Joachim Walter, Die Freiheit nehm´ ich dir. Sinn und Unsinn des Strafvollzugs. Westend-Verlag Neu-Isenburg, 2025,240 S., ISBN 9783987913051, 22.- Euro
Als „Bericht eines Gefängnisdirektors“ bewirbt der Verlag das Buch – was einerseits stimmt, andererseits untertrieben ist:
Es ist kein „Bericht“, sondern eine schonungslose Analyse dessen, was wir uns im Rahmen des Strafvollzugs leisten – leider ohne dass die wenigsten von uns angemessen darüber informiert sind.
Menschen hinter Gittern: Wie leben sie? Wie sieht ihr Alltag aus? Und was genau geschieht im Gefängnis „im Namen des Volkes“? Wollen wir überhaupt wissen, was aus den Menschen wird, nachdem sie als Straftäter verurteilt und weggesperrt worden sind? Und was ist mit den Frauen und Männern, die als Personal in den Anstalten Dienst tun – oft ebenfalls lebenslänglich? Das sind einige der Fragen, die Joachim Walter versucht in seinem Buch anschaulich und praxisnah zu beantworten.
Walter war Leiter mehrerer Strafvollzugsanstalten. Aus seiner jahrzehntelangen Berufserfahrung erzählt er lebendige Geschichten über die Menschen im Gefängnis – Gefangene wie Bedienstete – und überlässt es, so der Verlag, den Leserinnen und Lesern, sich selbst ein Urteil über Sinn und Unsinn des Strafvollzugs zu bilden. Allerdings trifft das nur teilweise zu: Seine Schilderungen sind teilweise gleichermaßen drastisch wie eindeutig, so dass das Urteil zum „Sinn“ des Vollzugs nach der Lektüre eigentlich feststeht – und das ist auch gut so.
Walter hat sich schon zu Beginn seiner Tätigkeit im Vollzug die Frage gestellt: Was machen wir hier eigentlich? Und: Wie ist das alles zurechtfertigen? Je länger er im Strafvollzug tätig war, umso klarer sei ihm geworden, dass der „totale Charakter dieser Institution weiter und weiter zurückgebaut werden muss, will man mehr Humanität erreichen“. Die Frage ist aber: Will man das? Will die Bevölkerung tatsächlich mehr „Humanität“ oder will sie nicht eher Rache und Wegschließen – getreu dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn? Denn bei näherem Hinschauen könnte man ja erkennen, dass die Gesellschaft selbst mit dafür verantwortlich ist, dass so viele Menschen in Deutschland im Strafvollzug einsitzen (Stand 2022 waren es rund 57.000, zusätzlich knapp 12.000 Untersuchungsgefangene, S. 14). Genau genommen, so Walter, „bin ich am Ende sogar Abolitionist geworden, also einer, der von der vollständigen Abschaffung des Gefängnisses träumt“ (S. 41).
Von der Abschaffung des Gefängnisses geträumt hatten wir in den 1980er Jahren nicht, als wir uns an der Evangelischen Akademie in Arnoldshain mit der Abschaffung der Freiheitsstrafe beschäftigten und 1990 die „Arnoldshainer Thesen zur Abschaffung der Freiheitsstrafe“, in der Zeitschrift für Evangelische Ethik veröffentlichten. Die Arbeitsgruppe, der neben mir auch Sigrid Bernhardt, Heinz Cornel, Hans-Claus Leder, Wolfram Schädler, Ulrich O. Sievering und Dieter Zimmermann angehörte, hatte viele und gute Argumente zusammengestellt – leider ohne auch nur ansatzweise Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen zu können. Auch spätere Veröffentlichungen wie die von Jeldrik Mühl („Strafrecht ohne Freiheitsstrafen – absurde Utopie oder logische Konsequenz?“), besprochen im Polizei-Newsletter von Holger Plank , konnten daran nichts ändern. Warum also, so müssen wir uns fragen (lassen), strafen wir immer noch und immer härter?
Wer die vielen Geschichten, die Walter in seinem Buch zusammengestellt hat, liest, der fragt sich wie man dies alles aushalten kann – und tatsächlich gibt es nicht wenige, die dem Strafvollzug nach mehr oder weniger kurzer Zeit Adieu sagen, einfach, weil sie die Eindrücke nicht verarbeiten, den Druck nicht aushalten können. Diejenigen, die bleiben, werden oftmals zu Zynikern, die ihren 8-Stunden-Tag absitzen (sic!) und sich einen Dreck darum scheren, wie es den Menschen hinter den Zellentüren geht. Und es gibt diejenigen wie Joachim Walter, die sich ein Leben lang bemühen, wenigstens ein Stückchen Menschlichkeit in das System einzubringen.
Walter studierte Rechtswissenschaften, Psychologie und Kriminologie und war in den Justizvollzugsanstalten Heilbronn, Karlsruhe und Stuttgart-Stammheim sowie zuletzt in Pforzheim und Adelsheim tätig. An der Jugendstrafanstalt Adelsheim wurden unter seiner Leitung erfolgreich eine Reihe von progressiven Resozialisierungsmaßnahmen eingeführt, allerdings ohne, dass er an dem System des Wegsperrens etwas ändern konnte. Denn dafür ist er nicht zuständig gewesen, er sollte und wollte nur die Schäden, die der Strafvollzug nachgewiesenermaßen anrichtet, möglichst geringhalten. Vielleicht kann er aber jetzt, wo er als Rechtsanwalt tätig ist, dafür sorgen, dass es keine Schadensreduzierer mehr braucht. Wohl leider ebenso wie die Abschaffung des Knasts eine eher illusorische Hoffnung.
Liest man am Ende sein Fazit nach einem langen Berufsleben, so gewinnt die Skepsis die Oberhand. Nachdem ein schockierender Film über das Leben im Strafvollzug auf einem Jugendgerichtstag gezeigt worden war, hatte Walter (wieder einmal) gehofft, dass sich etwas ändern würde – obwohl er eigentlich hätte wissen müssen, dass dies eher unwahrscheinlich ist. Er schreibt auf der letzten Seite seines Buches: „Fast jede schwere Straftat, die ein Jugendlicher irgendwo in Deutschland beging, führte in den Medien wie eh und je zu der allbekannten Forderung nach mehr Härte und längeren Strafen. In Wahlkämpfen überbot man sich mit Vorschlägen zur Verschärfung des Jugendstrafrechts, obwohl bei der Jugendkriminalität in den Jahren zuvor sogar ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen gewesen war. Dessen ungeachtet wurde im Jahr 2012 das Höchstmaß der Jugendstrafe von 10 auf 15 Jahre erhöht und auch für nach Jugendstrafrecht Verurteilte die Sicherungsverwahrung eingeführt! Aktuell wird sogar diskutiert, ob man nicht das Jugendstrafrecht auf 12- bis 13-jährige Täter ausdehnen soll. Das würde bedeuten, dass zukünftig auch Kinder in Jugendstrafhaft kommen können. Mein frommer, wohl auch naiver Wunsch ist also in kürzester Zeit zu Schanden geworden. War das nicht doch vorherzusehen? Wahrscheinlich schon. Denn was den Umgang unserer Gesellschaft mit ihren straffälligen Jugendlichen angeht, scheint diese an dem Prinzip Vergeltung und Strafe ebenso hartnäckig zu hängen wie der Neurotiker an seiner Krankheit. Ohne können wir offenbar nicht. Und doch klammere ich mich nur allzu gerne an die alte, fast schon peinlich platte Phrase: Die Hoffnung stirbt zuletzt!“ (S. 238).
Ja, der Neurotiker und seine Krankheit. Trifft das Bild? Unsere neurotische Gesellschaft, die sich nicht vom Strafvollzug verabschieden kann und will? Vielleicht. Aber vielleicht ist die Gesellschaft schlichtweg weitaus schwerer erkrankt, als sie es glaubt. Sie weiß es nur nicht – und will es auch nicht wissen.
Thomas Feltes, Dezember 2025