidungen einerseits, ideologische Erklärungen andererseits), sicher sein kann man sich aber nicht.
Die Grundfragen der Autorin sind, ob die „Neigung zu extremistischen Ansichten auf Eigenarten in der Kognition und Biologie zurückzuführen“ ist und ob sich „das menschliche Bewusstsein grundlegend (verändert), wenn es einer dogmatischen Ideologie“ anhängt. Auch hier wieder: Was genau ist „menschliches Bewusstsein“? Was ist „dogmatische Ideologie“? Gibt es eine undogmatische? Begriffsdefinitionen finden sich in dem Buch zumindest zu Beginn, wo man sie erwartet, nicht.
Auf S. 43 findet sich dann folgendes: „In diesem Buch ist die Grenze zwischen Geist und Gehirn bewusst aufgehoben. Für mich sind Geist und Gehirn ein und dasselbe, denn es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass der menschliche Geist ohne ein Gehirn existiert. Verändere dein Gehirn, verletze es, füttere es, spiele damit herum -, und dein psychisches Leben wird sich ebenfalls verändern. Abgesehen von diesen Fragen der Definition (und Metaphorik) spreche ich vom ideologischen Gehirn, weil ich keine Zweifel daran lassen möchte, dass Geist gleich Biologie ist und dass das Biologische vom Politischen geformt wird. Ich rufe nicht dazu auf, die Terminologie von Geist, Gehirn und Körper abzuschaffen, aber ich stelle sie in Frage. Was geschieht, wenn wir erkennen – in unserer Sprache, in unseren Vorstellungen, in unseren Metaphern -, dass Ideologien nicht nur abstrakt und kollektiv sind, sondern auch somatisch und individuell? Was geschieht, wenn wir uns Ideologien als etwas vorstellen, das aus den Körpern kommt und in den Körpern ist? Diese neue Wissenschaft der Ideologie versucht zu erfassen, wie ideologische Überzeugungen aus der Biologie hervorgehen. Das Wort »Ideologie« wurde überhaupt erst gebildet, um damit eine solche Wissenschaft zu begründen. Man erkennt es noch an dem Begriff selbst: Ideologie als die Wissenschaft, also das Logos, der Ideen“.
Geist gleich Biologie – wer mag dem widersprechen (s.o.), und dass das Biologische (gemeint ist wohl das Gehirn) vom Politischen geformt wird – geschenkt. Auch dass Ideologien etwas sind, „das aus den Körpern kommt und in den Körpern ist“ ist wenig verwunderlich, wenn wir davon ausgehen, dass Denken (Gehirn) und Handeln zusammenhängen (Beispiele liefert die Autorin selbst, z.B. auf S. 72). Ideologie als das Logos der Ideen? Mehr als nur alter Wein in neuen Schläuchen? Wenn sie schreibt, dass sich das Gehirn nach „Wahrheit“ sehne (S. 73), dann ist damit gemeint, dass das Gehirn die Wirklichkeit so genau wie möglich aufnehmen will. Eine ideologische „Wahrheit“ ist nicht gemeint.
Die kleinen Speerspitzen gegen Akademiker („Das Gehirn ist kein Akademiker, der bequem in seinem Sessel oder abgeschieden in seinem Elfenbeinturm sitzt und eine Hypothese nach der anderen erstellt“ (S. 73) – geschenkt. Aber wenn man eine Begründerin eines neuen Wissenschaftsfelds sein will (s.o.), promoviert ist und diverse Wissenschaftspreise bekommen hat: Ist man dann nicht auch Akademikerin? Und wenn die Autorin feststellt, dass „wissenschaftliche Forschung nicht wertfrei ist“ (S. 133), dann hätte man doch mehr von ihrer eigenen wissenschaftstheoretischen Ausrichtung gewusst – oder anders formuliert: Von ihrem eigenen ideologischen Gehirn.
An anderen Stellen werden immer wieder einmal Ansätze von Definitionen oder in der Regel indirekte Zitate anderer Wissenschaftler eingestreut, aus denen man sich eine Definition zusammenreimen könnte. Eine eigene, kritisch abwägende Definition wesentlicher Begrifflichkeiten durch die Autorin selbst gibt es nicht, ebenso wie teilweise seitenlang meist ältere Studien (z.B. von Frenkel-Brunswik 1944, S. 97 – 113) referiert werden, ohne dass auch hier eine kritische Bewertung erfolgt. Ein Mangel, den man in jeder Seminararbeit kommentieren und der zur Note „mangelhaft“ führen könnte.
Die Autorin nahm also 2015, wie sie schreibt, „Experimente auf“ und gehörte, ihrer eigenen Angabe nach „zu der ersten Welle von Wissenschaftlern, die kognitive und neurowissenschaftliche Methoden anwandten, um die Ursprünge und Auswirkungen von ideologischem Denken zu erforschen“. Ungeachtet der Frage, ab wann man sich als „Wissenschaftlerin“ bezeichnen kann (in ihrem Lebenslauf finden sich zu universitären Abschlüssen keine Jahresangaben): Auch hier fehlen eine Definition und Operationalisierung dessen, was sie warum macht. Sie rekrutierte u.a. „radikale Aktivisten, die für rechte Plattformen schrieben, … deutsche Jugendliche aus Berlin (und) Rentner in abgelegenen britischen Ortschaften“. Ein etwas krudes Sample.
Sie behauptet, dass sie mit ihrem Ansatz, „Methoden der Kognitionswissenschaften und Gehirn-Scans zur Erforschung von Ideologie zu kombinieren“, ein „ziemlicher Paradiesvogel“ gewesen sei. Nur eine Handvoll Forscherteams weltweit hätten damals überhaupt ein Interesse daran, Biologie und Politikwissenschaften zusammenzuführen. Das mag zutreffen. Aber dass Biologie und Neurowissenschaften schon seit längerem Versuchen, Handeln und Einstellungen von Menschen zu erklären, ist zumindest in der Kriminologie bekannt. Bereits 2012 haben deutsche Forscher herausgefunden, dass Männer mit pädophiler Neigung, die zum Täter werden, charakteristische neurobiologische (!) Veränderungen aufweisen. Der Forschungsverbund hatte also schon lange vor den Überlegungen der Autorin neurobiologische Grundlagen von Pädophilie und sexuellem Missbrauchsverhalten gegen Kinder untersucht. Ein Hinweis auf diese oder andere Studien aus Deutschland findet sich in dem Buch nicht. Warum? Werden Gehirne von Wissenschaftlern in den USA schon früh darauf geprägt, nur eigene, englischsprachige Forschungsergebnisse zur Kenntnis zu nehmen? Das glaube ich eher nicht.
Die Kriminalbiologie machte erstmals im 19. Jahrhundert auf sich aufmerksam. Biologische Kriminalitätstheorien besagen, dass die biologische Beschaffenheit von Menschen (und damit auch ihr Gehirn) darüber entscheidet, ob sie kriminelle Handlungen begehen oder nicht. Anhand von biologischen Merkmalen lassen sich, so die Annahme, Kriminelle bezüglich ihrer Genetik, Neurologie oder körperlichen Konstitution von Nicht-Kriminellen unterscheiden. Im Vordergrund steht hier also – durchaus vergleichbar mit dem, was die Autorin gemacht hat, wenn auch methodisch nicht auf dem inzwischen möglichen Niveau – die Betrachtung und Erforschung biologischer Phänomene (z.B. Gene, Hormone, Gehirnstrukturen und -anomalien etc.).
Mit modernen wissenschaftlichen Techniken sind wir, so die Autorin, „inzwischen in der Lage, näher bestimmen zu können, wie tief ideologische Systeme sich in der Architektur des menschlichen Gehirns festsetzen, wie tief Indoktrination in Körper und Geist eindringen können“. Wie konkret diese „Techniken“ aussehen, das erfährt man, wenn überhaupt eher am Rande und beiläufig. Angaben zum eigenen (?) Forschungsdesign: Fehlanzeige. Ein „ideologisch geschultes Gehirn“ sei ein „lohnender Forschungsgegenstand“, denn eine detaillierte Studie (wieder keine Angabe, was daran detailliert war) konnte zeigen, „was Ideologien in unserem Körper anrichten und wie rigide Moralvorstellungen bis in die hintersten Winkel des menschlichen Bewusstseins vordringen können. Sie bot auch neue Erkenntnisse darüber, wer zu Extremismus neigt und warum manche Gehirne besonders anfällig sind, während andere sich als flexibel und resilient erweisen“.
Genau hier wäre es doch spannend geworden, wenn man näheres dazu erfahren hätten, was der oder die Forscher konkret gemacht haben, von welchen Prämissen sie ausgegangen sind und wie die Operationalisierung erfolgte. Dann könnte man auch Feststellungen wie die, dass es von unseren Zellen abhängt, „wie sehr wir gefährdet sind unseren Körpern und unseren persönlichen Narrativen“. Vermutlich sind hier die Zellen im Gehirn gemeint und nicht die im großen Zeh; gesagt wird dies aber nicht.
Zwischendrin werden dann immer mal wieder Banalitäten wie die folgenden eingestreut: „Ein dogmatisches Umfeld erzeugt Gewohnheiten und Zwänge, die von außen betrachtet passiv und automatisiert zu sein scheinen – geradezu gedankenlos -, doch wenn wir das ideologische Gehirn (sic!) näher untersuchen, sehen wir, dass im Inneren komplexe und dynamische Prozesse ablaufen“. Dass „Neuronen feuern“ und Aktionspotenziale aktivieren – bekannt. Und dass ideologische Überzeugungen „in unseren Körpern (entstehen), und auch die Auswirkungen dieser ideologischen Überzeugungen … in unseren Körpern sichtbar gemacht werden“ überrascht nicht wirklich, wenn man sich die seit geraumer Zeit bestehenden Möglichkeiten der neurowissenschaftlichen Analyse von Gehirnprozessen im Abgleich zu Verhalten ansieht – aber interessant wäre zu wissen, wie genau dies sichtbar gemacht wurde in den Studien der Autorin.
Dieses Buch verfolgt – so die Autorin – „einen neuen und radikalen wissenschaftlichen Ansatz, der darauf abzielt, unsere Ideologien und die Gefahren ihrer rigiden Auswüchse zu überdenken. Es zeigt, dass politische Haltung kein Oberflächenphänomen ist (wer hat dies jemals behauptet?, TF), sondern uns bis in unsere Zellen hinein prägen kann (nichts Neues, TF). … wir hoffen, dass wir durch die Gegenüberstellung von Offenheit und Hass, Neuerung und Tradition, Evidenz und aufgezwungenem Schicksal herausarbeiten können, wie ein freies, authentisches und tolerantes Gehirn aussieht“. Auch, wie man es schaffen kann?
Die Autorin bemüht dann zuerst „ein Experiment“ (S. 26), dann „tausende von kognitiven Tests“ (S. 31). Letztere werden in einer Anmerkung auf S. 273 dann tatsächlich mit Quellenangaben belegt, allerdings ausschließlich englischsprachiger Veröffentlichungen. War es zu mühsam, hier wenigstens ansatzweise und nachvollziehbar zu schreiben, was genau denn gemacht wurde? Teilweise fehlen solche Verweise auch (z.B. auf S. 145, wenn von „weiteren Studien“ die Rede ist, die sie durchgeführt hat, oder auf s. 147, wenn es um „experimentelle Studien geht, in denen sie etwas „bestätigt“ fand).
Jedenfalls kam man zu dem Ergebnis, dass das Gehirn „die politischen Einstellungen und Vorurteile auf eine so merkwürdige, tiefe und überraschende Art wider(spiegelt), dass es unsere Vorstellungen vom Wechselspiel zwischen Anlage und Umwelt, zwischen Risiko und Resilienz, zwischen Freiheit und Schicksal auf den Prüfstand stellt“.
Genau das wäre spannend zu erfahren: Was sind denn „unsere Vorstellungen“ und was bedeutet es, wenn diese „auf den Prüfstand“ gestellt werden? Doch eigentlich erst einmal nichts anderes, dass sie überprüft werden. Man ist auf die Ergebnisse gespannt. Denn: „Wenn unsere ideologischen Überzeugungen eng mit unseren kognitiven und neuralen Reaktionsmustern verknüpft sind, dann müssen wir uns neue Fragen stellen darüber, wie unsere Körper politisiert werden und wie wir dem widerstehen und unsere Handlungsfreiheit bewahren können“. Denn dass das Gehirn „kommunikativ“ ist, und Teilhabe am sozialen Leben notwendig fürs Überleben, erkennt auch die Autorin (S. 75).
Das Ergebnis der Tests: Die Teilnehmer, die sich bei den neuropsychologischen Aufgaben als anpassungsfähig erwiesen hatten, waren auch diejenigen, die in Sachen Ideologie, Pluralität und Differenz am offensten waren. „Die Menschen, die mental am flexibelsten sind, können auch am besten trennen zwischen einer Person und ihren Ansichten. Sie hassen den anderen nicht. Sie hassen vielleicht dessen Meinung, aber sie übertragen den Hass nicht auf den Menschen der diese Meinung vertritt. Kognitiv rigide Menschen hingegen, also diejenigen, die sich nur schwer anpassen können, wenn sich Regeln verändern, tendieren zu Dogmatismus“ (S. 31 f.).
Ein überraschendes Ergebnis? Eigentlich nicht wirklich. Offenheit geht mit Offenheit einher, Rigidität mit Geschlossenheit. Dogmatische Ideologien haben, so die Schlussfolgerung, „nicht nur politische Auswirkungen, sondern auch neuronale, individuelle und existentielle“ (S. 33). „So what“, mag man denken.
Andererseits behauptet die Autorin, dass die Vorstellung, das ideologische Bewusstsein sei passiv und unkontrollierbaren Kräften ausgesetzt, pessimistisch und falsch sei (S. 39). Ein Widerspruch? Und gewisse ideologische Anwandlungen hat die Autorin dann letztlich auch selbst, wenn sie die Behauptung, dass alle gleich sind, als „Herrschaftsinstrument“ bezeichnet (S. 101) und damit insinuiert, dass die Förderung von Kindern der Sicherung von Herrschaft (und nicht dem demokratischen Prinzip der Chancengleichheit) dient.
Sicherlich werden nicht alle Gehirne gleich geboren, was die Autorin betont (S. 102). Und wenn „neurobiologische Signaturen von Ideologien erst im Laufe der zeit entstehen“ (S. 104), dann spricht doch alles dafür, dass Anlage und Umwelt zusammenwirken – was sie auch selbst sagt: Bestimmte Gewohnheiten werden „anerzogen“ (S. 115).
Im weiteren Verlauf des Buches beschäftigt sich die Autorin mit dem „Dogmatismus-Gen“ (S. 148 ff.) und der Rolle, die Dopamin und der präfrontakle Kortex in diesem Kontext spielt. Auch hier kaum Neues. Eingestreut werden dabei hier und an anderen Stellen immer wieder eher merkwürdig anmutende „Gespräche“, wobei unklar bleibt, wer hier mit wem „flüstert“ oder spricht.
Teil 4 des Buches behandelt dann „Konsequenzen“ (ab S. 165). Es beginnt damit, dass die Autorin sich vorstellt, „wie Darwin durchs Fenster seines Arbeitszimmers blickt und seine Frau Emma im Garten sieht, die gerade im Neuen Testament liest“ (S. 165). Im weiteren Verlauf geht es dann um Glauben und Religion. In einem Kapitel, das mit „Konsequenzen“ überschrieben ist, hätte ich anderes erwartet. Solche und ähnliche Passagen mögen für ein populärwissenschaftliches Buch sinnvoll sein; aber ist „Otto Normalverbraucher“ die Zielgruppe der Veröffentlichung? Wenn ja, dann wird er oder sie das Buch schnell zur Seite legen. Interessierte Kollegen aus den Bereichen der Politik- oder Sozialwissenschaften werden wenig Neues entdecken, Kollegen aus dem Bereich der Neurowissenschaften vielleicht darüber nachdenken, dass und welche Auswirkungen auf unser Gehirn die Corona-Diskussionen in Deutschland gehabt haben – oder umgekehrt?
Fazit
Was am Ende bleibt ist zumindest beim Rezensenten eine grundlegende Unzufriedenheit. Das Buch behandelt viele Aspekte der Neurowissenschaft und versucht diese (mehr oder weniger zwanghaft) mit dem Begriff der Ideologie in Verbindung zu bringen. Sicherlich hat die Autorin ein großes Wissen um die entsprechenden Forschungen und kann diese auch bewerten. Nur leider teilt sie dieses Wissen nicht mit dem Leser, und auch eine kritische Bewertung bestimmter Forschungen findet man kaum. Stattdessen liest man immer wieder, womit sich „die neuere Forschung beschäftigt“ oder wonach Forscher suchen (S. 205) – zu oft, um nicht zu sagen meistens leider ohne nachvollziehbare Belege oder Quellenhinweise. Den Aspekt, den man eigentlich primär von einer Arbeit aus dem Bereich der Neurowissenschaften erwartet hätte (die Beschäftigung mit den neueren, bildgebenden Verfahren zur Analyse des Gehirns und seiner Arbeit), wird erst am Ende (ab S. 207) behandelt, und auf lediglich 14 Seiten. Gibt es dazu nicht mehr und Interessanteres zu berichten (s.o.)?
Stattdessen wird das Buch mit einem Kapitel 5 über „Freiheit“ beendet, in dem es u.a. um die Bedeutung von Nestwärme geht. Eine Zusammenfassung sucht man ebenso vergeblich wie zu Beginn einen Überblick, was in dem Buch wo und warum behandelt wird. Zu viel verlangt? Vielleicht. Für mich jedenfalls ein Buch, das mich unzufrieden zurücklässt, auch weil es in vielen Teilen zu oberflächlich geschrieben ist und zu belletristisch. Ein Buch mit dem Untertitel „Wie politische Überzeugungen wirklich entstehen“ sollte anderes liefern.
Thomas Feltes, Juni 2025
[1] Die Autorin belegt durchgängig in ihrem Buch Zitate nicht explizit mit einer Seitenangabe. Das soll hier aus Gründen der wissenschaftlichen Seriosität anders gemacht werden.